Nachschlag: Anne Brorhilker im Handelsblatt-Interview

Nach ihren Interviews vom 27. Juni mit der Wochenzeitung Die Zeit und vom 4. Juli mit der Süddeutschen Zeitung führte Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker auch ein längeres Gespräch mit dem Düsseldorfer Handelsblatt: über ihre „erstaunlichen Erfahrungen mit der Finanzelite“ und der deutschen Justiz.

Hier folgen einige Zitate.

Brorhilker auf die Frage, ob sie mehr Beamte im Kampf gegen Cum-Ex fordern würde:

„Mehr und besser ausgebildet. Wenn man als Staat eine Kontrolle haben möchte, müsste man erst mal ganz genau wissen, was die Banken da machen. Dieses ganze Geplapper erst mal übersetzen. Normalerweise sitzt da ein Finanzbeamter, der völlig alleingelassen ist und der jetzt konfrontiert wird mit einer teuren Anwaltskanzlei und 1000 Seiten Gutachten, vollgestopft mit Fremdwörtern. Wie soll der das in seinem Alltag schaffen neben Dutzenden anderen Fällen?

(…)

Der Staat muss ernst nehmen, welche Interessen da auf der anderen Seite im Hintergrund stehen. Wie wichtig dieser Bereich, also steuergetriebene Geschäfte, für Banken ist. Weil sie einen erheblichen Teil ihrer Profite mit solchen Tax-Trades erzielen. Geschäfte, die einfach darauf abzielen, den Staat auszuplündern. Wenn wir das so behandeln wie normale Einkommensteuererklärungen, können wir das nicht abwehren.

Brorhilker auf den Hinweis des Handelsblatts, betroffene Banken, Wirtschaftsprüfer und Kanzleien hätten gegenüber der Redaktion immer wieder behauptet, sie würden „vollumfänglich“ mit den Behörden zusammenarbeiten.

„Meine Erfahrung ist anders. Im Gegenteil: Es wurde häufig alles getan, um unsere Arbeit zu erschweren und in die Länge zu ziehen. Wir haben etwa häufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden konnten. In einem Fall kamen rund 100 Anwälte einer Kanzlei herbeigeeilt. Die haben sich uns teilweise in den Weg gestellt und die Durchsuchung aktiv gestört. Einmal habe ich einen bewaffneten Polizisten zur Hilfe geholt. Grundsätzlich gilt außerdem, dass bei Durchsuchungen maximal drei Anwälte erlaubt sind. Das habe ich ihnen klargemacht.“

Brorhilker zur Ankündigung des ehemaligen NRW-Justizministers Biesenbach vom 17. September 2019, „Anklagen im Akkord“ folgen zu lassen (das Handelsblatt hat mitgezählt: Bislang sind es zwölf):

„Also, von mir hätten Sie so etwas nicht gehört. Ich glaube, da war der Wunsch Vater des Gedankens. Ermittlungen in komplexen und sehr umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren sind immer langwierig, und die Beschuldigten haben oft exzellente finanzielle Möglichkeiten für massive Konfliktverteidigung.

(…)

Eine sehr laute und destruktive Art, Mandanten zu verteidigen. Angriffe auf die Staatsanwaltschaft, auf das Gericht. Eine Flut von Anträgen, Medienstrategien. Sie legt es darauf an, von der Sache abzulenken und auf Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Das frisst unglaublich viele Ressourcen, und darauf zielt die Strategie ab. Da kann man als Staatsanwalt oder als Richter so eingearbeitet sein, wie man will. Das Verfahren wird in die Länge gezogen.“

Brorhilker zur Frage, ob unter diesen Umständen nicht vollkommen unrealistisch erscheint, die noch offenen 130 Ermittlungsverfahren mit 1.700 Beschuldigten jemals abzuschließen:

„Die Zahl mag auf den ersten Blick hoch erscheinen. Aber warum eigentlich? Weil man sich nicht vorstellen kann, dass so viele Banker und Berater beteiligt waren? Die Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-Geschäften hatte industriellen Charakter, das haben auch die Strafgerichte festgestellt. Das waren eben nicht wenige schwarze Schafe. Außerdem kann man nicht einfach so Ermittlungen einleiten. Dafür braucht es einen begründeten Anfangsverdacht. Den hat die Staatsanwaltschaft in jedem Fall sorgfältig geprüft. Bei Beschwerden, die häufig eingelegt wurden, ist dies von Gerichten überprüft und bisher in allen Fällen bestätigt worden.

Brorhilker zur Aussicht, dass die Welle von Anklagen jemals kommt:

„Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Man darf nicht vergessen, dass die Staatsanwaltschaft Köln zahlreiche Banken erst 2021 und 2022 durchsucht hat. Meist dauert es eine Zeit, bis die beschlagnahmten Daten ausgewertet werden können, auch weil sich die Banken dagegen mit Händen und Füßen wehren.

(…)

Drehen wir das doch mal um. Was wäre denn, wenn es hier um Drogenkriminalität ginge? Wenn ein Händler bei der Vernehmung sagt: ‚Ich hatte mit denen und denen und denen zu tun, und die haben das Zeug abgenommen. Hier sind dazu meine Unterlagen.‘ Soll der Staatsanwalt dann sagen: ‚Nein, 100 Abnehmer sind uns zu viel, dafür haben wir keine Kapazitäten?‘ Was würde das wohl für einen öffentlichen Aufschrei geben, wenn der Staat sich weigert, dem nachzugehen?“

Brorhilker zur Weigerung der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Cum-Ex zu ermitteln, obwohl sich mehrere Fälle direkt vor ihrer Haustür abspielten:

„Das liegt sicherlich nicht an mangelnder fachlicher Expertise. Es ist daher zu vermuten, dass andere Gründe dafür ausschlaggebend waren. Ich befürchte, es hat mit einer zu großen Nähe zwischen Politik und Banken in Hamburg zu tun.“

Brorhilker zu der Tatsache, dass Steuerhinterziehung seit einigen Jahren nicht mehr als Verbrechen gilt, sondern als milder Betrug:

„Ich halte das nicht für sinnvoll. Bei organisierter Steuerhinterziehung entstehen unfassbar hohe Schäden für uns alle. Es ist deshalb ungerecht, derart schwere Fälle – anders als beim Betrug – nicht als Verbrechen einzustufen. Der Gesetzgeber sollte das ändern. Auch, damit Einstellungen gegen Geldbuße bei derart schweren Fällen organisierter Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sind.“

Brorhilker zu den sogenannten Cum-Cum-Geschäften:

„Hier ist leider bisher viel zu wenig passiert. Dabei sind die Schäden aus Cum-Cum-Geschäften nach Schätzungen ungefähr dreimal so hoch wie bei Cum-Ex. Sowohl der Bundesfinanzhof als auch das Bundesfinanzministerium haben längst klargestellt, dass auch diese Geschäfte rechtswidrig sind. Ich würde mir hier mehr Anstrengungen von den Finanzämtern wünschen, das Geld für uns alle zurückzuholen.“

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „‚Die Banken wehren sich mit Händen und Füßen‘“, Interview mit Anne Brorhilker, Handelsblatt (Online) vom 10. Juli 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/interview-anne-brorhilker-die-banken-wehren-sich-mit-haenden-und-fuessen/100049880.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Kampf gegen Cum-Ex: Anne Brorhilker in aktuellen Interviews

Anne Brorhilker, ehemalige Chefermittlerin im Cum-Ex-Steuerskandal, wechselte im April 2024 zur NGO Finanzwende und begründete ihren Schritt öffentlichkeitswirksam. Unter anderem kritisierte sie massive strukturelle Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. In aktuellen Interviews mit Die Zeit und der Süddeutschen Zeitung (SZ) äußert sie sich zur Frage, was sich in Deutschland in Sachen Cum-Ex ändern sollte.

Die Ermittler müssten in die Lage versetzt werden, Fachkompetenz aufzubauen, so Brorhilker gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit. Bei ihr hätte es Jahre gebraucht, bis sie sich in die hochkomplexen Vorgänge der Cum-Ex-Geschäfte eingearbeitet hätte. Das könne ein Ermittler nicht mal so neben dem Alltagsgeschäft schaffen. Es brauche dafür Spezialisten. Das Fachwissen könne auch nicht jede Staatsanwaltschaft, Steuerfahndung oder Polizei einzeln aufbauen.

Brorhilker in Die Zeit auf die Frage, was sie fordere:

„Dass nicht mehr jeder in seinem Bundesland und in seiner Behörde relativ allein vor sich hin wurschtelt, sondern dass Kräfte gebündelt werden und man über längere Zeit Personen in dieser Materie ausbildet, die dann auch an dem Thema dranbleiben. Derzeit machen Behörden aber das Gegenteil. Sie wechseln Personal regelmäßig aus, weil das in vielen Personalentwicklungskonzepten so angelegt ist.“

Zum Aufbau eines von der Bundesregierung angekündigten Bundesfinanzkriminalamts und der Frage, ob damit das Problem schon gelöst wäre, stellt Brorhilker fest. „Damit hätte man es lösen können. Aber der Straftatbestand der Steuerhinterziehung gehört leider nicht zu dessen Aufgabengebiet. Dabei wäre das sinnvoll gewesen.“

Ein Expertenteam solle auf Bundesebene angesiedelt werden, weil es sich um international organisierte Kriminalität handele. Das BKA sei für international organisierte Geldwäsche zuständig, warum dann nicht auch für international organisierte Steuerhinterziehung?

In der SZ beantwortet die ehemalige Staatsanwältin die Frage so:

„Ich finde es suboptimal, dass wir damit eine weitere Behörde gegen Geldwäsche bekommen sollen, obwohl wir dafür schon das Bundeskriminalamt haben. Es wäre sinnvoller gewesen, auch den Bereich der Steuerkriminalität mit reinzunehmen in die neue Behörde, was aber nicht geplant ist. Es braucht bundesweit eine zentrale Stelle für solche Ermittlungen. Es kann nicht sein, dass eine lokale Staatsanwaltschaft wie Köln in diesen Fällen für das ganze Bundesgebiet zuständig ist. Wir sollten das auch auf europäischer Ebene verfolgen, so wie die Europäische Staatsanwaltschaft das bei Umsatzsteuerkarussellen bereits tut.“

Brorhilker bewertet in Die Zeit auch die Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen, wie etwa den Aufbau des Landeszentralamts zur Bekämpfung der Finanzkriminalität in NRW und der dortigen Taskforce Geldwäsche:

„Ich will das Erreichte nicht schmälern, die Errichtung des neuen Landeszentralamts finde ich richtig. Aber schauen Sie sich die Cum-Cum-Geschäfte an (…) da liegt noch viel im Argen! Der Bundesfinanzhof hat schon 2015 entschieden, dass solche Geschäfte steuerrechtlich nicht in Ordnung sind. Daher muss der Staat das Geld zurückholen. Es gab dann weitere Urteile und auch konkrete Vorgaben des Bundesfinanzministeriums, zuletzt 2021. Wir haben jetzt 2014. Wo ist denn das Geld? Welche Bank musste denn zahlen? Nichts hören wir davon.“

In der SZ nimmt Brorhilker Stellung zur Frage, was sie sich nach ihrem Abschied als Staatsanwältin vorgenommen habe:

„Ich will das Übel an der Wurzel packen. Ich will darauf hinwirken, dass sich deutschlandweit die Strukturen der Justiz verändern. Diese Defizite bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sind extrem sozialschädlich. Bei Cum-Ex schätzt man konservativ mit zehn Milliarden Euro Schaden für den Fiskus. Die Schäden von Cum-Cum, einer weiteren Steuerhinterziehungsmethode, die noch nicht gestoppt ist, sind mindestens dreimal so hoch, auch konservativ geschätzt. Es macht das Zusammenleben in Deutschland nicht besser, wenn uns dauerhaft Geld aus der Kasse fließt.“

Quellen:

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

„Ich will das Übel an der Wurzel packen“, Interview von Meike Schreiber mit Anne Brorhilker, Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2024, Seite 18

 

Cum-Ex-Verfahren gegen Warburg-Banker Olearius eingestellt

Am 24. Juni 2024 entschied das Landgericht Bonn, das Verfahren wegen schwerer Steuerhinterziehung gegen den ehemaligen Chef der Hamburger Warburg-Bank Christian Olearius einzustellen. Die angeschlagene Gesundheit des 82-jährigen prominenten deutschen Bankers lässt es nach Auffassung des Gerichts nicht zu, den Prozess fortzusetzen. Die Schuldfrage bleibt damit juristisch ungeklärt.

