Klimaverbrechen und Gesetzesbrüche

Mitte März 2023 stellte der im Regierungsauftrag tätige Expertenrat für Klimafragen in einem Bericht zur Emissionsbilanz des Bundes fest, Deutschland werde – bleibe es beim bisherigen Tempo im Klimaschutz – seine Klimaziele bis 2030 um etwa 40 Prozent verfehlen. Diese Feststellung sei eine „schallende Ohrfeige“ für die Klimapolitik der Bundesregierung, ließ der Chef von Greenpeace daraufhin wissen (Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2023). Um die politisch Verantwortlichen endlich zu mehr Klimaschutz zu bewegen, kündigten Aktivisten der „Letzten Generation“ an, ab dem 19. April die Bundeshauptstadt mittels Protestveranstaltungen, Klebeaktionen und weiteren Blockaden teilweise lahmzulegen.

Vertreter:innen der politischen Klasse zeigen sich über den „zivilen Ungehorsam“ von  Akteuren, wie denen der „Letzten Generation“, regelmäßig empört und lassen durchblicken, dass sie für Rechtsbrüche jeglicher Art kein Verständnis aufbringen würden. „Gar nicht zum Lachen ist dem Justizminister. Marco Buschmann sieht einmal mehr das Abendland untergehen, denn die Kleber erinnern ihn an die Weimarer Zeit, als sich ‚Menschen am linken und rechten politischen Rand selbst ermächtigt fühlten, sich über die Rechtsordnung zu stellen‘.“ (junge Welt vom 22. April 2023)

Starke Worte angesichts der sehr gemäßigten Forderungen und des alles andere als militante Auftretens der Aktivisten. Von einer angeblichen Demokratiefeindlichkeit findet sich bei ihnen keine Spur. So heißt es auch auf der Webseite der „Letzten Generation“: „Rasend eskaliert die Klimakrise und an so vielen Tagen bleibt nichts als dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn man die Zerstörung sieht und dazu das Nichtstun unserer Regierung. (…) Sie schützt Wirtschaftsprofite statt unserer Lebensgrundlagen, bricht ihre eigenen Versprechen und unsere demokratische Verfassung.“ Und in einem „Brief an die Bundesregierung“ vom April 2023 unterstreichen die Aktivisten, dass es „beim Abwenden einer Klimakatastrophe auch um den Erhalt unserer Demokratie, unseres Rechtsstaats und den Erhalt der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ gehe.

Darüber, wie der Rechtsstaat mit „zivilem Ungehorsam“ umzugehen hat, wird derzeit auch einmal mehr im juristischen Fachdiskurs verhandelt. So pocht Kyrill-Alexander Schwarz, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Würzburg, auf den Rechts- und Gesetzesgehorsam der Staatsbürger:innen. Die „Letzte Generation“ stellt für ihn eine Protestbewegung dar, „die letzten Ende keine Rücksicht auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen bereit ist, die auch Ausdruck einer Negation des Rechtsstaats zur Durchsetzung partikularer Interessen unter dem Mantel vorgeblich grundrechtlich geschützter Freiheit ist“. (Schwarz, Seite 275) Beim „zivilen Ungehorsam“ gehe es in Wahrheit gerade nicht um die Beseitigung etwaiger Mängel, sondern um die „undemokratische, weil nicht im Parlament beschlossene Durchsetzung individueller Vorstellungen“. (Schwarz, Seite 279f.) Er warnt gar vor der „Kapitulation des Rechtsstaats vor der Macht der Straße“. (Seite 276)

In Erwiderung dazu stellt dagegen Lorenz Leitmeier, Dozent an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, fest:

„Tatsächlich wird die existenzielle Dimension der Klimakrise verschleiert oder gar geleugnet, wenn man plump die Mehrheit-ist-Mehrheit-Regel bemüht, um die Spannung zwischen Rechtsstaat und zivilem Ungehorsam einseitig aufzulösen. Die ‚bestimmten Ziele‘, von denen Schwarz spricht, sind nämlich keine Privatinteressen einer Minderheit mit ‚Verhinderungsstrategie‘ – es sind rechtlich verbindliche Ziele: Bekanntlich wurde in Paris am 12.12.2015 im Rahmen der United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) ein Abkommen geschlossen (Pariser Abkommen), das die EU am 5.10.2016 mit dem Beschluss (EU) 2016/18414 umsetzte, woraufhin es am 4.11.2016 in Kraft trat.“ (Leitmeier, Seite 71)

Auch die Bundesrepublik habe das Pariser Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, so dass eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zu einem gewissen Verhalten vorliege. Der Jurist und Journalist Ronen Steinke betont in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung ebenfalls, dass die Bundesregierung selbst gegen verbindliches Recht verstoße – was nicht wegzudiskutieren sei. Das Klima-Abkommen von Paris, wonach die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, sei nach seiner Ratifizierung durch den Bundestag unmittelbar geltendes Bundesrecht. „Und die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgericht“, konstatiert Steinke bissig, „haben der Regierung, die dies nicht ganz ernst zu nehmen schien, in ihrem Klimabeschluss vom März 2021 die Lage noch einmal deutlich auseinandergesetzt – Verfassungsrecht für Dummies, quasi: Das Abkommen ist verbindlich, dagegen zu verstoßen, ist verboten. Die Bundesregierung, die sogar laut ihrem eigenen Expertenrat für Klimafragen ihre bescheidenen, selbstgesteckten Ziele laufend verfehlt, bricht Recht.“

