Maut-Desaster: Ex-Minister Scheuer (CSU) muss wohl nicht haften

Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) steht unter Druck, denn gegen einen seiner Abteilungsleiter werden aktuell Vorwürfe wegen möglicher Vetternwirtschaft erhoben (wegen der Vergabe von Fördermittel für Wasserstoffprojekte). Wahrscheinlich auch, um von dem Filzverdacht in seinem Haus abzulenken, lässt Wissing deshalb derzeit Regressforderungen gegen seinen Amtsvorgänger Andreas Scheuer (CSU) prüfen. Denn der habe, so der Vorwurf, staatliches Geld veruntreut, weil er im Dezember 2018 Aufträge an Unternehmen für ein Pkw-Mautsystem vergeben hatte – trotz damals bereits bekannter europarechtlicher Bedenken. Ein halbes Jahr später, im Juni 2019, erklärte der Europäische Gerichtshof dann auch das deutsche Gesetz für rechtswidrig, weil es Bürger:innen aus anderen EU-Staaten benachteilige. Daraufhin kündigte Scheuer die Verträge mit den Maut-Betreibern. Das beteiligte Konsortium verklagte jedoch die Bundesrepublik auf 560 Millionen Euro Schadensersatz. Verhandelt wurde vor einem privaten Schiedsgericht, das 2022 feststellte, die Vertragskündigung sei rechtswidrig. Im Jahr darauf wurde der Rechtsstreit beigelegt und eine Einigung über einen reduzierten Schadensersatz von 243 Millionen Euro erzielt, den Deutschland an die beiden Maut-Unternehmen zahlen muss.

Die Zeit bezeichnet das Vorgehen des damaligen CSU-Ministers als populistisch:

„Seine Pkw-Maut hätte nämlich nur von Ausländern bezahlt werden müssen, was in Bayern zu jener Zeit sehr populär war. Juristen rieten damals angesichts dieser Diskriminierung zur Vorsicht. Auch die EU-Kommission mahnte, dass das EU-Recht so etwas verbiete, und sie klagte schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof. Scheuer aber interessierte das nicht. Er und seine CSU-Chefs wollten das Projekt unbedingt. Und deshalb verteilte er Aufträge, während das Gerichtsverfahren noch lief und für die nach dem für ihn negativem Urteil der Schadensersatz an die Maut-Betriebe fällig wurde. Aber gehört Scheuer deswegen vor Gericht?“

Die taz erklärt, warum es unwahrscheinlich ist, dass der Bund das Geld von Scheuer tatsächlich eintreiben kann.

„Wenn Amtsträger Bürger:innen schädigen, haben diese einen Schadenersatzanspruch gegenüber dem (leistungsfähigeren) Staat. Das steht in Artikel 34 Grundgesetz. Danach kann sich der Staat das Geld aber von den Amtsträgern zurückholen, wenn diese vorsätzlich oder grob fahrlässig handelten.
Da es um Eingriffe gegenüber den Amtsträgern geht, ist für einen solchen Regress ein Gesetz erforderlich. Eine gesetzliche Rechtsgrundlage besteht aber nur für Regresse gegenüber Beamten (Paragraf 75 Bundesbeamtengesetz). Dagegen gibt es im Bundesministergesetz keine Rechtsgrundlage für Regresse gegenüber Ministern. Diese sollen in ihrer Entschlussfreudigkeit nicht gehemmt werden.“

Die WirtschaftsWoche referiert die Ansicht eines Anwalts für Verwaltungsrecht, der den Fall ähnlich bewertet. Die Rechtslage gibt es danach nicht her, Scheuer in Regress zu nehmen:

„Der damalige Verkehrsminister habe zwar versucht, politisch Profit zu schlagen. Ihm nachweisen, dass er sich bereichern wollte, könne man aber nicht. Anders wäre der Fall gelagert (…) wenn Scheuer nicht Minister gewesen wäre, sondern ein einfacher Beamter, etwa Oberbürgermeister. In solchen Fällen sehe das Bundesbeamtengesetz eine Regresshaftung schon bei grober Fahrlässigkeit vor.“ Der Status von Ministern unterscheide sich aber grundsätzlich von einfachen Beamten, denn es sei ein Unterschied, ob jemand eine ganze Volkswirtschaft steuere oder „nur“ für eine Stadt Verantwortung trage. Das Gesetz, so der Jurist, wolle Minister nicht „in ihrer Entscheidungsfreiheit“ lähmen, um handlungsfähig bleiben zu können.