Olearius wurde Steuerhinterziehung in 15 besonders schweren Fällen vorgeworfen. Insgesamt ließ sich  die Warburg-Bank zwischen 2006 und 2011 vom Staat 280 Millionen Euro Steuermittel erstatten, die sie zuvor gar nicht gezahlt hatte. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln warf ihm vor, Cum-Ex-Deals initiiert und abgesegnet zu haben. Der Banker bestritt stets alle Vorwürfe. Olearius hätte im Fall einer Verurteilung mit einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen müssen.

Vor allem hat das Gericht einen entscheidenden Punkt nicht ausermittelt. So wies es das Begehren der Staatsanwaltschaft zurück, von Olearius 43 Millionen Euro als dessen mutmaßliche persönliche Taterträge einzuziehen. Olearius hatte offensichtlich selbst fünf Millionen Euro in die illegalen Cum-Ex-Deals investiert und einen entsprechenden „Gewinn“ erschwindelt.

Das Handelsblatt dazu (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt vorerst die Frage, ob Olearius seine persönlichen Profite in Höhe von 43 Millionen Euro zurückzahlen muss. Das fordert die Staatsanwaltschaft – unabhängig von den inzwischen erfolgten Steuerrückzahlungen der Bank. Die Ankläger hatten am vorletzten Verhandlungstag die Überleitung des Verfahrens in ein sogenanntes selbstständiges Einziehungsverfahren beantragt. Die Kölner Behörde wollte so erreichen, dass Olearius zumindest die zu Unrecht erlangten Taterträge zurückzahlen muss.

Der bisherige Verfahrensstand erschien den Richtern jedoch nicht ausreichend fortgeschritten, um sicher feststellen zu können, welchen Tatbeiträgen welche Einnahmen zuzuordnen sind. Daher lehnten sie den Antrag der Staatsanwaltschaft ab.

Der Staatsanwaltschaft bleibt somit nur der Weg, ein neues Einziehungsverfahren zu beantragen. Persönlich in Bonn erscheinen müsste Olearius dann allerdings nicht. Für ihn geht es nur noch um Geld, nicht mehr um seine Freiheit.“

Die Süddeutsche Zeitung verweist auf die guten Beziehungen von Olearius zu Regierung und Justiz in Hamburg:

„Einst war Christian Gottfried Olearius, wie er vollständig heißt, einer der wichtigsten Bankiers Deutschlands. Er galt als Helfer in schwierigen Situationen, gern gesehener Gesprächspartner der Politik und das Idealbild eines hanseatischen Kaufmanns. Dass der Prozess in Bonn allerdings so viel Öffentlichkeit auf sich zog, lag nicht nur am Privatbankier und Elbphilharmonie-Mäzen selbst, sondern auch an dessen Kontakte zum jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).“ (Max Fluder)

Zur Erinnerung: Hamburgs Steuerbehörde hatte in den Jahren 2016 und 2017 auf eine Rückforderung von der Warburg-Bank in Höhe von 47 Millionen Euro verzichtet – in einer Zeit, als sich Scholz als damaliger Erster Bürgermeister der Stadt mehrmals mit Olearius getroffen hatte. Scholz hat bislang jede Einflussnahme auf das Steuerverfahren bestritten und kann sich an Details der Treffen nicht mehr erinnern.

Ohne die hartnäckigen Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft wäre der Banker wohl nie angeklagt worden. Das Neue Deutschland hält fest:

„Mit der Einstellung des Verfahrens gegen Christian Olearius, Ex-Chef der Hamburger Privatbank Warburg, bleibt die Schuldfrage offen. Dies ist Ergebnis der jahrelangen Untätigkeit der hanseatischen Behörden, die erst die illegalen Steuergewinne nicht zurückforderten und dann auch juristisch nicht aktiv wurden. Letztlich war es das Verdienst der Schwerpunktstaatsanwälte in Köln, dass der Prozess wegen schweren Steuerbetrugs überhaupt zustandekam.“

Auch die junge Welt bezieht sich auf den viel zitierten Skandal im Skandal:

„Der Skandal besteht dabei darin, dass der Prozess zunächst um Haaresbreite überhaupt nicht eröffnet worden wäre und dann über Jahre verzögert wurde, bis es 2023 doch noch losging. Andernfalls hätte das Verfahren deutlich früher beendet werden können, als sich der Bankster noch besserer Gesundheit erfreute.

So entgeht ein ganz dicker Fisch im ‚Cum-ex‘-Sumpf dem Strafvollzug.“

Das Handelsblatt äußert sich zur Frage, wer für die Kosten des Prozesses aufzukommen hat (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt auch, wer das Verfahren bezahlen muss. ‚Die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden ersetzt‘, sagte Richterin Slota-Haaf. Das könnte noch zu Diskussionen führen. Olearius gab Prozessbeobachtern zufolge einen siebenstelligen Betrag pro Monat aus – über Jahre. Vor Gericht hatte er vier als besonders teuer geltende Anwälte an seiner Seite: Peter Gauweiler, Bernd Schünemann, Klaus Landry und Rudolf Hübner.

Für den Steuerzahler wird der Fall Olearius damit noch teurer, als er ohnehin schon ist. Die Staatsanwaltschaft Köln warf Olearius vor, für einen Steuerschaden von 280 Millionen Euro verantwortlich zu sein.“

Nach Aussage eines ZDF-Rechtsexperten sind die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten tatsächlich von der Staatskasse zu erstatten. Sie werden in einem gesonderten Kostenfestsetzungsbeschluss festgestellt. Dabei werden aber offenkundig nicht die Kosten der Wahlverteidiger, sondern nur die der Pflichtverteidigung übernommen.

Volker Votsmeier vom Handelsblatt bestreitet in einem Kommentar, dass der Prozess aus medizinischen Gründen eingestellt werden musste. Der Abbruch würde das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben:

„Der Fall Olearius offenbart einen Makel im deutschen Strafrecht. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass einem Angeklagten nur dann der Prozess gemacht werden darf, wenn er persönlich an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Diese Vorschrift ist im Grundsatz richtig. Nur so kann sich der Beschuldigte in einem öffentlichen Verfahren gegen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wehren. (…) Gerade bei einem Mann wie Olearius freilich sieht die Wirklichkeit im Gericht ganz anders aus. Gleich vier Anwälte vertreten ihn dort. Der Bankier hat in den neun Monaten kaum ein Wort gesagt. Seine Verteidiger dagegen zogen alle Register, um ein Urteil so lang wie möglich hinauszuzögern.

Das könnten sie auch ohne ihn tun. Der Paragraph 230, der in unserer Strafprozessordnung die Anwesenheit des Beklagten festschreibt, stammt aus 1877. Es gab damals kein Internet, auch Videokonferenzen waren unbekannt.

Olearius könnte sich heute problemlos aus Hamburg zuschalten. Das würde ihm auch die vierstündige Anreise ersparen. Fühlt er sich auch dafür zu schwach, könnte Olearius darauf vertrauen, dass ihn seine vier hochbezahlten Anwälte angemessen vertreten und über den Prozessverlauf informieren.

Das wird nicht passieren. Olearius fährt nach Hause. Jahrelange Ermittlungen, mehr als zwei Dutzend Prozesstage, ganze Aktenberge mit Zeugenaussagen und Beweisen – alles vergebens. (…) Ein Blick über die Grenze zeigt, dass es auch anders geht. In Frankreich, Italien, Belgien, Portugal und anderen Ländern ist es selbstverständlich, Verhandlungen ohne den Angeklagten zu führen. Auch in den USA wurden schon Menschen verurteilt, ohne dass sie anwesend waren. Es wird Zeit, die Anwesenheitspflicht in ein Anwesenheitsrecht umzuwandeln.“

Votsmeier kommt zu dem Schluss:

 „Gerade komplexe Wirtschaftsstrafverfahren sind für die Justiz herausfordernd. Ermittlungen dauern oft zehn Jahre und mehr. Weitere Jahre vergehen, bis die Hauptverhandlung eröffnet wird. Olearius‘ potenzielle Taten liegen heute bis zu 17 Jahre zurück.

Sie wiegen deshalb nicht weniger schwer. Es steht zu befürchten, dass weitere Cum-Ex-Verfahren enden wie das von Olearius. Strafrechtlich ist der größte Steuerskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Mit jedem Jahr, das verstreicht, steigt das Risiko, dass die Gerichte selbst in schwerwiegenden Fällen kein Urteil mehr sprechen können.

Eines ist gewiss: Das Ende des Verfahrens gegen Olearius schadet unserem Rechtsstaat. Mancher Außenstehende mag das Treiben beobachten und zu dem Schluss kommen, mit dem sich schon zu viele abgefunden haben: Die Großen lässt man laufen.“

Nicht überraschend zeigte sich auch der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler, einer von Olearius‘ vier hochpreisigen Verteidigern, staatskritisch. Für ihn fehlt der Anklage jede Glaubwürdigkeit, da die Cum-Ex-Geschäfte der staatlichen Landesbank WestLB bis heute nicht strafrechtlich verfolgt würden: „Das Land NRW klagt Taten an, die es selbst begangen hat.“ (zit. nach taz)

Tatsächlich werden Cum-Ex-ähnliche Steuerraub-Modelle nicht nur von großen Banken, sondern auch von Volksbanken und Sparkassen genutzt (vgl. auch den BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022). Der Verein Finanzwende berichtet, dass nach neuen Schätzungen für den Zeitraum von 2000 bis 2020 allein in Deutschland der Schaden aus Cum-Cum-Geschäften bei etwa 28,5 Milliarden Euro liegt.

Nach dem Eindruck von Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker, als engagierte Aufklärerin in Sachen Cum-Ex bekannt geworden, laufen die kriminellen Geschäfte weiter. So hätte sich das System weiter perfektioniert und verschiedene Varianten hervorgebracht. Sie kritisiert das fehlende staatliche Verfolgungsinteresse scharf:

„Bei Cum-Ex ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft inzwischen gegen 1.700 Beschuldigte. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es wären 1.700 Drogendealer gewesen. Da wäre in Köln aber was los gewesen! Das hätte selbstverständlich sofort lückenlos aufgeklärt werden müssen. Aber bei Wirtschaftsstrafsachen passiert das oft nicht. Es wird zwar immer gesagt, vor dem Gesetz sind alle gleich, aber ich habe festgestellt: In Fällen, in denen es schwieriger, komplizierter und langwieriger wird, da kapituliert der Staat häufig.“

Abschließend noch einmal die Junge Welt:

„‚Cum-ex‘-ähnliche Steuerraub-Modelle florieren also weiterhin – und mit dem Wissen um den politischen Unwillen zur Strafverfolgung wohl jetzt erst recht. Schließlich waren die Einstellung des Verfahrens gegen Olearius und die Degradierung Brorhilkers nicht die einzigen erfreulichen Signale, die Steuerdiebe in letzter Zeit vernehmen durften. So wurde Mitte Juni bekannt, dass nach mittlerweile zwölf Jahren Ermittlungsarbeit gerade einmal 17 Verfahren gegen ‚Cum-ex‘-Verbrecher eröffnet wurden. Von den bislang rund 1.700 Verdächtigen muss sich also gerade mal ein Prozent vor Gericht verantworten. Aufstockung der Ermittlungskapazitäten? Pustekuchen.“

 

Quellen:

Klau Ott: „Der Skandal hinterm Skandal“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni

Hermannus Pfeiffer: „Olearius kommt so davon“, taz (Online) vom 24. Juni 2024

https://taz.de/Archiv-Suche/!6016239&s/

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Gericht stellt Verfahren gegen Olearius wegen Krankheit ein“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-gericht-stellt-verfahren-gegen-olearius-wegen-krankheit-ein/100046417.html

Volker Votsmeier: „Das Ende des Prozesses gegen Olearius schadet dem Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 20254

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-das-ende-des-prozesses-gegen-olearius-schadet-dem-rechtsstaat/100046968.html

„Cum-Ex-Deals ohne Konsequenzen?“, Interview mit dem ZDF-Rechtsexperten Christoph Schneider, ZDF-heute live vom 24. Juni 2024

https://www.zdf.de/nachrichten-sendungen/zdfheute-live/cum-ex-prozess-schneider-video-100.html

Sebastian Edinger: „Einladung zum Steuerraub“, junge Welt vom 1. Juli 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/478421.cum-ex-und-cum-cum-einladung-zum-steuerraub.html?