In dieser Situation würden die Klima-Aktivisten sich entscheiden, ihrerseits Recht zu brechen. „Sie tun das mit einer, rechtlich betrachtet, eigentlich ungewöhnlich bescheidenen Forderung. Sie wollen nur, dass sich die mächtigsten Menschen im Staatsapparat an die rechtlichen Pflichten halten, die für diese gelten.“ Die Täter verlangten nichts, was die Regierung nicht ohnehin längst zu tun verpflichtet wäre. „Rein rechtlich ist es hier so, als zwänge jemand den Bundeskanzler bloß dazu, an eine Fußgängerampel nicht mehr über Rot zu gehen.“

Steinke verweist zum Schluss seines Artikels auf den dynamischen Charakter der Rechtsentwicklung. Wenn die Bürger keine Hoffnung mehr haben könnten, dass der Staat ein Unrecht stoppe, habe das rechtliche Folgen. Bei einer Aussichtslosigkeit behördlichen Einschreitens könne ausnahmsweise doch einmal ein rechtfertigender Notstand nach Paragraf 34 StGB denkbar sein, so habe es zum Beispiel das Oberlandesgericht Naumburg vor einer Weile festgestellt. „Mit dieser Begründung hat es Tierschützer freigesprochen, die mit ‚zivilem Ungehorsam‘ auf illegale Zustände in der Massentierhaltung hingewiesen hatten, die den Behörden seit Jahren egal waren. Und das heißt: Je länger die Klima-Aktivisten mit ihrer Verzweiflung tatsächlich recht behalten, desto eher erwächst für ihren ‚zivilen Ungehorsam‘ irgendwann doch eine auch rechtliche Legitimation.“

Quellen:

Felix Bartels: „Döpfner des Tages: Marco Buschmann“, junge Welt (Online) vom 22. April 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/449346.döpfner-des-tages-marco-buschmann.html?sstr=letzte%7Cgeneration

Michael Bauchmüller: „Klima-Experten warnen Regierung“, Süddeutsche Zeitung vom 18. April 2023 (Printausgabe)

„Brief an die Bundesregierung, April 2023“, verfasst von „Die Bürger:innen der Letzten Generation“

https://letztegeneration.de/brief-an-die-bundesregierung/

Dr. Lorenz Leitmeier: „Ziviler Ungehorsam und autoritärer Legalismus?“, in: HRRS – Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht, März 2023, Seite 70-73 (PDF-Ausgabe)

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/23-03/index.php?sz=6

Prof. Dr. Kyrill-Alexander Schwarz: „Rechtsstaat und ziviler Ungehorsam“, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 5/2023, Seite 275-280

https://www.jura.uni-wuerzburg.de/fileadmin/02160031/2023/NJW_2023_05_Forum_Schwarz.pdf

Ronen Steinke: „Alles, was Recht ist“, Süddeutsche Zeitung vom 21. April 2023 (Printausgabe)

 

 

Eine Matinee zu Krieg und Frieden

Seit 2006 veranstaltet Business Crime Control zusammen mit der KunstGesellschaft in Frankfurt am Main Matineen zu politischen und kulturellen Themen. Inzwischen sind es an die 200 Veranstaltungen geworden. Nach einigen Wechseln des Ortes finden sie seit vielen Jahren monatlich einmal im Club Voltaire statt. Hier eine exemplarische Auswahl: „Rechts macht auf links. Die national-soziale Gefahr“ mit Prof. Dr. Klaus Dörre, 2018; „Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart“ mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, 2019; „Rechte Allianzen bedrohen die offene Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, 2020; „Patente töten“ mit Anne Jung von medico international, 2021; „Wasser ist Leben“ mit Prof. Dr.-Ing. Franz-Bernd Frechen, 2022; „Kulturelle Prägungen und Politik“ mit Prof. Dr. Dieter Kramer, 2022.

Am 26. Februar dieses Jahres war Nicole Deitelhoff, Professorin an der Frankfurter Universität und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Gast in der Matinee, mit dem Thema: „Putin und der Krieg. Kann es eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt geben?“ Moderiert wurde die Matinee, wie viele vorher, von der Journalistin Ulrike Holler. Das zahlreich erschienene Publikum im Club Voltaire erwartete von der Referentin, die es von Fernsehinterviews und Auftritten in Talkshows her kannte, Antworten auf drängende und bedrängende Fragen: Wie hat sich der Konflikt entwickelt? Hätte es Alternativen gegeben? Welche Interessen sind im Spiel? Wie soll es weitergehen mit dem Krieg in der Ukraine? Welche Chancen für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen gibt es? Wie könnte eine neue Friedensordnung in Europa erreicht werden?

Nicole Deitelhoff skizzierte zunächst ihre Position: Putin sei eindeutig der Aggressor, die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, bei der ihr auch mit Lieferung von Rüstungsgütern geholfen werden solle, solange kein Waffenstillstand möglich ist. Auch was die Vorgeschichte des Krieges betrifft sah sie – zunächst – keine weitere Mitverantwortung des Westens. Der Beitritt osteuropäischer Länder zur NATO sei schließlich durch Abmachungen mit Russland abgefedert worden: Keine ständige Stationierung westlicher Truppen in diesen Ländern; NATO-Russland-Rat als vertrauensbildende Maßnahme; bisher keine Aufnahme der Ukraine in das nordatlantische Bündnis trotz entsprechender Bestrebungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie in Teilen der Protestbewegung gegen den Krieg beobachtet werden könne, sei deshalb falsch und nicht angebracht.