Für Heribert Prantl, Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, stellt das „Haftungsprivileg für Minister“ ein „Skandal im Skandal“ dar:

„Die Mauterei der CSU war ein Wahlkampfgag – sauteuer, aber politisch erfolgreich: Die CSU gewann damit Wahlen. Der ehemalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer war die treibende Kraft dieses Bierzeltprojekts, er hat es entwickelt und aus rechtswidrigen Ingredienzen zusammengebraut; der Vorgänger von Scheuer im Ministeramt, Alexander Dobrindt, hat es dann angezapft, und Scheuer, der beim Anzapfen noch CSU-Generalsekretär gewesen war, hat es ausgeschenkt. Die drei haben in bewusstem und gewolltem Zusammenwirken gehandelt. Sie waren Mittäter der Mauterei. Aber aus der politischen Haftung ergibt sich keine juristisch-finanzielle.“

Quellen:

Jan Lutz: „Ein politisches Signal, das in der Sache wenig bringt“, WirtschaftsWoche (Online) vom 31. Juli 2023
https://www.wiwo.de/erfolg/management/maut-affaere-ein-politisches-signal-das-in-der-sache-wenig-bringt/29289094.html

Petra Pinzler: „Scheuer in die Insolvenz“, Die Zeit vom 3. August 2023

Heribert Prantl: „Die Mauterei“, Süddeutsche Zeitung vom 5./6. August 2023

Christian Rath: „Muss Ex-Minister Scheuer zahlen?“, taz (Online) vom 3. August 2023
https://taz.de/Gescheiterte-Pkw-Maut/!5948076/

Erfolgreicher SPD-Lobbyist

Anfang Januar 2022 wurde in Deutschland das Lobbyregister eingeführt. Die Internetplattform abgeordnetenwatch.de erklärt in diesem Zusammenhang:

„Ein Registereintrag ist so etwas wie ein Freifahrtschein, um beim Bundestag oder der Bundesregierung zu lobbyieren. Oder, wie es im Gesetz heißt, um ‚unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss (…) auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess‘ nehmen zu dürfen. Mehr als 32.000 Personen sind dazu dank eines Eintrags im Register berechtigt. (…) Ob und wie intensiv sie Lobbyarbeit betreiben, lässt sich im Register nicht sehen: Lobbygespräche mit der Regierung oder Abgeordneten müssen Interessenvertreter:innen hierzulande nicht offenlegen. Das ist nicht der einzige blinde Fleck im deutschen Register. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen, dass ehemalige Spitzenpolitiker:innen selbst dann bei der Bundesregierung lobbyieren können, wenn sie nicht im Register stehen. Ein solcher Fall ist Sigmar Gabriel.“

Schuld daran, so abgeordnetenwatch.de, sei eine Gesetzeslücke, die Aufsichtsratsmitglieder von Unternehmen von einer Eintragungspflicht im Lobbyregister befreie. Auch der frühere SPD-Chef und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel konnte deshalb seine Aktivitäten als Industrielobbyist im Kanzleramt ganz legal geheim halten – im Lobbyregister steht sein Name bis heute jedenfalls nicht.

Im April 2023 wurde Gabriel als Vertreter der Anteilseigner in den Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp Steel Europe berufen und zum neuen Vorsitzenden gewählt. „In den kommenden Monaten und Jahren stehen wegweisende Entscheidungen mit wirtschaftlicher, industriepolitischer und umweltbezogener Relevanz an“, sagte Gabriel damals (Handelsblatt vom 7. April 2023). Nirgendwo, zitiert die Zeitung den Lobbyisten Gabriel weiter, könne man exemplarisch so überzeugend zeigen wie beim Stahl, dass wirtschaftlicher Erfolg und Nachhaltigkeit in der Klimapolitik in Deutschland zusammengebracht werden könnten. Laut Handelsblatt steht die Stahlindustrie mit der Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion tatsächlich vor dem größten Umbau ihrer Geschichte.