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

Betrugsdelikte im Pflegebereich

Es gibt bereits zahllose Reportagen und Untersuchungen über die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Altenheimen und die schlechten Zustände in der ambulanten Pflege. Und auch über kriminelle Netzwerke im Gesundheitswesen bzw. im Pflegesektor wurde in den letzten Jahren häufig berichtet.

Mitte Mai legte nun die KKH Kaufmännische Krankenkasse – mit 1,6 Millionen Versicherten eine der größten bundesweiten Krankenkassen – einen neuen Report vor, nach dem kriminelle Machenschaften im Gesundheitswesen und speziell im Pflegebereich „als einem Brennpunkt mit hohem Risiko für Bedürftige“ deutlich zunähmen.

In einer Pressemeldung der KKH heißt es:

„Ob Pseudo-Pflegepersonal eingesetzt, Arzneien gepanscht, Versichertenkarten missbraucht, nie erfolgte Behandlungen abgerechnet oder Berufsurkunden gefälscht werden: Betrug und Korruption ziehen sich quer durch alle Leistungsbereiche des Gesundheitssystems – von Arztpraxen und Apotheken über Pflegeeinrichtungen, Kranken- und Sanitätshäuser bis hin zu Praxen für Physio- und Ergotherapie. Allein im zurückliegenden Jahr gingen bundesweit 553 neue Hinweise auf möglichen Betrug bei der KKH-Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation ein. Die meisten davon betreffen die ambulante (179) und die stationäre Pflege (167). Damit gehen rund zwei Drittel aller Neufälle auf das Konto von Pflegeeinrichtungen. Rang drei belegen Krankengymnastik- und Physiotherapiepraxen mit 74 Hinweisen.“

Durch Betrug, Korruption oder Urkundenfälschung entstand der KKH damit allein im vergangenen Jahr ein Schaden von rund 3,5 Millionen Euro. 2022 wurde der Schaden auf mehr als einer Million Euro beziffert, ein Jahr zuvor lag er bei 4,7 Millionen Euro (vgl. Die Welt).

Anfang April 2024 hatte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der KKH bundesweit 1.004 Personen repräsentativ zum Thema befragt. Das Ergebnis:

„Die Mehrheit der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren (58 Prozent) hat laut der forsa-Umfrage selbst schon einmal Erfahrungen mit Betrugsdelikten im Gesundheitswesen gemacht oder kennt Betroffene im eigenen Umfeld. Besonders auffällig auch hier der Pflegebereich. So geben 41 Prozent der Befragten an, dass aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis jemand trotz zuerkanntem Pflegegrad nicht ausreichend versorgt wurde – sei es aufgrund unzureichend ausgebildeter Pflegekräfte oder nicht erbrachter Leistungen.“ (Pressemeldung KKH)

Die Welt zitiert Silke Kühlborn von der Staatsanwaltschaft Leipzig, Leiterin einer Abteilung für Wirtschaftsstrafrecht zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen. „Es ist erschreckend festzustellen, welche kriminelle Energie die Beschuldigten bei ihren Taten teilweise an den Tag legen.“ Andererseits sei auffallend, dass viele Betrugstaten nicht heimlich begangen würden. Mitarbeitende wüssten das in aller Regel und wunderten sich, dass das hingenommen werde.

In der Titelgeschichte der Zeitschrift Focus vom 10. Mai 2024 geht es einmal mehr um die „Tricks der Pflege-Mafia“, um das löchrige Kontrollsystem und das Versagen der Politik. Das deutsche Gesundheitssystem wirke wie ein alles verschlingender Moloch: „Jährlich frisst es 500 Milliarden Euro – mehr als der gesamte Bundeshaushalt mit 477 Milliarden Euro.“ Nach offiziellen Schätzungen würden die Betrüger zwischen 18 und 20 Milliarden Euro aus dem System ziehen. Europäische Untersuchungen sprächen sogar von sechs Prozent der jährlichen Gesundheitsausgaben, die auf den Konten der Betrüger landeten – also fast 30 Milliarden Euro.

Auch der Pflegebereich als drittgrößtes Segment im Gesundheitswesen sei ein „Schlaraffenland für Kriminelle“, wie es ein Vertreter der Staatsanwaltschaft München ausdrückt. Nach Schätzung eines Experten beim LKA Berlin sind von den knapp 700 Pflegediensten in der Hauptstadt etwa 90 dem kriminellen Bereich zuzurechnen. Viele der bis zu 600.000 zumeist osteuropäischen Betreuungskräfte, die rund um die Uhr in deutschen Haushalten arbeiten, so die Zeitschrift, würden um ihre Rechte betrogen (Tricks bei Bezahlung und Arbeitszeit).

Das Versagen der Politik beim Abrechnungsbetrug zeige sich allein darin, dass der Gesetzgeber erst 2016 auf die ausufernden Milliardenschäden reagiert und Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen ins Strafgesetzbuch aufgenommen habe. Ein AOK-Ermittler weist auf die Notwendigkeit einer gesundheitsökonomischen und kriminologischen Forschung zu den vielfältigen Deliktsbereichen hin. Aber das Gesundheitsministerium schiebe die Verantwortung dafür ans Justizministerium ab – und das schiebe sie wieder zurück.

 

Quellen:

„Betrüger ergaunern Millionen aus Gesundheitstopf“, Pressemeldung der KKH Kaufmännische Krankenkasse vom 15. Mai 2024

https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/betruggesundheitswesen

„Krankenkasse KKH meldet Millionenschäden durch Betrüger“, Die Welt (Online) vom 16. Mai 2024

https://www.welt.de/regionales/niedersachsen/article251520800/Krankenkasse-KKH-meldet-Millionenschaeden-durch-Betrueger.html

Christoph Elflein: „Der große Betrug“, Focus vom 10. Mai 2024, Seite 42-52

Großbritannien: Das Scheitern der Privatisierung

„Stinkende Flüsse, stillstehende Züge und unbezahlbare Energiepreise: Angesichts dieser Bilanz hat selbst eine Mehrheit konservativer Wähler im Königreich nach Meinungsumfragen die Nase voll von der Privatisierung einstmals öffentlicher Dienstleistungen. Viele Bürger fordern zumindest eine Teilverstaatlichung der privaten Wasser-, Bahn- und Energieversorgung. ‚Der Fall von Thames Water zeigt, dass die Privatisierung gescheitert ist‘, titelte kürzlich das Magazin ‚The Spectator‘, das intellektuelle Sprachrohr der britischen Konservativen.“ (Handelsblatt vom 10. Mai 2024)

Der ehemals öffentliche britische Wasserversorger Thames Water wurde 1989 unter Premierministerin Thatcher privatisiert und galt als ein Vorzeigeprojekt. Derzeit steht er stellvertretend für das Desaster der Privatisierungspolitik bei öffentlichen Versorgungsunternehmen im Allgemeinen und der Wasserwirtschaft im Besonderen im Königreich. Kritische Stimmen betonen, dass private Eigentümer, wie Pensionsfonds oder Private-Equity-Gesellschaften, enorme Schulden aufgenommen und diese den übernommenen Unternehmen aufgeladen hätten. Deshalb sei zu wenig in die Infrastruktur investiert worden, um zugleich hohe Dividenden an die Aktionäre ausschütten zu können.

Thames Water versorgt rund 16 Millionen Menschen in London und im Südosten Englands mit Wasser, steht aber wegen einer Verschuldung von inzwischen rund 18 Milliarden Pfund vor der Pleite. Die konservative britische Regierung in London will eine Verstaatlichung offensichtlich unbedingt vermeiden, da ein solcher Schritt die Tories vor den vermutlich noch 2024 anstehenden Parlamentswahlen in Erklärungsnöte bringen könnte.

Die Folgen der Wasserprivatisierung in Großbritannien beschreibt ein ARD-Beitrag:

„In England werden Millionen Kubikmeter ungeklärtes Wasser in Flüsse und das Meer geleitet. Jetzt gibt es Widerstand: Vielerorts weigern sich Anwohner, ihre Wasserrechnungen zu bezahlen. (…)

Eigentlich ist Whitstable ein idyllischer Bade- und Hafenort nur anderthalb Stunden östlich von London mit einem wunderbar breiten Strand. Das Ganze hat nur einen Schönheitsfehler, den man allerdings nicht sehen kann: Es stinkt. Denn wann immer es stark geregnet hat, leiten die Wasserfirmen ungefilterte Fäkalien in den Hafen und damit ins Meer. (…)

Allein im Jahr 2023 wurde offiziell 400.000 Mal derart ungereinigtes Abwasser in Flüsse und ins Meer abgelassen. Und das sind nur die Fälle, die registriert wurden. Da das nur in wenigen Fällen in diesem Ausmaß legal ist, müssen die Firmen zwar Strafen zahlen, die allerdings meist so gering sind, dass sie sie locker wegstecken. (…)

Denn seit Margaret Thatcher die englischen Wasserfirmen 1989 privatisiert hat, haben die umgerechnet mehr als 70 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausgezahlt, in Abwasser-Rohre und Infrastruktur allerdings nur marginal investiert. Weshalb englische Flüsse und das Meer mittlerweile im Dreck versinken. Immer häufiger landen Briten, die einfach nur schwimmen waren, im Krankenhaus, oft mit schweren Lebervergiftungen, denn im ungeklärten Abwasser sind jede Menge Bakterien. Im vergangenen Sommer kam es so an vielen Stränden, auch in Whitstable zu für englische Verhältnisse ungewohnt lautem Protest, tausende versammelten sich am Hafen um gegen die chronische Wasserverschmutzung zu protestieren. (…) Eine der Demonstrantinnen ist Elaine Hefemann. Sie sei im vergangenen Jahr derart krank geworden, dass sie über Wochen nicht zur Arbeit konnte. Seitdem boykottierte sie einfach ihre Wasser-Rechnung: ‚Ich habe gezahlt, seit die Wasserversorgung privatisiert wurde, die Firmen haben das alles damals schuldenfrei übernommen, wir haben jahrelang geblecht, damit sie in die Infrastruktur investieren und sie haben einfach nichts gemacht. Warum sollte ich dafür jetzt nochmal zahlen?‘“

Ein Artikel auf den „NachDenkSeiten“ beleuchtet den politischen Hintergrund:

„Die Probleme bei Thames Water kommen jedoch nicht von ungefähr, sondern sind das Ergebnis einer verfehlten und ideologiegetriebenen Privatisierungspolitik. Um das zu verstehen, ist es notwendig, sich die Besonderheiten des Wassermarktes einmal genauer anzuschauen. So ist die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser ein natürliches Monopol. Das liegt daran, dass es – ähnlich wie bei der Versorgung mit Strom und Gas – schlichtweg ökonomisch ineffizient ist, mehrere Leitungsnetze parallel zu betreiben. Das heißt, derjenige, der das Netz besitzt, ist Monopolist. Er kann potenzielle Konkurrenten vom Markt fernhalten und die Preise diktieren. Deswegen wird der Bereich der leitungsgebundenen Versorgung gesondert geregelt. In Deutschland etwa befindet sich die Wasserversorgung in kommunaler Hand. (…)

England und Wales sind jedoch Ende der Achtzigerjahre einen anderen Weg gegangen. Dort hat die damalige Premierministerin Margaret Thatcher eine breite Privatisierungsoffensive angestoßen, bei der mehr als 50 öffentliche Unternehmen in private Hand übergingen, darunter sämtliche Versorger. Das Vorgehen war ideologisch motiviert. Thatcher, die den Ideen des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek anhing, verfolgte die Vision einer ‚property-owning democracy‘. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Unternehmergeist und private Initiative grundsätzlich zu besseren Ergebnissen führen als staatliches Engagement – selbst im Bereich der leitungsgebundenen Monopole.