Nach Fragen aus dem Publikum differenzierte die Friedens- und Konfliktforscherin allerdings ihre Aussagen in diesem Punkt: So habe die USA Russlands Sicherheitsinteressen verletzt, beispielsweise durch ihre Präsenz im Schwarzen Meer und ihre treibende Rolle im Jugoslawienkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion sei nicht das von Gorbatschow vorgeschlagene „gemeinsame Haus Europa“ angestrebt und verwirklicht worden. Ansätze dazu wie die im Kalten Krieg geschaffene OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, seien nicht weiter verfolgt und ausgebaut worden. Stattdessen habe es einen Rückfall in alte Strukturen gegeben.

In einem im letzten Jahr erschienenen Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik hatte Deitelhoff ihre Haltung dazu wie folgt dargelegt: „Trotz aller Rede von der Zeitenwende … sollte Vorsicht walten, wegen dieser Entwicklungen alle Erfahrungen und bisherigen Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung zu verwerfen.“ Es zeige sich gerade in der gegenwärtigen Situation, „dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“.

Auf die Frage, wie es denn im Ukrainekrieg weitergehe, antwortete Nicole Deitelhoff, dass gegenwärtig noch beide Seiten fest davon überzeugt seien, die andere militärisch in die Knie zwingen zu können. Sie glaube persönlich nicht daran, dass dies möglich ist. Die Siegespropaganda auf beiden Seiten sei ein Mittel der psychologischen Kriegsführung nach innen und außen. Gewaltkonflikte hätten eine hohe Eigendynamik, bei der auch Unwägbarkeiten, Unerwartetes und das Glück mitspielten.

Wie aber solle man unter diesen Umständen aus der destruktiven Gewaltspirale mit ihren grausamen Folgen und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Einsatz von Atomwaffen herauskommen? Es gehe darum, so Deitelhoff, „aus einem unteilbaren Konflikt eine Teilbarkeit zu machen“. Das bedeute, die bereits ständig laufenden Verhandlungen zu Einzelfragen wie dem Getreideexport aus der Ukraine oder dem Austausch von Gefangenen fortzusetzen und auszuweiten. International müsste sich unter Beteiligung der UNO eine Gruppe von Staaten zusammenfinden, die sich, wie Indien und China, bisher eher oder teilweise neutral zum Konflikt verhalten haben, um eine Vermittlungsebene zu schaffen als Basis für künftige Verhandlungen.

Nicole Deitelhoff gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild von einem Zitronenbaum, um den heftig gestritten wird. Die unproduktivste Lösung sei es, ihn in Stücke zu zerschneiden. Davon hat niemand wirklich etwas, denn dann wäre er tot. Die Teilung seiner Früchte sei sinnvoller, aber dazu brauche es Zeit und Geduld, um sie wachsen zu lassen.

Entsprechend Zeit werde eine Lösung im Ukrainekonflikt benötigen. Die Umrisse dazu beschrieb Deitelhoff ganz ähnlich so, wie sie sich schon einmal bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 abgezeichnet hatten, die dann abgebrochen wurden: Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO, mit Sicherheitsgarantien durch andere Länder. Sicherheitsgarantien müsse es auch für Russland geben. Rückzug der russischen Truppen und Aufhebung der Sanktionen. Zurückstellen aller territorialen Fragen und zivile UN-Verwaltung in den umstrittenen Gebieten für die nächsten 15 Jahre. Danach international organisierte und überwachte Referenden im Donbass und auf der Krim, um deren Status zu klären.

Bis dahin werde es eine andere Generation von Entscheidern in Russland und in der Ukraine geben, die zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts fähiger und bereiter sein würde als die jetzige. Was an dieser Stelle noch einmal besonders auffiel, war das Fehlen einer politisch-ökonomischen Analyse der Kriegsursachen und der Interessen am und im Krieg. Damit befand sich die Referentin aber im Einklang mit der Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Näheres dazu kann man dem sehr lesenswerten Dossier „Quo vadis Friedensforschung?“ entnehmen, das als Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2023 erschienen ist.

Für die Protestbewegungen gegen Krieg und Militarisierung zeigte Nicole Deitelhoff Sympathien. Sie teile durchaus deren Ziele. Die gegenwärtige Friedensbewegung befinde sich aber in dem Dilemma, dass die Forderung nach einem sofortigen Stopp der militärischen Hilfe für die Ukraine bedeuten würde, dass Russland siegt und gar kein Interesse mehr an Verhandlungen hat. Die unkonditionierte Lieferung von immer weiteren Waffen wiederum verlängere den Krieg und widerspräche somit erst einmal dem Ziel, Frieden zu schließen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser und anderen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und seine Folgen betreffen, führten in der Matinee nicht, wie so oft, zu gegenseitigen Vorwürfen mit negativen Etikettierungen. Die Diskussion blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend sachlich und solidarisch. Damit war, zumindest im Kleinen, für zwei Stunden schon einmal etwas an Friedensfähigkeit gewonnen.

Als Fazit und Aufforderung sei hier zitiert, was Nicole Deitelhoff an anderer Stelle geschrieben hat: „Ja, wir sind wieder zurück auf Null. Doch angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – die drängendste ist zweifellos die Abwendung der Klimakatastrophe –, können wir es uns schlicht nicht leisten, lange an diesem Nullpunkt stehen zu bleiben.“

 

Im  Krieg verlieren auch die Sieger

 Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern Gazprom fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.

Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro

 

 

Der Kampf um das fossile Geschäftsmodell. Eine Studie untersucht die Macht der Gaslobby

Die fossile Energiewirtschaft steht unter erheblichem Druck. Zum einen wird sie von denjenigen attackiert, die wirksamen Klimaschutz unter kapitalistischen Bedingungen nicht für möglich halten. Zum anderen drängen Stimmen in den Vordergrund, die den Kapitalismus eher als Lösung des Problems sehen denn als Zerstörer der planetarischen Lebensgrundlagen. Würden Investitionen in erneuerbare Energien gegenüber fossilen größere Profite versprechen, heißt es etwa im Wochenblatt Die Zeit, sei international ein Wettrennen um die Erneuerbaren zu erwarten – und damit eine rettende Klimaschutz-Dynamik auf Basis nachhaltiger Energieträger (vgl. Die Zeit vom 23. Februar 2023).

