Zum Trauerspiel um die Privatisierung der Deutschen Bahn und deren destruktive Folgen ist schon viel geschrieben worden. Und es dürfte mehr als wahrscheinlich sein, dass die Bundesregierung die kürzlich beschlossene gigantomanische Neuverschuldung demnächst zum Anlass für eine neue Privatisierungswelle nimmt. Dies würde die bereits arg gerupfte verkehrstechnische Infrastruktur der Bundesrepublik ganz sicher noch weiter beschädigen. Insofern sollte man das kürzlich erschienene Buch „Schaden in der Oberleitung“ des Journalisten und ausgewiesenen Bahnspezialisten Arno Luik unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Luik beginnt sein Buch mit einer Beschreibung des milliardenträchtigen, dafür aber verkehrstechnisch völlig unsinnigen Umbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs – für den Autor ein Symbol der in unserer Gegenwart fortschreitenden Zerstörung der Bahn. Der Protest breiter Bevölkerungskreise ging damals durch alle Medien und beförderte sogar einen Wechsel der Landesregierung. Bewirken tat dies freilich gar nichts – die Weichen waren längst in eine andere Richtung gestellt. Nachdem der Protest wieder aus den Medien verschwunden war, wurde das Projekt dann entgegen jeder Logik weiter umgesetzt.

Das angekündigte Desaster um „Stuttgart 21“ ist für den Autor jedoch nur der Aufhänger für eine Generalabrechnung mit der Bahnprivatisierung insgesamt. Aus einer angeblich ineffizienten, insgesamt aber funktionierenden staatseigenen Behörde wurde binnen weniger Jahrzehnte ein undurchschaubares Geflecht formell eigenständiger Firmen. Diese sind zwar mehrheitlich immer noch zu 100 Prozent im Staatsbesitz und werden vom Finanzministerium reichlich subventioniert. Ihr Management gehorcht jedoch einer eigenen, von betriebswirtschaftlichen Interessen diktierten Logik. Und diese ist mit den Interessen der Bahnnutzer meist nicht kompatibel. Erwirtschafteter Gewinn versickert in den Tiefen undurchsichtiger Projekte und in den Taschen führender Mitarbeiter – für Verluste muss immer der Steuerzahler aufkommen.

Luik zitiert reihenweise Ingenieure und andere langjährige Bahnmitarbeiter, die permanent auf gravierende Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen sowie gegen elementare Regeln der Technik hinweisen und deren Kassandrarufe vom Management zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden. Das Buch erinnert auch an die Stilllegung zahlreicher vermeintlich „unrentabler“ Strecken sowie an Außerbetriebnahme und Verkauf zahlreicher Bahnhofsgebäude. Tatsächlich lief die Verkehrspolitik der letzten Jahre wohl hauptsächlich auf eine Förderung der großen Autokonzerne zuungunsten der Eisenbahn hinaus. Und der Steuerzahler, aus dessen Taschen die Umgestaltung der Bahn finanziert wurde, bezahlte letztlich dafür, dass Bahnfahren immer teurer, immer schlechter, immer umweltzerstörender und auch – wegen aus Kostengründen aufgeweichter Sicherheitsbestimmungen – immer lebensgefährlicher wurde. Und außerdem dafür, dass sich Immobilienspekulanten und ähnliche Figuren an der Verschleuderung bisher bahneigener Grundstücke und Gebäude eine goldene Nase verdienen konnten.

Der Autor nennt diese Entwicklung einen „großen Eisenbahnraub“, watscht gnadenlos alle seit 1990 amtierenden Bahnchefs und Verkehrsminister ab, die an selbigem beteiligt waren. Luik zitiert zahlreiche zu Beginn der Bahnprivatisierung verkündete „Visionen“, vergleicht sie mit den tatsächlichen Resultaten der Privatisierungspolitik und stellt die angeblichen Visionäre als genau die unfähigen und inkompetenten „Macher“ dar, die sie tatsächlich auch sind. Wobei sie zwar einen katastrophalen, aber auch noch gut bezahlten Job machten. Im Buch wird die durchweg miserable Bezahlung der Bahnmitarbeiter dokumentiert und mit den millionenschweren Boni und Abfindungen des höheren Managements verglichen.

Gegen Ende des Buches fordert der Autor dann ganz offen, die aus seiner Sicht völlig verrückte Verkehrspolitik der letzten 30 Jahre wieder zurückzudrehen.

Dass die genannte Verrücktheit, die hier nicht bestritten werden soll, in eine ebenso verrückte Systemlogik eingebettet ist, schreibt der Autor leider nicht. Daher abschließend ein persönlicher Kommentar des Rezensenten. Wenn sich jemand in einem späteren Jahrhundert einmal daranmachen sollte, die Geschichte unserer kapitalistischen Gesellschaft aufzuschreiben, so wird deren Anfang vermutlich wie folgt lauten: „Damit der Kapitalismus überhaupt funktionieren konnte, zwangen dessen Macher anfangs die Bevölkerung, unter gewaltigen Anstrengungen eine gigantische Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen. Und dann fraßen eben diese Macher diese Infrastruktur aus nicht zu stillender Geldgier wieder auf.“

Arno Luik: Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2019
293 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 978-3-86489-267-7