Bei den britischen Wasserversorgern ist heute jedoch genau das Gegenteil zu beobachten. Denn hier treten inzwischen all die negativen Begleiterscheinungen auf, die Monopolen gemeinhin zugeschrieben werden – hohe Preise, eine schlechte Produktqualität, geringe Investitionen sowie eine Selbstbedienungsmentalität bei Managern und Eigentümern. Ablesen lässt sich dies unter anderem am schlechten Zustand der Infrastruktur, die zusehends auf Verschleiß gefahren wird. Im vergangenen Jahr etwa hat die nationale Umweltbehörde mehr als 300.000 Vorfälle festgestellt, bei denen Millionen Liter Dreckwasser in Flüsse, Seen und an die Küste geleitet wurden. Der Branchenverband Water UK musste sich sogar für die Verschmutzung von Flüssen und Stränden entschuldigen.“

Wie geht es weiter? Sollte Thames Water kein neues Geld von seinen privaten Investoren erhalten, so das Handelsblatt am 10. Mai 2024, erledige sich die Sache von selbst. Die Regierung in London wäre dann gezwungen, den größten britischen Wasserversorger in staatliche Zwangsverwaltung zu nehmen. Weiter schreibt das wirtschaftsliberale Blatt:

„Seit Pandemie, Energiekrise und Kriege die Bürger in den westlichen Industrienationen verunsichert haben, feiert der Staat zwar auch in der Wirtschaftspolitik ein Comeback. Eine Rückverstaatlichung der Versorgungsbetriebe gerade in Großbritannien wäre jedoch eine Wende von historischer Bedeutung.

War es doch die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher, die mit ihrer radikalen Privatisierungspolitik in den 1980er-Jahren ein neoliberales Zeitalter der Marktgläubigkeit rund um den Globus einleitete.“

Quellen:

Anette Dittert: „Widerstand gegen private Wasserkonzerne“, tagesschau.de vom 22. April 2024

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/england-wasser-verschmutzung-100.html

Thorsten Rieke: „Thatchers Erblast – warum Großbritannien viele Privatisierungen gerade zurückdreht“, Handelsblatt (Online) vom 10. Mai 2024

https://www.handelsblatt.com/politik/international/grossbritannien-thatchers-erblast-warum-grossbritannien-viele-privatisierungen-gerade-zurueckdreht/100035651.html

Thomas Trares: „Der Versorger Thames Water – Vorzeigeprojekt der Thatcher-Ära und Sinnbild einer gescheiterten Privatisierung“, NachDenkSeiten vom 9. April 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=113562

Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur Bürgerbewegung

Anne Brorhilker, Kölner Oberstaatsanwältin und erfolgreichste Cum-Ex-Aufklärerin in Deutschland, möchte Ende Mai 2024 den Staatsdienst verlassen, um als Geschäftsführerin bei der „Bürgerbewegung Finanzwende“ aktiv zu werden. In einem Interview mit dem WDR begründete sie am 22. April ihre Entscheidung. Wegen der schwach aufgestellten Justiz sieht sie größte Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität in Deutschland: Der Förderalismus führe etwa zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten, so dass eine Bündelung von Ermittlungen nicht möglich sei. Auch fehle eine europäische Koordination sowie Personal, um sich auf Augenhöhe mit den Kriminellen und ihren Anwälten bewegen zu können. Deshalb verliere die Allgemeinheit das Vertrauen in den Rechtsstaat (z. B. weil sich Verdächtige oft mit Deals aus den Verfahren herauskaufen würden). Es sei ungerecht, wenn Steuerhinterzieher in Deutschland deutlich besser wegkämen als Sozialhilfebetrüger, ganz nach dem Motto: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“.

Die 50 Jahre alte Juristin engagiert sich seit 2013 gegen die Cum-Ex-Geschäfte und erwirkte 2019 das erste rechtskräftige Urteil. Zurzeit ermitteln nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Köln über 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ihrer Abteilung gegen etwa 1.700 Beschuldigte in 135 Verfahrenskomplexen (vgl. Handelsblatt vom 22. April).

 

Auszüge aus Pressekommentaren

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024:

„Der 22. April 2024 war ein schwarzer Tag für den deutschen Rechtsstaat. Die Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker bat um ihre Entlassung. Der Abschied der Oberstaatsanwältin nährt erneut die Zweifel am politischen Willen zur Aufklärung dieses größten deutschen Steuerskandals. (…)

Vertreter aller Parteien beklagen mit scharfen Worten die Mängel der Aufklärung, wenn die politische Verantwortung gerade nicht in den eigenen Reihen liegt. Ihr Gedächtnis ist kurz.

In Nordrhein-Westfalen war es Thomas Kutschaty von der SPD, der sich als NRW-Justizminister bis 2017 praktisch gar nicht für die Arbeit von Brorhilker interessierte. Später nannte Kutschaty die schleppende Aufklärung ‚skandalös‘.

Sein Nachfolger Biesenbach von der CDU sagte einmal, er habe vor seinem Antritt kaum gewusst, was Cum-Ex eigentlich ist. Zwei Jahre gingen ins Land. Immerhin: Als Biesenbach den Milliardenskandal 2019 bemerkte, gewährte er Brorhilker mehr Stellen.

Der amtierende NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) versuchte dann 2023, das Cum-Ex-Rad wieder zurückzudrehen. Er unterstellte Brorhilker organisatorische Mängel, wollte die Hälfte ihrer Ermittlerstellen einem Mann ohne Vorwissen beim Thema Cum-Ex anvertrauen. Nur ein öffentlicher Aufschrei verhinderte das Schlimmste.

Wer in dieser Aufzählung die FDP vermisst, kann sich an Wolfgang Kubicki wenden. Auch der Anwalt und Finanzexperte der Liberalen sah 2013 einen Aufklärungsskandal, als er einen politischen Gegner betraf. Nur Monate später hatte Kubicki einen neuen Mandanten: Hanno Berger, den größten aller deutschen Steuerräuber. Mit einem Mal hielt Kubicki Cum-Ex öffentlich für eine ‚Gesetzeslücke‘. (…)

Warum ist der Staat so zögerlich? Warum wird nicht ein Heer von Steuerfahndern und spezialisierten Staatsanwälten gebildet? Es kann nicht an den Kosten liegen. Diese Art von Beamten finanziert ihre Stellen selbst und zehn andere dazu.

Der Abgang Brorhilkers offenbart auch ein politisches Problem. Deutsche Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Besonders forsche Ermittler können jederzeit aus dem Justizministerium zurückgepfiffen werden. Manche vermuten genau dieses Phänomen beim Cum-Ex-Fall von Bundeskanzler Olaf Scholz rund um die Hamburger Privatbank M.M. Warburg.

Der Europäische Gerichtshof hat seine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland schon 2019 verschriftlicht. Das höchste EU-Gericht urteilte, deutsche Staatsanwaltschaften dürften keine Europäischen Haftbefehle mehr ausstellen. Grund sei, dass es ‚keine hinreichende Gewähr für eine Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive‘ gebe.

Diese Durchlässigkeit der Gewaltenteilung ist untragbar. Schon der Anschein, dass ein Minister Einfluss auf die Arbeit einer Staatsanwaltschaft nimmt, ist schädlich. Vielleicht kann das Dienstende von Anne Brorhilker wenigstens dies bewirken: Das ministerielle Weisungsrecht gehört abgeschafft.“

 

Die Zeit vom 25. April 2024:

„Man kann nur hoffen, dass die beim Thema Cum-Ex oft mindestens tollpatschig agierende Politik ihr gut zuhört. Denn die große Frage hinter ihrem Rückzug lautet: Ist die deutsche Justiz strukturell überhaupt in der Lage, ein Jahrhundert-Wirtschaftsverbrechen wie Cum-Ex aufzuklären, bei dem weit mehr als tausend Täter sich hemmungslos vom Staat viele Milliarden an Steuern zurückerstatten ließen, die sie zuvor nie gezahlt hatten? Anne Brorhilker hält das nicht nur für eine Frage der Gerechtigkeit. Sondern auch für eine Frage des Selbstrespekts einer Demokratie. Für diese Ziele will sie weiter kämpfen.“

 

Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024:

„Anne Brorhilker hat sich für die große Bühne entschieden, um ihren Abgang zu verkünden: Deutschlands wichtigste Cum-ex-Ermittlerin hat dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) ein 17-minütiges Interview gegeben, in dem sie erläutert, warum sie nicht länger als Staatsanwältin wirken mag.

Und in dem sie den Staat für dessen angeblich stümperhaften Umgang mit Finanzkriminalität abwatscht. Entsprechend groß ist die mediale Erregung, seitdem der WDR das Interview am Montagmittag veröffentlicht hat. Bloß: Brorhilkers Kritik ist zwar richtig, ihr Auftritt aber dennoch selbstgerecht. Die Vorzeige-Staatsanwältin aus Köln hätte sich die Watsche besser gespart – und stattdessen über ihre eigenen Fehlentscheidungen räsonieren sollen, die zur schleppenden Aufklärung des Cum-ex-Deals beigetragen haben. Die Republik hätte daraus eine Menge lernen können: für künftige Mega-Verfahren im Wirtschaftsstrafrecht. Dabei hat sich Brorhilker unstreitig bundesverdienstkreuzwürdige Verdienste in der Causa erworben. (…)

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn Brorhilker nicht wiederholt Fehler begangen hätte, wären die Ermittlungen heute womöglich weiter. (…)

Nach immer neuen Aufstockungen durch die nordrhein-westfälische Landespolitik aber verfügt ihre Abteilung inzwischen über 40 Stellen – gemessen an den Maßstäben einer Staatsanwaltschaft ist das luxuriös. Schließlich leiten Staatsanwälte die Ermittlungen bloß, während Polizisten, Spezialisten von Landeskriminalämtern und Steuerfahnder die Detailarbeit erledigen. Zwar sind manche der 40 Stellen bis heute unbesetzt, aber das hat Brorhilker auch selbst zu verantworten.

Ihr Führungsstil, den Insider als beinahe autoritär beschreiben, soll wiederholt erfahrene Staatsanwälte vergrätzt haben, die ihre Ermittlungsautonomie verletzt sahen, ist auf den Fluren der Kölner Staatsanwaltschaft zu hören. Mit der Folge, dass in Brorhilkers Abteilung immer wieder Berufsanfänger angeheuert haben sollen, die sich Top-Anwälten entgegenstellen müssen. Und mit der Konsequenz, dass Brorhilker zur Alleinherrscherin über die Ermittlungen geworden sein soll, die sich dadurch verzögert haben sollen. Mitunter soll auch Brorhilkers Organisation der Ermittlungen chaotisch angemutet haben, berichten Beteiligte. (…)

Zudem fächerte Brorhilker die Ermittlungen immer weiter auf, ließ die Zahl der Verdächtigen auf 1700 anschwellen – selbst für 40 Staatsanwälte eine schier wahnsinnige Aufgabenfülle. Brorhilker selbst gab sich in dem WDR-Interview zwar überzeugt, die Verdächtigen-Zahl müsse derart hoch liegen. Sie sei verpflichtet, Verfahren einzuleiten, wenn es einen Verdacht gebe.

Das stimmt auch. Aber natürlich haben Staatsanwaltschaften einen Spielraum dabei, ob sie einen sogenannten Anfangsverdacht erkennen, der Ermittlungen notwendig macht. Diesen Spielraum hätte Brorhilker besser nutzen müssen.