Es wundert also nicht, dass die Gaswirtschaft erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die eigene Existenz zu legitimieren. Mit Erfolg, denn ihr Lobbyismus zeigt offenbar durchschlagenden Erfolg, wie eine Mitte Februar veröffentlichte umfangreiche Studie des Vereins LobbyControl eindrücklich belegt. Auf Basis einer Auswertung der Daten des seit über einem Jahr bestehenden Lobbyregisters werden die Kanäle untersucht, über die die großen deutschen Gaskonzerne und ihre Lobbyverbände Einfluss auf die Politik nehmen. Dabei liegt ihr Fokus auf den einflussreichsten Schlüsselfiguren und deren Netzwerken. Insbesondere habe der massive Lobbyeinfluss dazu geführt, dass die „Erzählung“, fossiles Erdgas sei ein klimafreundlicher Energieträger und somit wichtiger Teil der Energiewende, von der Bundesregierung übernommen worden sei – auf Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Dieser Einfluss setze sich aktuell beim Aufbau der LNG-Infrastruktur fort.

LobbyControl beschreibt aber nicht nur bestehende Missstände, sondern beansprucht auch, die notwendigen politischen Veränderungen im Verhältnis von Politik und Gasindustrie in Form eines Forderungskatalogs aufzeigen zu können.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind im Folgenden zusammengefasst:

– Viele Treffen und privilegierte Zugänge

Nach weitgehender Stilllegung der „Russland-Netzwerke“ wirkt der Lobbyismus in der aktuellen Regierung fort. So trafen sich von Dezember 2021 bis September 2022 Vertreter:innen der großen Gaskonzerne im Schnitt einmal täglich mit Spitzenpolitiker:innen der Bundesregierung (mehr als 260 Mal). Wie es in der Studie heißt, sei das deutlich mehr als bei den Vorgängerregierungen. Mit Umweltverbänden oder anderen energiepolitischen Akteuren gab es dagegen nicht annähernd so viele Treffen. Die Lobbymacht der großen Konzerne wie Uniper, Wintershall DEA oder RWE wurde zudem durch energieintensive Unternehmen wie BASF unterstützt. Gemeinsam mit der Gasindustrie übten sie Druck auf die Politik aus, um auf genügend kostengünstiges Gas zugreifen zu können.
Die Gaskonzerne sind weiterhin äußerst aktiv, vor allem auch mit Blick auf das Projekt eines massiven Ausbaus der LNG-Infrastruktur, das große neue fossile Geschäftsfelder eröffnen soll.

Als besonders pikantes Detail sei auch genannt, dass die Deutsche Energie-Agentur (DENA) der Gasindustrie einen privilegierten Zugang in das Bundeswirtschaftsministerium anbietet. Bei der DENA handelt es sich um eine im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gegründete, von der Rechtsform her private, tatsächlich aber mehrheitlich bundeseigene GmbH. Ihre Aufgabe besteht darin, die Regierung in energiepolitischen Fragen zu beraten. Stattdessen aber, schreibt LobbyControl, fungiere sie als „Lobbykanal für Unternehmen“. Soll heißen: Die Regierung toleriert den Gaslobbyismus nicht nur, sondern fördert ihn sogar. Das Unternehmen sorgt dafür, dass im Rahmen verschiedener Austauschformate einseitig Wirtschaftsvertreter:innen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, während Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände weitgehend außen vor bleiben. Die DENA wird folgerichtig nicht nur vom Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch aus privaten Quellen finanziert (z.B. von den Energiefirmen Wintershall DEA, Eon oder Exxon Mobil).

Ein Zitat aus der Studie:
„Auf diese Weise entstand auch die Gasstrategie der Bundesregierung: Sie wurde weitgehend von der Industrie selbst formuliert und räumte Gas eine entsprechend große Rolle in der deutschen Energiepolitik ein. Auch unter Wirtschaftsminister Habeck wirken die gasfreundlichen Netzwerke und Strukturen rund um das Ministerium weiter – sei es durch gasfreundliches Personal im Ministerium, durch weiterhin aktive Lobbyverbände mit guten Zugängen ins Ministerium und weiterhin bestehende gasfreundliche Strukturen innerhalb der DENA. Gaskonzerne sind infolge der Energiekrise noch enger in die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sowie des Bundeskanzleramts eingebunden als zuvor.“ (Seite 7)

– Hohe Ausgaben

74 Unternehmen und zwölf Lobbyverbände der Gaswirtschaft, die sich im Lobbyregister finden lassen, gaben im Jahr 2021 zusammen rund 40 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit aus und beschäftigten dabei 426 Personen. Hinzuzurechnen sind weitere Millionensummen aus der gasverbrauchenden Industrie sowie die Lobbyausgaben von Gazprom und dessen Tochterkonzernen, die sich seinerzeit nicht ins Lobbyregister eingetragen hatten. Zum Vergleich: Die drei größten Umweltverbände, die sich für den Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas engagieren, verfügten in dieser Zeit insgesamt nur über 1,5 Millionen Euro für ihre Lobbyarbeit (Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und BUND). Laut Lobbyregister arbeiten lediglich zwischen 83 und 110 Lobbyisten für diese drei Organisationen.