In seiner Funktion als Industrielobbyist soll sich Gabriel laut abgeordnetenwatch.de im vergangenen Jahr mehrfach mit Entscheidungsträgern im Kanzleramt getroffen haben, einmal auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz selbst. Offensichtlich nicht ohne Erfolg. Wirtschaftsminister Habeck eilte im Juli 2023 persönlich ins Ruhrgebiet und überreichte dem Chef der Stahlsparte des Konzerns Thyssen-Krupp die frohe Botschaft: Der Konzern wird bei der klimafreundlichen Umstellung der Stahlproduktion mit insgesamt zwei Milliarden Euro gefördert (Handelsblatt vom 26. Juli 2023).

Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol erklärte, es sei ein langer Weg gewesen. Fast zwei Jahre habe es gebraucht, um den Förderbescheid zu erhalten. Nasikkol appellierte an die Politik, den Konzern bei der weiteren Transformation des Stahlstandortes zu unterstützen.  „Als Dankeschön für den Förderbescheid überreichte Nasikkol dem Bundeswirtschaftsminister ein Herz aus Stahl, gefertigt im Stahlwerk in Duisburg.“ (Handelsblatt, ebd.)

Quellen:

Martin Reyher: „Diese Liste zeigt, für wen über 100 Ex-Politiker:innen heute arbeiten“, abgeordnetenwatch.de, 21. Juli 2023

https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/diese-liste-zeigt-fuer-wen-ueber-100-ex-politikerinnen-heute-arbeiten

„Sigmar Gabriel neuer Aufsichtsratschef bei Thyssen-Krupp Steel Europe“, Handelsblatt vom 7. April 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ehemaliger-bundeswirtschaftsminister-sigmar-gabriel-neuer-aufsichtsratschef-bei-thyssen-krupp-steel-europe/28236178.html

Isabelle Wermke/Julian Olk: „Thyssen-Krupp erhält Milliardenförderung“, Handelsblatt vom 26. Juli 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/gruene-stahlproduktion-thyssen-krupp-erhaelt-milliardenfoerderung/29278802.html

„Staatliche Sabotage“

Die Wirtschaftszeitschriften Manager Magazin und Capital widmen sich in ihren aktuellen Ausgaben den großen Steuerskandalen um Cum-Ex und den Luxemburg-Leaks. Die versagende staatliche Kontrolle bzw. der fehlende staatliche Wille zur Aufklärung der kriminellen Machenschaften bildet dabei den roten Faden, der die Artikel thematisch durchzieht.

Cum-Ex, die Politik und das Justizsystem

Im Mittelpunkt des Artikels im Manager Magazin steht einmal mehr die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die nach Darstellung der Autorin auch zehn Jahre nach Beginn der Cum-Ex-Affäre die „Hauptrolle in der True-Crime-Story rund um die Cum-ex-Aufklärung“ spielt. Danach ermittelt sie gegen etwa 1.700 der insgesamt mehr als 1.800 Beschuldigten, darunter auch große Namen innerhalb der Finanzbranche. Acht Anklagen hat die Staatsanwältin bisher vorgelegt; fünf Prozesse führten zu fünf Verurteilungen, darunter auch von Hanno Berger, der Cum-Ex-Schlüsselfigur. Im September 2023 werden zwei weitere wichtige Gerichtsverfahren folgen: gegen den ehemaligen Steuerchef der Großkanzlei Freshfields und gegen den einstigen Chef und Miteigentümer der Hamburger Warburg Bank.

Dennoch, so das Manager Magazin, steige die Gefahr, dass etliche Cum-Ex-Betrüger davonkommen könnten. Denn alles dauere länger als gedacht; die deutsche Justiz scheine den Dimensionen des historischen  Steuerverbrechens nicht gewachsen zu sein. Aber noch viel bedenklicher sei es, dass Politik und Behördenapparat die Aufarbeitung des Skandals sogar noch ausbremsen würden (BIG berichtete mehrfach darüber). Die Kölner Ermittlungsbehörde verfüge nicht einmal über das ihnen zugesagte Personal. „Zugleich“, heißt es weiter, „versucht im Auftrag der Beschuldigten eine ganze Armee der besten Wirtschaftsanwälte der Republik, Strafverfolger und Gerichte mit juristischen Winkelzügen und Verfahrenstricks schwindelig zu spielen. Es droht ein zweites Staatsversagen.“