Auch hätte die Juristin Verfahren gegen Geldzahlungen einstellen müssen. Sie hält das für unfair, weil sie nicht will, dass Steuersünder davonkommen, die den Staat um viele Millionen geprellt haben. Und natürlich müssen die Drahtzieher der Cum-ex-Deals vor Gericht gestellt werden, das ist klar. Aber Einstellungen von Verfahren gegen Mitläufer, von denen manche die Details der hochkomplexen Börsengeschäfte weder verstanden noch gewusst haben dürften, hätten Brorhilker die Chance gegeben, sich auf die Haupttäter zu fokussieren.“

 

Der Stern (Online) vom 23. April 2024:

„Der Wechsel einer der prominentesten Staatsanwältinnen, deren Namen seit Jahren eng mit der Aufklärung des größten Steuerskandals der Republik verbunden ist, direkt an die Spitze einer NGO ist ein spektakulärer Schritt. Dass Ermittler in großen Wirtschaftsfällen im Laufe der Zeit abgezogen werden oder innerhalb des Justizapparats den Posten wechseln, kommt durchaus vor. (…)

Aber dass eine Oberstaatsanwältin nach elf Jahren Ermittlungsarbeit in einem Fall wie Cum Ex, in dem es um den größten Steuerraub in der deutschen Geschichte und um politische Verwicklungen bis hin zum heutigen Bundeskanzler geht, nicht erst um Versetzung bittet, sondern gleich den Staatsdienst verlässt, hat es wohl so noch nicht gegeben. (…)

Auch im Fall Cum Ex, das macht sie in dem WDR-Interview deutlich, vermisst Brorhilker den Rückhalt aus der Politik. Sie habe gemerkt, wie ‚schwer es ist, Unterstützung für die Cum-Ex-Ermittlungen zu bekommen‘, sagt sie – obwohl allen klar sei, dass das Thema angesichts des Milliardenschadens sehr wichtig sei. (…)

Als einen Grund dafür führt sie die Zersplitterung der Zuständigkeiten in der Justiz durch den Föderalismus an – wohl eine Andeutung dafür, dass sich Kollegen in den Justizbehörden anderer Länder eher bemühten, die Ermittlungen ihres Kölner Teams zu bremsen, als diese zu unterstützen. Etwa die in Hamburg, wo die Privatbank Warburg tief in die illegalen Cum-Ex-Deals verstrickt war, sich aber auf das Wohlwollen des Senats unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz verlassen konnte.

Die Konsequenzen der Tatsache, dass Staatsanwaltschaften in Deutschland der Politik unterstellt sind, musste Brorhilker zuletzt aber auch daheim in NRW feststellen. Im September 2023 sorgte Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne) mit einem geplanten Eingriff bei der Kölner Staatsanwaltschaft für Schlagzeilen. Chefermittlerin Brorhilker sollte einen Kollegen an die Seite gestellt bekommen – angeblich, um die Ermittlungen gegen die bundesweit rund 1800 Beschuldigten zu beschleunigen. Doch von vielen wurden Limbachs Pläne als Entmachtung der Cum-Ex-Jägerin und politische Sabotage ihrer Ermittlungen interpretiert – durchaus auch von Brorhilker selbst.

(…)

Schon 2020 war die Ermittlerin einmal von Vorgesetzten zurückgepfiffen worden, als sie im politisch besonders brisanten Fall der Warburg Bank eine Razzia in Hamburg plante.

Was Brorhilkers Kündigung so bemerkenswert macht, ist, dass sie offenbar überzeugt ist, an der Spitze einer NGO jetzt mehr für den Kampf gegen Finanzkriminalität bewirken zu können als in ihrer Ermittlerrolle. (…)

Es könnte sein, dass Deutschlands mächtigste Staatsanwältin außer Dienst bald nicht nur in der Öffentlichkeit bisherigen Kolleginnen und Kollegen auf die Füße tritt, wenn diese aus ihrer Sicht zu rücksichtsvoll mit Finanzkriminellen umgehen – sondern sich auch mit den Bremsern in der Politik anlegt.“

 

Taz (Online) vom 23. April 2024:

„2023 konterte Brorhilker den Versuch des grünen NRW-Justizministers Benjamin Limbach, der ihre Abteilung teilen und eine Anzahl Verfahren in andere Hände legen wollte. Limbachs Motiv bestand wohl auch darin, die Ermittlungen zu beschleunigen. Brorhilker wehrte sich erfolgreich, Limbach ließ seinen Plan fallen und stockte die Stellen der Staatsanwaltschaft auf.

Vielleicht spürte Brorhilker trotzdem einen Mangel an langfristiger Unterstützung. Jetzt wechselt sie die Ebene der Auseinandersetzung. Im Einklang mit Gerhard Schick betonte sie, sich politisch, öffentlich und mit Kampagnen für die Stärkung des Rechtsstaates einsetzen zu wollen. Ein Ziel könnte darin bestehen, dass irgendwann eine Bundesanwaltschaft gegen Finanzkriminalität gegründet wird – ähnlich dem Generalbundesanwalt, der sich unter anderem um Terrorismus kümmert.“

 

Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024:

„Es ist ein vernichtendes Urteil für Justiz und Politik: Die oberste Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur NGO Finanzwende – dort könne sie mehr ausrichten denn als Oberstaatsanwältin. Im Interview mit WDR-Investigativ betont Brorhilker zwar, die Kölner Staatsanwaltschaft sei auf dem richtigen Weg und gut aufgestellt, um die Cum-Ex-Ermittlungen weiter voranzutreiben. Ihr Frust über deren Ablauf blieb dennoch unverhohlen. Brorhilker sei ‚mit Leib und Seele‘ Staatsanwältin gewesen. Sie sei aber nicht damit zufrieden, wie Finanzkriminalität in Deutschland verfolgt wird. ‚Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen. Das ist einfach ungerecht‘, stellte sie fest. Damit kommt Brorhilker dem Vorwurf der Klassenjustiz wohl so nah, wie sie es in ihrer jetzigen Position kann. Auch die Beeinflussung der Politik durch die Finanzbranche sei systemisch, führte sie weiter aus. (…)

Jetzt will die Staatsanwältin die Justiz besser für den Kampf gegen Finanzkriminalität rüsten, die Finanzlobby zurückdrängen und für Gerechtigkeit vor Gericht sorgen. Das scheint sie sich als Geschäftsführung einer zivilgesellschaftlichen Organisation eher zuzutrauen.“

 

Die Welt vom 24. April 2024:

„Dass eine Beamtin nach Jahrzehnten im Staatsdienst ihren Abschied einreicht, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass der Westdeutsche Rundfunk ihr zu diesem Anlass ein ausführliches Interview einräumt, ist ein Signal fast schon zeitgeschichtlicher Relevanz. Anne Brorhilker nutzt diesen Anlass noch einmal für eine Art letzter Abrechnung. (…)

Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen, die meisten von ihnen drehen sich um die Vorkommnisse bei der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. (…)

Die von Brorhilker nun wieder beklagten fehlenden Ressourcen dürften nur eine Ursache dafür sein. In der Justiz hieß es schon vor Monaten, dass es auch interne Gründe dafür gebe, dass es nicht so richtig vorangehe.  Brorhilker werde nicht nur ausgebremst , sondern bremse mit ihrer Detailversessenheit womöglich auch selbst. Überlegungen, wenigstens relevante Fälle zügig abzuarbeiten und womöglich in größerem Stil gegen Geldbußen einzustellen, soll sie wenig zugeneigt gewesen sein.“  

 

Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024:

„Bei der 50-jährigen Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker müssen Ärger und Enttäuschung riesengroß gewesen sein. (…)

Jetzt wechselt sie zur Bürgerbewegung Finanzwende. Ihre Begründung ist eine Ohrfeige für die deutsche Politik: ‚Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird.‘ Bundesregierungen aller Couleur haben Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zu einem Geldumschlagplatz für Kriminelle und Demokratiegegner verkommen lassen. Mafiabanden, Menschenhändler und Drogenkartelle erwirtschaften kriminelle Vermögen, deren Herkunft, Aufbewahrung und Einsatz im internationalen, westlich dominierten Finanzsystem verschleiert werden.  (…)

Es ist vieles falsch gelaufen bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. Das hat auch bei anderen Beamten, die kriminelle Vermögen und verdächtige Zahlungsströme jagen wollten und dabei politisch ausgebremst wurden, zu Frustration und Enttäuschung geführt. Es gibt viele ‚Brorhilkers‘ in Deutschland. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang als Oberstaatsanwältin zeigt: Es braucht mehr Druck auf Politiker. Was zu tun ist, steht in mit Erfahrungen aus dem Ausland angereicherten Berichten der Fachleute. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sie alle vorliegen, seit über zwei Jahren.“

 

Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024:

„Anne Brorhilker hat auch nicht die Seiten gewechselt, sie geht also nicht in eine Steuergroßkanzlei, um dort das große Geld, das x-Fache des Gehalts zu verdienen, das sie als Oberstaatsanwältin verdient hat. Sie wird nun Co-Geschäftsführerin eines Vereins namens ‚Finanzwende‘ (…); sie will ihre bisherige juristische Arbeit in diesem Verein politisch weiterführen. (…)

Der Verein, der gegen solche Räubereien anrennt, versteht sich als zivilgesellschaftliches  und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby; er will das tun, was die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat, aber partout nicht tut: ‚Deutschland wird‘, so heißt es da, ‚beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrolle einnehmen.‘ Anne Brorhilker hat erlebt und erfahren, wie das in der Realität aussieht. (…)

Es geht im Fall Brorhilker  nicht einfach um interne Rangeleien, nicht nur um Animositäten innerhalb und außerhalb von Justiz, Justizverwaltung und der sie dirigierenden Politik. Es geht um viel mehr, nämlich um Grundfragen der Gerechtigkeit. (…)

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verkündet die Wirtschaftswende und versteht darunter unter anderem scharfe Kürzungen des Bürgergelds bei Verfehlungen arbeitsloser Menschen; er fordert ein Moratorium, also einen Stopp bei den Sozialleistungen. Bei den sogenannten kleinen Leuten muss sich da das Gefühl aufdrängen, dass zwar bei ihnen sehr genau hingeschaut und abgerechnet wird – bei den Geldreichen aber nicht. Die Kündigung der Cum-Ex-Ermittlerin legt da den Finger in diese Wunde, in einen bösen Riss zwischen denen da oben und denen da unten. Sie provoziert die Frage, ob es bei uns gerecht zugeht. Es ist dies eine neuralgische Frage für die Demokratie.“

 

Quellen:

Exklusiv-Interview: Cum-Ex Chefermittlerin spricht über ihre Kündigung, WDR vom 22. April 2024

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFiNDIzNDg5LTdjYjUtNGVkZS05ZGQ2LTg0OGI2ODdiMjA4Ng

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker hat gekündigt“, Handelsblatt (Online) vom 22. April 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steueraffaere-cum-ex-chefermittlerin-brorhilker-hat-gekuendigt/100034223.html

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die Zermürbungstaktik der Täter geht auf“,

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Marc Widmann: „Die Anklägerin“, Die Zeit vom 25. April 2024

Lukas Zdrzalek: „Die Cum-ex-Starermittlerin wählt den Heldinnen-Notausgang“, Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024

https://www.wiwo.de/my/unternehmen/dienstleister/anne-brorhilker-die-cum-ex-starermittlerin-waehlt-den-heldinnen-notausgang-/29766800.html

Thomas Steinmann: „So fädelte die Cum-Ex-Jägerin ihren Wechsel zu einer NGO ein“, Stern (Online) vom 23. April 2024 (Der Artikel ist eine Übernahme  des Wirtschaftsmagazins Capital. Stern und Capital gehören zu RTL Deutschland)

https://www.stern.de/wirtschaft/anne-brorhilker–das-macht-die-cum-ex-jaegerin-jetzt-34653970.html

Hannes Koch: „Die Banklägerin“, taz (Online) vom 23. April 2024

https://taz.de/Cum-Ex-Staatsanwaeltin-Brorhilker/!6003474&s

Sarah Yolanda Koss: „Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker: Frau Gleichheit“, Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181701.personalie-cum-ex-ermittlerin-anne-brorhilker-frau-gleichheit.html?

Cornelius Welp: „Abschied und Abrechnung“, Die Welt vom 24. April 2024

Markus Zydra: „Gefahr für die Demokratie“, Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024

Heribert Prantl: „Frustriert“, Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024

Vgl. auch BIG-Artikel vom 19. Juli 2022: „Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und ‚Sozialbetrug‘ im Vergleich“

https://big.businesscrime.de/artikel/systematische-ungerechtigkeit-steuerhinterziehung-und-sozialbetrug-im-vergleich/

 

Anstieg der illegalen Gewinne aus Zwangsarbeit

Nach einer im März dieses Jahres herausgegebenen Studie der International Labour Organization (ILO) erzielt die Privatwirtschaft durch Zwangsarbeit jährlich 236 Milliarden US-Dollar an illegalen Gewinnen. Dies sei ein dramatischer Anstieg um 37 Prozent seit dem Jahr 2014 – „angetrieben sowohl durch eine wachsende Zahl von Menschen, die zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, als auch durch höhere Gewinne erzielt durch die Ausbeutung der Opfer“. (Pressemitteilung vom 19. März)

Wie es in der genannten Pressemitteilung weiter heißt, sind die jährlichen illegalen Profite pro Opfer in Europa und Zentralasien am höchsten, gefolgt von den Arabischen Staaten, Nord- und Südamerika, Afrika sowie Asien und dem Pazifik.