– Enge personelle Verbindungen

LobbyControl spricht von mindestens 30 ehemaligen Politiker:innen, die als gut bezahlte Seitenwechsler für die Lobbyabteilungen der Gasindustrie arbeiten. Neben Gerhard Schröder, der dem „russischen Gas“ den Zugang zu wichtigen SPD-Minister:innen ebnete, handelt es sich zum Beispiel um Kerstin Andreae, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen nun die mächtige Lobbyorganisationen BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) leitet und über einen guten Draht ins grün geführte Wirtschaftsministerium verfügt. Aus dem christdemokratischen Spektrum fungiert der ehemalige CDU-Abgeordneter und parlamentarische Staatssekretär Friedbert Pflüger als Aufsichtsratsvorsitzender des Lobbyverbands Zukunft Gas.

Auch zwischen Wirtschaftsministerium und Gasbranche gebe es enge Verflechtungen, schreibt LobbyControl. Minister Habeck (Die Grünen) habe zwar nach Amtseintritt die Führungskräfte seines Hauses ausgewechselt, die Abteilung „Wasserstoff und Gas, Energieeffizienz in Industrie und Gewerbe“ werde aber auf Ebene der Unterabteilungs- und Referatsleitung noch immer mit Personen besetzt, „die über Jahre enge Verbindungen mit der Gasindustrie gepflegt haben“ (Seite 80).

– Die Forderungen von LobbyControl

Die Gaskonzerne drängen nachdrücklich auf den Erhalt ihres fossilen Geschäftsmodells. Soll ein Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas aber gelingen, so LobbyControl, müssten die Lobbynetzwerke zurückgedrängt werden. Zumindest sei „mehr Ausgewogenheit in der Beteiligung verschiedener Interessengruppen sowie mehr Transparenz über politische Entscheidungsprozesse“ (Seite 5) zu gewährleisten. Insbesondere, da sich seit Beginn des Ukraine-Krieges die Kontakte zwischen Gasindustrie und Politik intensiviert hätten. Zudem fordert LobbyControl eine sogenannte Lobby-Fußspur, „die Kontakte zwischen Spitzenpolitiker:innen und -beamten mit Lobbyakteuren offenlegt und sichtbar macht, welche Interessen von Unternehmen oder Verbänden in konkreten Gesetzgebungsprozessen Berücksichtigung gefunden haben und welche nicht“ (Seite 43). Weitere Forderungen lauten: Das Sponsoring sollte offengelegt und begrenzt, die bestehenden Regeln für Seitenwechsel aus der Politik in die Wirtschaft und in Lobbyjobs verschärft, Akteure mit Anliegen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, Soziales und Menschenrechte in gleichem Maße angehört werden. Außerdem sollen Lobbynetzwerke und -arbeit autoritärer Staaten deutlich stärker kritisch in den Blick genommen sowie die Macht von Konzernen über das Kartellrecht und weitere Regulierungsmaßnahmen eingeschränkt werden.

– Fazit

Bei der Vorstellung der Studie in Berlin verwies Co-Autorin Nina Katzemich darauf, dass sich die Gaslobby als Partner der erneuerbaren Energien inszeniere. Dabei werde bewusst vernachlässigt, dass Gas ein fossiler und eben kein nachhaltiger Energieträger sei (vgl. Berliner Zeitung vom 15. Februar 2023). Das Narrativ von Erdgas als vermeintlich saubere und klimafreundliche „Brückentechnologie“ habe sich erfolgreich durchgesetzt. Völlig zu Unrecht: Die letzten Bundesregierungen, heißt es schon zu Beginn der Studie, hätten es verpasst, rechtzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien einzuleiten. Die Folgen für die Gesellschaft seien verheerend: „Es drohen weitere erhebliche Klimaschäden, milliardenschwere Fehlinvestitionen zulasten der Steuerzahler:innen, enorme Preissteigerungen sowie möglicherweise sogar Versorgungsengpässe.“ (Seite 5)

Die vorliegende 108-seitige Studie von LobbyControl weist nach: Die Erdgaslobby ist so einflussreich wie eh und je. Die akribische Untersuchung des Transparenz-Vereins leistet aber das, was sie verspricht: Sie wirft ein erhellendes Licht auf die „Schattenpolitik“ der Giganten des Gasmarkts.Quellen:

„Pipelines in die Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland“, hrsg. von LobbyControl e.V. (Autorinnen: Dr. Christina Deckwirth und Nina Katzemich), Köln, Februar 2023

Jochen Bittner: „Der Weltuntergang fällt aus“, Die Zeit vom 16. Februar 2023

Christine Dankbar: „Neue Studie: LobbyControl warnt vor fortgesetztem Einfluss der Gasindustrie“, Berliner Zeitung (Online) vom 15. Februar 2023

Der Artikel ist der Beilage der Zeitschrift Stichwort Bayer, Ausgabe 2/2023 entnommen.

 

 

Versagende Finanzkontrolle

BIG berichtete zuletzt am 13. Februar 2023 über die gravierenden Mängel bei der Bekämpfung der Geldwäsche in Deutschland. In der Aprilausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik skizzieren die Journalisten Andreas Frank und Markus Zydra das „politische Desinteresse Deutschlands am Kampf gegen die Finanzkriminalität“, wie es in dem Text heißt.*

Wesentliche Aussagen werden im Folgenden – inklusive ausgewählter Zitate – zusammengefasst:

– Die wichtigste Behörde bei der Geldwäschebekämpfung ist die FIU (Financial Intelligence Unit), die alle Verdachtsmeldungen zu prüfen hat. Sie ist eine Bundesbehörde, die der Rechtsaufsicht des Bundesfinanzministeriums untersteht und bei der Generalzolldirektion angesiedelt ist. An ihrem Standort beim Zollkriminalamt in Köln arbeiten zurzeit etwa 400 Personen, bis 2026 sollen dort und in Dresden insgesamt rund 700 Fachleute tätig sein.