In beschlagnahmten Dokumenten schlüge den Strafverfolgern die ganze Arroganz der Finanzbranche entgegen. „Häme und Hohn auf Hunderten Seiten. Brorhilker persönlich wird darin als ‚dumme Kuh‘ oder ‚graues Mäuschen‘ tituliert, üblere Beschimpfungen werden in Abschriften abgehörter Telefonate teils nur mit ‚auf Wiedergabe wird verzichtet‘ wiedergegeben.“ Zuerst hätten das Bundesfinanzministerium und andere Behörden die Augen vor den „stümperhaft gestrickten Gesetzen“ verschlossen und so den Steuerraub erleichtert. Nun würde sich die juristische Aufarbeitung dahinschleppen. „Teilweise wurden Brorhilker und ihr Team sogar gezielt ausgebremst“, schreibt das Wirtschaftsmagazin. So im Sommer 2020, als ihr Vorgesetzter eine von langer Hand vorbereitete Razzia beim Hamburger Finanzamt für Großunternehmen, das für die Warburg-Bank zuständig war, verhinderte. Angeblich hätte es keinen begründeten Anfangsverdacht gegeben.

Der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) hatte im März 2023 bei seinem Nachfolger Benjamin Limbach (Die Grünen) eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft eingereicht, um gegen die Verschleppung der Ermittlungen vorzugehen und mehr Tempo bei den Ermittlungen einzufordern (vgl. BIG-Nachricht vom 13. März 2023). Dazu gehörte auch eine Frageliste zur Arbeit und Ausstattung von Brorhilkers Abteilung. „Detaillierte Antworten auf Biesenbachs Fragen ist der Neue im Amt bis heute schuldig. Nur soviel: Ein Bescheid an Biesenbach werde vorbereitet.“

Steuerparadies Luxemburg

In der letzten Folge einer Serie über die größten Whistleblower beschäftigt sich die Zeitschrift Capital in ihrer Ausgabe vom August 2023 mit Antoine Deltour, einem ehemaligen Bilanzprüfer bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. Er hatte dabei geholfen, die Steuerdeals aufzudecken, „die Luxemburg mit Großkonzernen weltweit augekungelt hatte“. „Mithilfe seines Materials“, so das Magazin, „ließ sich belegen, dass 343 multinationale Unternehmen über Jahre hinweg für Abermilliarden Euro Gewinne so gut wie keine Steuern bezahlten – bei 0,0156 Prozent lag der niedrigste Satz. ‚Lux-Leaks‘ war 2014 die erste Enthüllung systematisch organisierter Steuervermeidung im großen Stil“. Konzerne wie Amazon, Apple, Pepsi, Vodafone oder Deutsche Bank hatten Briefkastenfirmen in Luxemburg angemeldet, um dorthin Profite zu verschieben und so Steuern zu sparen. Unter anderen gerieten hochrangige Politiker wie der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in Verdacht, die Geschäfte gekannt oder sogar unterstützt zu haben.

Der TV-Sender France 2 sendete im Mai 2012 eine Reportage, die auf Antoine Deltours weitergereichten Dokumenten basierte. PwC suchte anschließend nach dem internen „Leak“ und kam Deltour auf die Spur. Er wurde angezeigt, unter anderem wegen Diebstahl: „Die Strafprozesse wurden zum Schaukampf zwischen Konzernen, Wirtschaftsprüfern, NGOs, EU-Parlamentariern und Steuerzahlern – und zur Qual für Deltour: Anzeige, Festnahme, Untersuchungshaft, drei Gerichtsprozesse durch alle Instanzen –  sechs Jahre lang.“ Erst im Jahr 2018 wurde er als Whistleblower anerkannt und freigesprochen. Von den Verantwortlichen für die Steuerdeals, so Capital, wurde jedoch keiner zur Rechenschaft gezogen. Whistleblower Deltour sieht aktuell keine Kehrtwende in der Steuerpolitik, „und Luxemburg gilt nach wie vor als Steueroase“.

Quellen:

Katharina Slodczyk: „Der zweite Cum-Ex-Skandal“, Manager Magazin, August 2023, Seite 24-30

Die Online-Ausgabe der Titelstory des Magazins trägt den Titel: „Die sabotierte Cum-ex-Jägerin“ und wird mit den Worten eingeleitet: „Das Nichtstun des Staates grenzt an Sabotage“.

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/cum-ex-skandal-wie-politik-behoerden-und-staranwaelte-die-ermittler-ausbremsen-a-06f2abb1-6932-4dfa-b68a-5b59008e08e7

Monika Dunkel: „Abgeluxt“, Capital, August 2023, Seite 77-81