Zwangsarbeit ist in fast allen Bereichen der Wirtschaft zu finden. Mehr als zwei Drittel der gesamten illegalen Gewinne entfallen auf die kommerzielle sexuelle Zwangsausbeutung, obwohl sie nur 27 Prozent der Gesamtzahl der Opfer von privater Zwangsarbeit ausmacht. Über die Dunkelziffer ist naturgemäß nichts bekannt:

„Nach der kommerziellen sexuellen Zwangsausbeutung ist die Industrie mit 35 Milliarden US-Dollar der Sektor mit den höchsten jährlichen illegalen Gewinnen aus Zwangsarbeit, gefolgt vom Dienstleistungssektor (20,8 Milliarden US-Dollar), Landwirtschaft (5,0 Milliarden US-Dollar) und Hausarbeit (2,6 Milliarden US-Dollar). Bei diesen illegalen Gewinnen handelt es sich um die Löhne, die rechtmäßig in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören, stattdessen aber bei den Ausbeutern verbleiben.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Als Zwangsarbeit definiert die ILO „jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe verlangt wird und für die sich diese Person nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ (junge Welt). Im Jahr 2021 waren danach an  jedem Tag 27,6 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen.

Die ILO-Studie stellt flüchtende Menschen als besonders gefährdet heraus, da sie häufig kommerziellen Fluchthelfern ausgeliefert sind und ihre Schulden durch Zwangsarbeit zurückzahlen müssen (vgl. Studie, Seite 19ff.).

Die junge Welt ergänzt: 

„Schuldenknechtschaft kann (..) praktisch überall dort entstehen, wo der Ausbeuter finanziell in Vorleistung tritt. Sei es, dass er die Reisekosten und die Gebühren für das Visum bezahlt oder korrupte Beamte bestochen hat. Oft müssen Arbeiter auch für ihre Ausrüstung oder Arbeitskleidung selbst aufkommen und nehmen dafür einen Kredit auf. Ist die Arbeit informell, was laut ILO beispielsweise auf 80 Prozent der Hausangestellten zutrifft, sind zu geringe Löhne und unbezahlte Überstunden üblich. ‚Das Fehlen formeller Verträge bedeutet weniger Lohntransparenz und eine größere Anfälligkeit für Lohnmissbrauch‘, stellen die Studienmacher fest. Ähnliches gelte auch für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.“

Die Studie äußert sich auch zu notwendigen Gegenmaßnahmen:

„In dem Bericht wird die dringende Notwendigkeit betont, in Vollstreckungsmaßnahmen zu investieren, um illegale Gewinnströme einzudämmen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Er empfiehlt die Stärkung des Rechtsrahmens, die Schulung von Vollzugsbeamten, die Ausweitung der Arbeitsaufsicht auf Hochrisikosektoren und eine bessere Koordinierung zwischen arbeitsrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgung.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Quellen:

„Profits and Poverty. The economics of forced labour“, hrsg. von International Labour Office (ILO), März 2024

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—ipec/documents/publication/wcms_918034.pdf

„Jährliche Gewinne aus Zwangsarbeit steigen um 236 Milliarden US-Dollar nach Daten der ILO“, Pressemitteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 19. März 2024

https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_920156/lang–de/index.htm

Gerrit Hoekman. „Das Joch der Jobs“, junge Welt vom 21. März 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/471841.mehrwertproduktion-das-joch-der-jobs.html?

 

Staatlicher Handel mit Einbürgerungen

Im Herbst 2023 legte die Politikwissenschaftlerin Kristin Surak von der London School of Economics eine umfangreiche Studie über das staatliche Geschäft mit Einbürgerungen bzw. den sogenannten Goldenen Pässen vor (engl. Citizenship by investment, CBI). In einer Buchrezension schreibt dazu Claus Leggewie:

„Surak ist nicht die Erste, die sich mit gekauften Pässen befasst, aber sie hat das Phänomen empirisch untersucht, die Motive der Antragsteller wie der Aufnahmestaaten sortiert und die sukzessive Normalisierung des Bürgerschaft-Marktes belegt. Man wird fast erschlagen von ihrer Detailkenntnis, die jedoch in eine gut lesbare Erzählung eingebaut ist. Ihr Blickwinkel ist dabei ökonomisch: Was bedeutet es, wenn Staaten ihre Souveränität vermarkten und finanzialisieren und so durch ‚citizenship by investment‘ im Aufenthaltsrecht verankern, was in der globalen Wirtschaft ohnehin gang und gäbe ist?“

Im Folgenden einige Feststellungen Suraks aus ihrem Buch:

– In mindestens 22 Länder der Erde gab es im Jahr 2022 eine gesetzliche Grundlage für die Einbürgerung von Personen, die einen bestimmten Betrag in dem jeweiligen Land investieren.

– Bisher waren CBI-Programme vor allem in kleinen Inselstaaten üblich, für die Finanzspritzen aus dem Ausland relevant waren. Als Extremfall nennt Surak den Kleinstaat Nauru, der heute die Hälfte seiner Staatseinnahmen mittels Aufnahme von Asylbewerbern erwirtschaftet – welche von Australien zurückgewiesen wurden. Mittlerweile beteiligen sich aber auch Länder wie vor allem Russland und Ägypten am Handel mit ihrer Staatsbürgerschaft.

– Jedes Jahr werden allerdings nur etwa 50.000 Menschen per CBI-Programm eingebürgert. Bei den Käufern handelt es sich vor allem um Neureiche aus Ländern außerhalb des Globalen Nordens (China, Südostasien, postsowjetische Staaten sowie Naher Osten).

„Zwar bewerben sich auch einige Menschen aus wohlhabenden Demokratien im Globalen Norden, darunter immer mehr US-Bürgerinnen und -Bürger. Wirklich befeuert wird die Nachfrage jedoch von einer kleinen Gruppe wohlhabender Menschen aus Ländern mit als ‚schlecht‘ angesehenen Pässen, beispielsweise aus autoritär regierten Staaten. Es sind nicht-westliche Gewinner der Globalisierung (…) Für die Regierungen, die goldene Pässe ausgeben, sind diese globalen Eliten das Zielpublikum für gekaufte Staatsbürgerschaften.“ (Surak)

– Für Surak ist eine globalisierte Welt nicht verknüpft mit dem Entstehen einer „Weltbürgerschaft“. „Stattdessen“, so die Autorin, „spaltet die Nationalität. Sie beeinflusst, wohin wir reisen können, wie wir behandelt werden und welche Rechte wir haben – nicht nur zu Hause, sondern überall auf der Welt. Für einige bietet sie zahlreiche Chancen und Privilegien, für andere bringt sie Sanktionen und Einschränkungen mit sich.“

Auch Claus Leggewie bezieht sich auf diesen Gedanken in seiner Rezension:

„Eine Überwindung nationaler Grenzen in Richtung eines transnationalen Weltbürgertums kann man sich von dieser Flexibilisierung der Staatsbürgerschaft nicht erhoffen. Sie verwischt eher die alten Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Es ist erstaunlich, wie die lotterieartige Banalisierung von Staatsangehörigkeit mit dem Verdacht kontrastiert, der doppelten Staatsangehörigkeiten eingebürgerter Migranten oft noch entgegengebracht wird. Ihnen verlangt man mehr Loyalität und affektive Zuwendung zur neuen Heimat ab, als angestammte Bürger jemals aufbringen müssen. Die oligarchische Distribution erblicher Aufenthaltstitel beseitigt die generelle Wirksamkeit nationalstaatlicher Grenzen und Gesetze natürlich nicht, sie verschärft vielmehr die inner- und zwischengesellschaftliche Ungleichheit.“

Quellen:

Kristin Surak: „Der globale Reisepass ist die neueste Boom-Branche für Superreiche“, in: Jacobin, 7. Oktober 2023, Übersetzung von Tim Steins. Auszug aus Kristin Suraks Buch: The Golden Passport:

Global Mobility for Millionaires. Harvard University Press, Cambridge, 2023

https://jacobin.de/artikel/pass-passport-staatsbuergerschaft-reisen-freiheit-handel-superreiche

Klaus Leggewie: „Käufliche Pässe: Wie Superreiche neue Staatsangehörigkeiten erwerben“, FAZ (Online) vom 26. März 2014

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/kristin-suraks-buch-the-golden-passport-19541117.html

 

Benko als Unternehmer insolvent

 Nach dem Bankrott eines Großteils seiner Signa-Gruppe hat das Landesgericht Innsbruck nun das Konkursverfahren über das Vermögen des Unternehmers René Benko eröffnet. Denn Presseberichten zufolge stellte Benko zuvor am 7. März einen Antrag auf Privatinsolvenz als Einzelunternehmer, bei der er – wie bei einer reinen Privatinsolvenz – ebenfalls mit seinem ganzen Vermögen haftet.

Verarmen wird der Gründer des Firmenimperiums aber nicht. Kurz bevor die Signa Holding Ende November 2023 Insolvenz anmeldete, waren 315 Millionen Euro von dem Konzern an Familien-Stiftungen geflossen, die Benko gegründet hatte. Dazu gehören die Familie-Benko-Stiftung, die Laura-Stiftung (nach seiner Tochter benannt) und die Ingbe-Stiftung (Benkos Mutter als Namensträgerin), die in der Steueroase Liechtenstein sitzt. „Privatstiftungen in dem Fürstentum“, schreibt die Süddeutsche Zeitung am 18. Januar dieses Jahres, „sind bekanntlich besonders diskrete Konstrukte und für ausländische Steuerbehörden kaum zu knacken.“ Es wird davon ausgegangen, dass die gigantische Summe weder zur Insolvenzmasse des Signa-Konzerns noch des Unternehmers Benko gehört, also für die Gläubiger nicht einzutreiben ist. Gewinne der Signa-Unternehmen flossen zwar in die Stiftungen, deren „Begünstigte“ sind aber geheim. Vermutlich gehört René Benko selbst nicht darunter.

Auch verschiedene Luxusgüter, die Benkos glamorösen Lebensstil prägen, stehen nicht in seinem Eigentum, „sondern von Gesellschaften, die im Umfeld von Benko-Privatstiftungen und von Signa-Firmen angesiedelt sind“. (Süddeutsche Zeitung vom 8. März 2024) Seine opulente Villa in Innsbruck gehört ihm ebenso wenig wie sein großes Chalet in einem Nobelskiort am Arlberg oder sein Privatjet. Auf diese Vermögenswerte der Stiftungen, wie auch auf wertvolle Kunstwerke von Pablo Picasso und Jean-Michel Basquiat, kann nicht direkt zugegriffen werden, um Benkos Schulden zu bezahlen.