– Neben Banken und Finanzdienstleistern sind auch Unternehmen bzw. Gewerbetreibende des Nichtfinanzsektors (Immobilienmakler, Notare, Juweliere usw.) verpflichtet, der FIU zu melden, wenn ihnen Kunden verdächtig erscheinen, Geldwäsche betreiben zu wollen. Der Großteil der stetig anwachsenden Verdachtsmeldungen stammt von den Banken, nur drei Prozent der Hinweise kamen in den letzten Jahren vom Nichtfinanzsektor.

– Die FIU ist mit der Menge der Verdachtsmeldungen überfordert, für eine effiziente Bearbeitung fehlen Personal und Informationszugänge. Gemäß einer Kleinen Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke von 2023 wurden insgesamt 525.000 Geldwäschemeldungen nicht bearbeitet, die allermeisten, weil sie nicht als prüfungswürdig eingestuft worden waren. Den Grund dafür sehen die Autoren in dem sogenannten risikobasierten Ansatz: „Eine Software trifft die Vorauswahl der Meldungen. Weil die Datenbasis fehlt, gehen der Behörde viele prüfungswürdige Verdachtsmeldungen durch die Lappen, die – wenn überhaupt – erst später händisch bearbeitet werden.“

– Dieser „risikobasierte Ansatz“ der FIU könnte laut Staatsanwaltschaft Osnabrück den Tatbestand der Strafvereitelung erfüllen. Im Februar 2020 leitete sie deshalb ein Ermittlungsverfahren ein und durchsuchte wenige Monate später die FIU-Zentrale in Köln.

– Nach einem an den Haushaltsausschuss des Bundestages gerichteten Bericht des Bundesrechnungshofs vom September 2020 über die Bekämpfung der Geldwäsche durch die FIU kann Letztere die in sie gesetzten Erwartungen nur unzureichend erfüllen, weil sie unter anderem nicht auf regionale Polizeidaten oder wichtige Steuerdaten der Finanzverwaltungen der Länder und des Bundes elektronisch zugreifen kann. „Der Bericht des Bundesrechnungshofs war ein Alarmsignal: Selten ist das Versagen einer Bundesregierung von der Konzeption bis zu Umsetzung einer auch international wichtigen Kontrollbehörde so schonungslos offengelegt worden.“

– Die Financial Action Task Force (FATF), die oberste internationale Antigeldwäsche-Behörde, präsentierte im Sommer 2022 ihren aktuellen Bericht. „Die Experten bemängeln das Kompetenzwirrwarr von über 300 Behörden und sehen Defizite bei der Überwachung des Bargeldschmuggels. Die wenigsten der vielen Tausend Verdachtsmeldungen, die die Sammelstelle FIU jedes Jahr an die Behörden weiterleite, würden zu knallharten Ermittlungsverfahren führen. Von rund 36.000 Geldwäscheverfahren 2020 mündeten dem Bericht zufolge nur 629 in eine Anklage und 773 in einen Strafbefehl.“

– Auch der Skandal um das ehemalige Vorzeigeunternehmen Wirecard verdeutlicht, „wie schlimm es um die Geldwäschekontrolle durch die deutsche FIU steht“. Die Commerzbank hatte der FIU bereits im Februar 2019 eine umfangreiche Geldwäsche-Verdachtsmeldung übermittelt. Die FIU reagierte nicht, es dauerte fast dreieinhalb Jahre, bis sie die Verdachtsmeldungen an die zuständigen Ermittlungsbehörden weiterreichte. Zu diesem Zeitpunkt war Wirecard bereits insolvent und der Betrugsskandal offenbar. „Der Wirecard-Skandal hätte vielleicht verhindert werden können, wenn die deutschen Aufsichtsbehörden ihre Pflicht zur Geldwäschebekämpfung ernst genommen hätten.“

– Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission wurde die Bundesregierung bereits in den 2000er Jahren angewiesen, das Geldwäschegesetz korrekt anzuwenden. „Danach wurden in den Bundesländern die bis dahin fehlenden Aufsichtsbehörden bestimmt, allerdings in jedem Bundesland anders: Die Zuständigkeiten gingen hier an Regierungspräsidien, dort an Bezirksregierungen, anderswo an Ministerien und Ordnungsämter. Die Bundesländer merkten bald, dass sie mit dieser Aufgabe überfordert waren. Geldwäsche passiert international, was soll da ein kleiner Beamter im Regierungspräsidium schon tun? In Wolfsburg kümmerte sich damals eine einzige Person im Ordnungsamt um die Aufsicht im Fall des VW-Konzerns und aller anderen zur Meldung an die FIU Verpflichteten des Nichtfinanzsektors. Eine effektive Bekämpfung der Geldwäsche ist so nicht möglich.“

– Länderaufsichten setzen im Nichtfinanzsektor nach wie vor zu wenig Personal ein, besonders bei Vor-Ort-Prüfungen der über 1,1 Millionen zur Meldung an die FIU Verpflichteten – 30 Jahre nach Inkrafttreten des Geldwäschegesetzes. „Bei einer jährlichen Vor-Ort-Kontrollquote von deutlich unter 0,5 Prozent muss ein Verpflichteter durchschnittlich nur höchstens alle zweihundert Jahre mit einer Vor-Ort-Prüfung rechnen.“

– Vor allem im Bereich des Glücksspiels zeigen sich Aufsichtsschwächen. Denn bei Onlinecasinos sind Geldflüsse schwer nachvollziehbar. „Die Geldwäschegefahr im Glücksspielsektor steht in scharfem Kontrast zu der Freiheit, die dieser Sektor in Europa und auch in Deutschland genießt. Dies ist politisch gewollt; die Konsequenzen werden sehenden Auges in Kauf genommen. (…) Seit der Umsetzung der EU-Zahlungsdienstrichtlinie 2007 gibt es neben den Vollbanken, die Spareinlagen annehmen dürfen, auch Zahlungsdienstleister. Diese Anbieter übernehmen den Zahlungspart zwischen Kunden und Händlern. Es ist ein weniger streng regulierter Bereich des Finanzsektors, der politisch gewollt war, um den ‚alten‘ Banken Konkurrenz zu machen.“

Quelle:

Andreas Frank/Markus Zydra: „Geldwäsche leicht gemacht. Das Versagen der deutschen Finanzkontrollbehörden“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2023

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/april/geldwaesche-leicht-gemacht

* Laut Information der Redaktion der Zeitschrift basiert der Artikel von Frank und Zydra auf einem kürzlich erschienenen Buch der Autoren: „Dreckiges Geld. Wie Putins Oligarchen, die Mafia und Terroristen die westliche Demokratie angreifen“ (Piper-Verlag).

 

Korruptionsvorwürfe gegen den Skandalkonzern Vonovia

 

Razzia im Ruhrgebiet: Am 7. März 2023 durchsuchten die Staatsanwaltschaft Bochum und das Landeskriminalamt NRW unter anderem die Zentrale von Deutschlands größtem Immobilienkonzern. Gegen mehrere Mitarbeiter des Konzerns, die offensichtlich dem mittleren Management zuzuordnen sind, und weitere Beteiligte werde wegen des Verdachts der Bestechlichkeit und Bestechung, der Untreue und des Betrugs ermittelt, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Vier Personen wurden in dem Zusammenhang verhaftet. Die beschuldigten Mitarbeiter sollen danach für das Wohnungsunternehmen tätige Firmen bei der Auftragsvergabe bevorteilt und dafür als Gegenleistung Geld oder Sachleistungen erhalten haben. Die beauftragten Subunternehmen ihrerseits werden verdächtigt, die Vonovia-Mitarbeiter bestochen und überhöhte Preise verlangt zu haben. Dabei sollen sogenannte Leistungsverzeichnisse manipuliert worden sein, um den beauftragten Unternehmen zu ermöglichen, nicht erbrachte Leistungen abzurechnen. Das so erschlichene Geld wurde, so die bisherigen Ermittlungen, untereinander aufgeteilt. Über die Schadenshöhe äußerten sich die Ermittler bislang nicht.

Rolf Buch, CEO von Vonovia, sieht den Konzern als alleinigen Geschädigten: „Wir sind erschüttert. Offenbar haben sich einzelne Mitarbeiter bei unseren Tochterunternehmen zum Schaden von Vonovia bestechen lassen – das ist nicht akzeptabel.“ (Pressemitteilung Vonovia vom 7. März 2023) Denn es handele sich um Leistungen, die dem Unternehmen zwar in Rechnung gestellt worden seien, aber nicht unmittelbar zulasten der Mieterinnen und Mieter gehen würden. Laut Konzernmitteilung schätzt Vonovia die Auswirkungen als sehr gering ein. Denn die Aufträge, die an die von den Untersuchungen betroffenen Drittunternehmen vergeben wurden, hätten im vergangenen Jahr weniger als ein Prozent des von Vonovia insgesamt ausgegebenen Auftragsvolumens betragen. Und von den kriminellen Machenschaften sei nur ein Teil der Aufträge betroffen. Der Vorstand habe die unabhängige Prüfungsgesellschaft Deloitte sowie die Kanzlei Hengeler Mueller mit einer internen Untersuchung der Vorgänge beauftragt. Gegenstand der Untersuchungen sei, ob es sich hier um Kostenpositionen handele, „die in den Folgeprozessen auch in Teilen weiterverrechnet wurden“. Das Abwenden von Schaden für die Mieterinnen und Mieter sei für Vonovia besonders wichtig, heißt es weiter im Presseportal des Konzerns.

Dem widersprechen Vertreter:innen von Mieterorganisationen vehement. Denn diese bekämpfen seit Jahren die undurchsichtige Vorgehensweise von Vonovia und anderen Wohnungsunternehmen etwa bei der Berechnung von Betriebskosten und der Umlage von Modernisierungsmaßnahmen. So weist der „MieterInnenverein Witten“ darauf hin, dass auch in diesem mutmaßlichen Korruptionsfall in erster Linie die Mieter:innen die Geschädigten sind, denn sie würden schließlich die gefälschten Rechnungen über Modernisierungsmieterhöhungen und Nebenkosten bezahlen müssen.