Benko besetzte zwar zuletzt keine offizielle Management-Position bei Signa, besaß aber Beraterverträge mit einzelnen Gesellschaften der Gruppe. Der Salzburger Wirtschafts-Professor Leonhard Dobusch verweist deshalb auf die Millionen Euro an Beraterhonoraren, die Benko für die Beratung seiner eigenen, formal unabhängigen Signa eingestrichen habe. Es solle auch geschaut werde, was daraus geworden sei. (taz)

Langweilig wird die „Causa Benko“, die sich noch über Jahre hinziehen wird, jedenfalls nicht:

„‚Es ist das das bisher spannendste Verfahren im gesamten Insolvenzkomplex um Signa‘, meint Gerhard Weinhofer von der Gläubigerschutzorganisation Creditreform. ‚Denn jetzt muss René Benko Farbe bekennen und beispielsweise konkret darlegen, welche Rolle die Stiftungen spielen, welche Zwecke sie konkret haben und wo die Gelder, die er als Berater kassiert hat, hingeflossen sind‘.“ (Handelsblatt)

 

Quellen:

Patrick Guyton: „Sozialwohnung droht nicht“, taz (Online) vom 8. März 2024
https://taz.de/Was-Rene-Benkos-Insolvenz-bedeutet/!5997034&s/

Florian Kolf/René Bender: „Landesgericht Innsbruck eröffnet Konkursverfahren gegen René Benko“, Handelsblatt (Online) vom 7. März 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/signa-gruender-landesgericht-innsbruck-eroeffnet-konkursverfahren-gegen-rene-benko/100021721.html 

Klaus Ott/Uwe Ritzer: „Im Namen der Familie“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Januar 2024

Alexander Reich: „Armer Mann des Tages: René Benko“, junge Welt (Online) vom 9. März 2024
https://www.jungewelt.de/artikel/470998.armer-mann-des-tages-rené-benko.html 

„Signa-Gründer im Insolvenzverfahren: Benko-Vermögen im Fokus“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 8. März 2024
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/immobilien-signa-gruender-im-insolvenzverfahren-benko-vermoegen-im-fokus-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240308-99-267534 

Cum-Ex: Ehemaliger Topanwalt der Großkanzlei Freshfields muss in den Knast

Im Steuerskandal um Cum-Ex-Aktiengeschäfte ist das nächste Urteil gefällt worden. Am 30. Januar 2024 verurteilte das Frankfurter Landgericht den Ex-Spitzenjuristen der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, Ulf Johannemann, zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Beihilfe zur schweren Steuerhinterziehung. Damit wurde zum ersten Mal ein Steueranwalt einer Großkanzlei für seine Beratertätigkeit im Cum-Ex-Skandal strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Der Jurist hatte der Maple Bank, die im Jahr 2016 insolvent wurde, mittels Gefälligkeitsgutachten ermöglicht, die Finanzbehörden über Jahre hinweg zu täuschen. In der Folge entstand ein Steuerschaden von über 380 Millionen Euro. Ein ehemaliger Maple-Banker wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Zum Prozessauftakt hatte dieser ein Geständnis abgelegt. Johannemann selbst hatte bis kurz vor Ende des Prozesses geschwiegen, bis der Vorsitzende Richter deutlich machte, dass das Gericht von einer hohen Verurteilungswahrscheinlichkeit ausgehe. Dann erst zeigte sich der Ex-Starjurist geständig.

Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende kommentiert:

„Die Härte des Gesetzes trifft einen Top-Juristen und Spitzenverdiener, der sich wohl nie hätte vorstellen können, dass er einmal neben Drogendealern und Ladendieben im Gefängnis landet. Ich bin froh, dass damit diejenigen Juristen, die heute an den nächsten Steuertricks arbeiten, die klare Botschaft bekommen, dass dieser Staat nicht wehrlos ist und dass man im Gefängnis landen kann, wenn man hilft, den Staat und damit uns alle auszurauben.
Das Urteil hat aber auch fachlich Signalwirkung: Johannemann ist der erste anwaltliche Berater, der wegen CumEx verurteilt wird. Damit ist klar: Nicht nur diejenigen sind strafrechtlich verantwortlich, die selbst die Finanztransaktionen getätigt haben, sondern auch diejenigen, die an den betrügerischen Geschäften als juristische Berater mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass es gelingt, auf Basis dieser Verurteilung weitere Juristen zur Verantwortung zu ziehen, die den CumEx-Geschäften ihre für Durchführung und Vermarktung so wichtige Scheinlegalität gaben.“

Es bleibt allerdings daran zu erinnern, dass diese Strategie über viele Jahre funktioniert hat. Der Bundesgerichtshof entschied schließlich erst im Jahr 2021, dass Cum-Ex-Deals als Steuerhinterziehung und damit als kriminell zu bewerten sind. Bis dahin war auch im Fachdiskurs lange unklar, ob die Geschäfte illegal waren.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt zur Kanzlei Freshfields:

„Freshfields gehört zu den internationalen Topkanzleien, deren tausende Anwälte Großkonzerne und Regierungen beraten. Schlagzeilen schrieb die law firm unter anderem als Verteidigerin von Volkswagen in der Dieselaffäre und als fragwürdige Aufklärerin im DFB-Skandal um die Vergabe der Fußball-WM 2006. Auf der Homepage verspricht die Kanzlei, bei ihrer Arbeit ‚die höchsten ethischen Standards einzuhalten‘.“

Quellen:

„Dreieinhalb Jahre Haft für früheren Topjuristen“, FAZ (Online) vom 30. Januar 2024
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/cum-ex-berater-ulf-johannemann-topjurist-zu-haftstrafe-verurteilt-19484420.html 

Pressemitteilung von Finanzwende e.V. vom 30. Januar 2024: „Statement: Urteil gegen Ulf Johannemann in Sachen CumEx“
https://www.finanzwende.de/presse/statement-urteil-gegen-ulf-johannemann-in-sachen-cumex 

Gianna Niewel/Meike Schreiber: „Sie waren die zentrale Figur“, Süddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024

 

Ex-Chefjurist von BAYER und die Verbindungen zum Rechtsextremismus

Die Correctiv-Recherche zu dem exklusiven Potsdamer Treffen Rechtsextremer Ende November schlug hohe mediale Wellen und löste Demonstrationen in vielen deutschen Städten aus. Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreich, Martin Sellner, soll dabei über seinen Masterplan zur massenhaften Abschiebung von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland referiert haben. Er lese dessen Buch zum Thema „Remigration“ gerade „mit großer Freude“, ließ der prominente AfD-Politiker Roland Hartwig bei der Versammlung wissen. Der Verein „Coordination gegen Bayer-Gefahren“ (CBG) hat Hartwig deshalb genauer unter die Lupe genommen.

Über den beruflichen Hintergrund Hartwigs berichtet detailliert Jan Pehrke, Vorstandsmitglied von CBG, in einer Pressemitteilung des Vereins vom 19. Januar. Danach begann Hartwigs im Jahr 1984 seine Laufbahn für BAYER zunächst in der Rechtsabteilung, ab 1997 leitete er die Patent-Abteilung und stieg 1999 zum Chef-Juristen des Konzerns auf. Damit, so Pehrke, sei Hartwig auch für den „menschenverachtenden juristischen Umgang mit Millionen Opfern der BAYER-Produkte im Rahmen der LIPOBAY-, DUOGYNON- und unzähliger anderer Skandale“ mitverantwortlich.

Wegen Kartell-Absprachen und Medikamenten-Nebenwirkungen wurde der Pharma-Konzern von US-Gerichten schon vor der Glyphosat-Ära von US-Gerichten zu Milliarden-Strafen verurteilt. Von diesen Erfahrungen hätte Hartwig dann später auf AfD-Veranstaltungen unter dem Titel ‚Deutsche Unternehmen im Fadenkreuz der US-Justiz“ berichtet.

„Spätestens seit 2013 sind die AfD-Mitgliedschaft und die rechtsradikalen Ambitionen des BAYER-Topjuristen in der breiten Öffentlichkeit bekannt. Mit Übernahme eines AfD-Mandats im Bundestag ging Roland Hartwig bei BAYER mit guten Altersbezügen in den Ruhestand und widmete sich fortan gänzlich seiner rechtsradikalen Laufbahn. U. a. wurde er persönlicher Referent der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel und damit dem Recherche-Netzwerk Correctiv zufolge so etwas wie der ‚inoffizielle Generalsekretär‘ der AfD.“

Als Beleg für dessen Verbindungen zu rechtsradikalen Netzwerken führt Pehrke u. a. eine Rede beim „Staatspolitischen Kongress“ im Jahr 2019 an, „einer Veranstaltung des von Götz Kubitscheck und Karlheinz Weißmann gegründeten ‚Instituts für Staatspolitik‘, das der Verfassungsschutz als ‚gesichert rechtsextremistisch‘ einstuft“.

Pehrkes Fazit:

„Es ist mehr als skandalös, dass ein Konzern, der dem Hitler-Faschismus mit Geld und persönlicher Unterstützung den Weg bereitet hat und dessen Führungskräfte 1949 als Nazi-Verbrecher verurteilt wurden, bis heute ungebrochen Rechtsradikalen, Nazis und Faschisten eine sichere Heimstätte, gute finanzielle Einkommen und sichere Karrieren bis in die Unternehmensspitze hinein gewährt.“

Axel Köhler-Schnura, Gründer und Ehrenvorstand der CGB, wird in der Pressemitteilung wie folgt zitiert:

„Faschismus ist ein politisches Konzept der Konzerne. Das wird nicht nur, aber eben immer wieder bei Bayer deutlich. In Person des Bayer-Chefs und Hitler-Förderers Carl Duisberg in den 1920er und 1930er Jahren bis zum Bayer-Chefjuristen Roland Hartwig heute.“

Quelle:

„Die BAYER-Karriere eines AfD-Nazi-Geheimbündlers“, Presse-Information Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V. vom 18. Januar 2024

https://cbgnetwork.org/8266.html

vgl. auch:

Jan Pehrke: „Roland Hartwig, AfD-Politiker und Teilnehmer des Potsdamer Treffens, bekleidete jahrzehntelang hohe Posten beim Bayer-Konzern“, junge Welt (Online) vom 24. Januar 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/467879.kapital-und-faschismus-nazis-in-nadelstreifen.htmlin Nadelstreifen.html

Wirtschaft bekämpft Lieferkettengesetz

Der UN-Menschenrechtsrat verabschiedete 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Völkerrechtlich unverbindlich mussten sie erst durch die einzelnen Staaten rechtlich verankert werden, um tatsächlich wirksam werden zu können. Die deutsche Bundesregierung hatte damit keine Eile und setzte lange Zeit auf das freiwillige Engagement von Unternehmen, Menschenrechtsverletzungen (wie Kinder- oder Zwangsarbeit) entlang ihrer weltweiten Produktionsketten einzudämmen – offensichtlich ohne erkennbaren Erfolg. Erst seit Anfang 2023 gibt es daher ein „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“ (LkSG).

Vor allem die Initiative Lieferkettengesetz kritisierte das LkSG: Weil es unter anderem die Unternehmen nicht verpflichtet, existenzsichernde Löhne in den Lieferketten zu garantieren; weil Betroffenen verwehrt wurde, Schadenersatzansprüche rechtlich durchzusetzen; weil das Gesetz bis Ende 2023 nur Firmen mit mindestens 3.000 Beschäftigten betraf (ab 2024: mindestens 1.000 Beschäftigten).

Am 20. Dezember 2023 zog die für die Umsetzung zuständige Behörde (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle; BAFA) Bilanz. Die junge Welt schreibt in ihrer Ausgabe vom 28. Dezember, dass es laut BAFA seit Inkrafttreten des Gesetzes 486 Kontrollen bei Unternehmen gegeben habe und 38 Beschwerden eingegangen seien. Die Behörde habe aber nach eigenen Angaben keine Sanktionen wegen Verstößen verhängen müssen. So trage das Gesetz nach Auffassung der BAFA zur Verbesserung des Menschenrechtsschutzes in den globalen Lieferketten bei, ohne die Unternehmen „zu überfordern“.

Dass die deutsche Wirtschaft die gesetzlichen Regelungen nicht zu fürchten haben, unterstreicht folgendes Zitat aus der jungen Welt:

„Wie jW aus BAFA-Kreisen erfuhr, wurde ein beträchtlicher Anteil der Angestellten, die für die Umsetzung des Lieferkettengesetzes eingestellt wurden, für andere Aufgaben abgezogen. Und das von Anfang an. Im Dezember 2022 wurde in Borna bei Leipzig eine Außenstelle der BAFA zur Umsetzung des LkSG eröffnet und 100 Stellen bewilligt. Im November 2023 waren demnach bereits 25 Prozent der Angestellten in Borna mit anderen Aufgaben wie Förderprogrammen oder Strukturentwicklungsprogrammen befasst, im Dezember sollen es bereits 40 Prozent gewesen sein.“ Unter anderem, weil das Bundeswirtschaftsministerium diesen anderen Aufgaben eine höhere Priorität zugeordnet habe.

Schärfere Regelungen als sie das nationale Gesetz vorsehen, wurden auf EU-Ebene Mitte Dezember des vergangenen Jahres beschlossen. Unterhändler des Europäischen Parlaments und des Ministerrats einigten sich auf eine Richtlinie, der noch von den Gremien formal zugestimmt werden muss und die wohl erst ab 2029 gelten wird. Sie betrifft im Vergleich zum deutschen Gesetz mehr Unternehmen, denn sie gilt bereits für Firmen mit über 500 Angestellten und mindestens 150 Millionen Euro Umsatz. Unternehmen sollen zudem für Menschenrechtsverstöße in Lieferketten vor europäischen Gerichten zur Rechenschaft gezogen werden können. Banken, Versicherungen und Investoren sind von den Vorschriften jedoch nicht betroffen.