„Als Mieterverein kommen uns die Vorwürfe bekannt vor. Seit Jahren entdecken MieterInnen in Betriebskosten- und Modernisierungsabrechnungen immer wieder Positionen, für die es nach ihrer Beobachtung keine Leistung gab. Zum Beispiel wurden den Mietern Winterdiensteinsätze berechnet, die nie stattgefunden haben. Seit vielen Jahren werden ausgerechnet in zugemüllten Wohnvierteln in Witten-Heven Kosten für mehrfach wöchentlich durchgeführte ‚Mülldienstleistung‘ verlangt, die noch nie beobachtet wurden. Es wurden auch Modernisierungsarbeiten mieterhöhungswirksam abgerechnet, obwohl sie noch gar nicht abgeschlossen waren. Jeder Mieter, der die ‚Vonovia-App‘ nutzt, kann beobachten, dass die dort mitgeteilten Arbeitseinsätze oft nicht stimmen. Es handelt sich bei diesen ‚Phantomabrechnungen‘ offensichtlich nicht um Einzelfälle. Sie werden durch das intransparente ‚Abrechnungssystem‘ der Vonovia zumindest begünstigt. Ein System, das wir nicht akzeptieren.“ (8. März 2023)

Auch der Deutsche Mieterbund (DMB) kritisiert die fehlende Transparenz bei der Umlage von Betriebskosten durch Vonovia und die Umlage von Kosten auf Mieterinnen und Mietern für Arbeiten, die nie stattfanden. In einer Pressemitteilung des DMB heißt es:

„Der Deutsche Mieterbund erwartet, dass die Konzernspitze den möglicherweise kriminellen Machenschaften in den eigenen Reihen entschlossen entgegentritt, über entstandene und auf Mieterinnen und Mieter in der Vergangenheit umgelegte Kosten umfassend Rechenschaft ablegt und zu Unrecht umgelegte Kosten zügig erstattet. Zudem muss Vonovia bei der Umlage von Kosten endlich transparent und in einer prüffähigen Form handeln, eine Forderung, die der Deutsche Mieterbund und seine Mietervereine seit Jahren an den Konzern richten, bislang leider erfolglos.“

Stellten sich die Vorwürfe als wahr heraus, so Lukas Siebenkotten, Präsident des DMB, seien die Geschädigten in erster Linie Mieterinnen und Mieter, auf deren Rücken sich die Mitarbeitenden bereichert hätten. Diesen Skandal solle die Konzernspitze in den Fokus rücken und mit allen Mitteln vergangenes Unrecht aufklären, die Schäden erstatten und illegale Machenschaften in Zukunft verhindern.

Die staatsanwaltlichen und polizeilichen Ermittlungen treffen Vonovia zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Der Konzern war zuletzt stark für die Ankündigung kritisiert worden, wegen gestiegener Finanzierungskosten (steigende Baukosten und -zinsen) im laufenden Jahr keine Neubauprojekte mehr durchzuführen – trotz des gravierenden Wohnungsmangels in Deutschland. Zudem kündigte Vonovia-Chef Buch Mitte März bei der Vorstellung des Geschäftsberichts 2022 an, der nächsten Hauptversammlung am 17. Mai vorzuschlagen, die Dividende je Aktie deutlich zu kürzen, von 1,66 Euro auf 85 Cent. Zwar konnten Umsatz und operatives Ergebnis im letzten Jahr kräftig zulegen, unter dem Strich aber stand ein dickes Minus. Denn wegen sinkender Immobilienpreise mussten die Buchwerte der Immobilien nach unten korrigiert werden.

Die börsennotierten Wohnungskonzerne stecken aktuell offensichtlich in der Klemme. Knut Unger, Sprecher des „MieterInnenvereins Witten“, beschreibt die Voraussetzungen für die weitere Handlungsfähigkeit Vonovias:

„Für das bisherige wachstumsorientierte Geschäftsmodell stellt die Halbierung der Dividende (..) einen radikalen Bruch dar. Der Konzern ist mehr denn je auf steigende Mieten angewiesen. Deren Basis ist die immer schärfere Wohnungsnot. Zweites Standbein sind potenzielle Käufer, einschließlich Kommunen, die auch weiterhin spekulativ hohe Immobilienwerte zahlen können und zahlen wollen. Und das dritte Standbein sind die staatlichen Wohnungsbau- und Klimaziele. Mangels vorhandener Alternativen könnten sie die öffentliche Hand zwingen, dem größten europäischen Wohnungskonzern noch mehr als bislang schon üblich unter die Arme zu greifen.“ (17. März 2023)

Das Überleben des finanzmarktorientierte Geschäftsmodell der Vonovia ist nach Auffassung Ungers offenbar zunehmend darauf angewiesen, dass öffentliche Gelder nachgeschossen werden. „Wäre es da politisch nicht sinnvoller“, schlussfolgert er, „den Konzern von der Börse zu nehmen und seine Immobilien und Produktionsmittel – gegen eine Entschädigung weit unterhalb der labilen spekulativen Verkehrswerte – in die Gemeinwirtschaft zu überführen?“

Quellen:

„Korruptionsverdacht: Durchsuchungen bei Vonovia“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 7. März 2023
https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-bochum-korruptionsverdacht-durchsuchungen-bei-vonovia-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230307-99-862393 

Carsten Herz/Volker Votsmeier: „Razzia beim Wohnungskonzern Vonovia“, Handelsblatt (Online) vom 7. März 2023
https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilien-betrugsvorwuerfe-razzia-beim-wohnungskonzern-vonovia/29022180.html 

„Razzia in der Vonovia-Konzernzentrale“, MieterInnenverein Witten und Umg. e. V., 8. März 2023
https://www.mvwit.de/razzia-in-der-vonovia-konzernzentrale/ 

„Razzia bei Vonovia: Mieterbund fordert lückenlose Aufklärung und transparentes Handeln“, Pressemeldung des deutschen Mieterbundes (DMB) vom 9. März 2023
https://www.mieterbund.de/startseite/news/article/75117-razzia-bei-vonovia-mieterbund-fordert-lueckenlose-aufklaerung-und-transparentes-handeln.html 

Knut Unger: „Zeitenwende bei der Vonovia?“, MieterAKTIOnärIn, 17. März 2023
https://mieteraktionärin.de/zeitenwende-bei-der-vonovia/