„Aus Sicht von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie FIAN, Südwind oder dem Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre wird dem Gesetz damit die Kraft genommen. In einer gemeinsamen Pressemitteilung wiesen sie am Mittwoch auf den Stellenwert hin, den gerade Finanzinstitute im Ausbeutungsprozess haben. So seien in Kolumbien für die Cerrejón-Steinkohlemine Tausende Indigene gewaltsam von ihrem angestammten Land vertrieben worden. Die Antapaccay-Kupfermine in Peru setze mehr als 50.000 Menschen hohen Belastungen durch Schwermetalle aus. ‚Finanziell möglich gemacht werden diese Projekte von Banken und Investoren‘.“ (junge Welt vom 15. Dezember 2023)

Dennoch geht die deutsche Wirtschaft auf die Barrikaden. Nach Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), ist die europäische Richtlinie der „nächste Sargnagel für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie“. Bereits bei der Umsetzung des deutschen Lieferkettengesetzes hätten sich viele negative und unbeabsichtigte Auswirkungen und hohe bürokratische Belastungen gezeigt, ergänzte Tanja Gönner, Hauptgeschäftsführerin beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Viele Großunternehmen würden die Bürokratielast einfach an ihre kleineren Zulieferer weiterreichen. Viele kleine und mittelständische Unternehmen klagten so über eine Überforderung, müssten Verwaltungsstellen schaffen und könnten nicht „in Wachstumsfelder investieren“. Auch Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands Die Familienunternehmer, beklagt ein bevorstehendes Bürokratiemonster: „In unseren vernetzten Volkswirtschaften werden nahezu alle Mittelständler von ihren großen Kunden über die Verträge zur Übernahme der Richtlinie gezwungen und so mit unfassbarer Bürokratie überzogen werden.“ Die Ankündigung des Bürokratieabbaus von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sei offensichtlich „völlig wertlos“. (Alle Zitate: Handelsblatt vom 14. Dezember 2023)

Der Ökonom Sebastian Thieme stellt aus wirtschaftsethischer Sicht die grundsätzliche Frage:

„Wie lässt sich sicherstellen, dass Unternehmen sowohl im Inland als auch im Ausland unter den Bedingungen eines unerbittlichen globalen und auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Marktwettbewerbs ethische, menschenrechtliche, soziale und umweltpolitische Standards einhalten? Ist das überhaupt möglich?“

Seine Antwort lautet:

„Wer den Konflikt nicht durch eine wirtschaftsliberale Anpassung zu Gunsten des Primats der Ökonomik und unter Verlust der ethischen Substanz entscheiden will, wird unter den Bedingungen eines auf Profitmaximierung ausgerichteten globalen Marktwettbewerbs die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verändern müssen. Damit wäre eine Veränderung gemeint, die das mit diesem Marktwettbewerb verbundene System zur Disposition stellt und in ein humanes Gesellschaftskonzept zu transformieren versucht. Die Humanisierung des Wirtschaftens ist dann gleichbedeutend mit der Abkehr vom dominanten System eines globalen und unerbittlichen Marktwettbewerbs.“

Quellen:

Susanne Knütter: „Ein Jahr Lieferkettengesetz“, junge Welt (Online) vom 28. Dezember 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/466084.deutsches-lieferkettengesetz-ein-jahr-lieferkettengesetz.html?

dies.: „Rahmen für Ausbeutung“, junge Welt (Online) vom 15. Dezember 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/465307.lieferketten-rahmen-für-ausbeutung.html?

Björn Finke: „EU-Konzerne sollen für Verbrechen der Zulieferer haften”, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 14. Dezember 2023

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/eu-lieferkette-parlament-safe-harbour-haftung-menschenrechte-1.6319678?reduced=true

Moritz Koch/Carsten Volkery/Julian Olk: „EU-Lieferkettengesetz löst Proteststurm der Wirtschaft aus“, Handelsblatt (Online) vom 14. Dezember 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/europaeische-union-eu-lieferkettengesetz-loest-proteststurm-der-wirtschaft-aus/100003381.html

Sebastian Thieme: „Ethisches Verhalten im globalen Wettbewerb?“, in: maldekstra #18, März 2023, Seite 10f.

https://www.rosalux.de/publikation/id/50107/lieferketten-und-welt-kapitalismus

 

 

Knast für Krisengewinnerin

Während der Coronapandemie hoben Pharmakonzerne die Preise für ihre Impfstoffe zum Teil drastisch an und strichen enorme Gewinne ein. Hersteller und Labore wiederum profitierten jahrelang davon, dass Ärztevertreter und Krankenkassen viel zu hohe Preise für Coronatests vereinbarten. Milliardensummen wurden so verschwendet. Aber auch Politiker sowie Personen aus deren Umfeld kassierten – letztlich auf Kosten der Steuerzahler – kräftig ab, zum Beispiel durch Maskendeals über CSU-Kanäle. So verdiente auch die Unternehmerin Andrea Tandler, Tochter des früheren CSU-Politikers Gerold Tandler, mit Maskengeschäften unfassbar viel Geld – 48,4 Millionen Euro an Vermittlungsprovisionen. Am 15. Dezember 2023 verurteilte das Landgericht München I sie nun wegen Steuerhinterziehung zu vier Jahren und fünf Monaten Haft.

Die junge Welt schreibt dazu:

„Gleich zu Beginn der Pandemie, im März 2020, hatte Tandler, Geschäftsführerin einer Unternehmensberatung, ihre guten Kontakte zu Politik und Verwaltung genutzt, um einen Deal mit der Schweizer Firma Emix Trading einzufädeln. Als Türöffnerin zur Politik soll ihr dabei die Strauß-Tochter und CSU-Europaabgeordnete Monika Hohlmeier geholfen haben, die selbst angeblich nicht finanziell profitierte. Emix verkaufte Masken und Schutzkleidung an diverse Ministerien im Wert von mehr als 700 Millionen Euro, teils zu horrenden Preisen, zum Beispiel 8,90 Euro für eine FFP2-Maske. Tandler, ihr Partner Darius N. sowie eine dritte Person kassierten dafür 48 Millionen Euro Provision.
Verurteilt wurden Tandler und Darius N. allerdings nicht wegen dieser Deals, da diese zwar moralisch fragwürdig, aber juristisch nicht angreifbar waren. Vor Gericht landeten die beiden, weil sie den Hals nicht vollkriegen konnten und die Provisionen nicht korrekt versteuerten. Das Duo gründete ein Unternehmen, um die Millionenprovisionen nachträglich als GmbH zu versteuern. Diese meldeten sie in der Steueroase Grünwald an, obwohl sich der Firmensitz faktisch in München befand. Staatsanwaltschaft und Gericht werteten das als Gewerbesteuerhinterziehung. Den insgesamt entstandenen wirtschaftlichen Schaden bezifferte die Staatsanwaltschaft zum Ende des Verfahrens auf insgesamt 7,8 Millionen Euro.“

Das Neue Deutschland meint ergänzend:

„In der Corona-Maskenaffäre haben die Angeklagte und ihr Geschäftspartner zu Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 von der Bundesregierung sowie aus Bayern und Nordrhein-Westfalen Lieferverträge über 200 Millionen Masken mit Provisionszahlungen von mehr als 48 Millionen Euro erhalten und diese dem Finanzamt verschwiegen. Mit 9,90 Euro waren es die teuersten Masken, die in der Coronakrise von den Regierungen gekauft wurden – von einer Schweizer Klitsche, die bis dahin völlig unbekannt war und beim Bund wundersamerweise sämtliche anderen Bieter ausstechen konnte. (…)
Verurteilt ist nun eine, doch hinter Tandler steht ein ganzer Clan von Unionspolitikern und ihren Angehörigen. Die Maskenfrau ist Tochter des früheren CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler. Für die Anbahnung ihrer Geschäfte telefonierte sie mit dem damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der bayerischen Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU). Dabei half ihre Freundin Monika Hohlmeier, eine Tochter von Franz Josef Strauß (CSU).
‚We are millionaires‘, soll Tandler in internen Chats gejubelt haben und Bilder von hochwertigem Champagner gepostet haben. Das Geld legten die Angeklagten in Luxusvillen und Goldbarren an. Gereicht hat es Tandler nicht, denn die Politiker-Tochter soll sogar noch Corona-Hilfen vom Bund beantragt haben. Diese hat Tandler zurückgezahlt, auf dem abgezweigten Steuervermögen will die Clankriminelle indes sitzen bleiben.“

Die taz geht diesbezüglich auch auf den Vater der Verurteilten ein:

„Andrea Tandler ist eine Tochter des früheren CSU-Politikers und Strauß-Intimus Gerold Tandler. Innenminister war er, Wirtschafts- und Finanzminister, auch CSU-Generalsekretär. Noch heute ist Tandler ein klingender Name in Bayern. Und das, obwohl seine aktive Zeit schon mehr als 30 Jahre zurückliegt.
Und das wiederum hat mit der unrühmlichen Rolle zu tun, die der Politiker in der Affäre um den ‚Bäderkönig‘ Eduard Zwick spielte. Um Steuerhinterziehung ging es auch da. Ermittlungen gegen Tandler selbst wurden schließlich gegen Zahlung von 150.000 Mark eingestellt. Später bürgerte sich für diesen Typus CSU-Politiker die Bezeichnung Amigo ein.“

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) thematisiert die Bedeutung der Gewerbesteueroasen, für den Fall Tandler und darüber hinaus:

„Einer der Kernvorwürfe lautet: Steuerhinterziehung mit einem Firmensitz in der Gewerbesteueroase Grünwald. Das ist alles gut dokumentiert und führt zu höchst unangenehmen Fragen an den Fiskus und die Justiz: Warum ist in Sachen Gewerbesteuer eigentlich nur Andrea Tandler angeklagt?“ (SZ vom 13. Dezember 2023)

In Grünwald und anderen Steueroasen hätten sich Hunderte, wenn nicht Tausende Firmen in sogenannten virtuellen Büros niedergelassen, um in den Genuss niedriger Gewerbesteuern zu kommen. Würden Finanzämter, Steuerfahndung und Staatsanwaltschaften bei anderen Firmen dieselben Maßstäbe anlegen wie bei Tandler, müsste es zahlreiche Ermittlungsverfahren, Anklagen und Prozesse geben. Doch dafür fehle dem Fiskus manchmal der Wille und oftmals auch das Personal. Hinzu komme eine Gesetzeslage, die den Steueroasen und deren Klienten diene: „Bayerns Regierung und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) tun nichts, um das zu ändern.“ (ebd.)

In einem weiteren Artikel in der SZ führt Autor Klaus Ott aus:

„Andrea Tandler hat zusammen mit einem Partner im Frühjahr 2020, als die Maskendeals in Gang kamen, ein Miniaturbüro in Grünwald gemietet. In dem Münchner Vorort gibt es fast 8000 Firmen, bei gut 11000 Einwohnern. (…) Viele, wenn nicht gar die meisten Firmen kommen von außerhalb, weil die Gewerbesteuer so niedrig ist. Durch solche Oasen gehen den Gemeinden und Städten, in denen die betreffenden Unternehmen eigentlich ansässig sind, nach einer Schätzung des Netzwerks Steuergerechtigkeit jährlich rund eine Milliarde Euro verloren. Die Tandler-Firma Little Penguin (Zwergpinguin) war in einem 15 Quadratmeter großen Büro ansässig, zusammen mit 26 weiteren Firmen. Das macht 0,55 Quadratmeter pro Firma. Würde ein Zwergpinguin unter solchen Umständen gehalten werden, dann würden die Behörden wegen massiver Verstöße gegen den Tierschutz einschreiten.“

(vgl. auch die BIG-„Nachricht“ vom 8. Februar 2023 zum Fall Tandler)

Quellen:

Kristian Stemmler: „Den Hals nicht voll bekommen“, junge Welt (Online) vom 16. Dezember 2023
https://www.jungewelt.de/artikel/465355.maskendeal-den-hals-nicht-voll-bekommen.html 

Matthias Monroy: „Andrea Tandler: Clankriminelle“, Neues Deutschland (Online) vom 15. Dezember 2023
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176728.steuerhinterziehung-andrea-tandler-clankriminelle.html 

Dominik Baur: „Knast für Tochter von CSU-Granden“, taz (Online) vom 15. Dezember 2023
https://taz.de/Geschaeft-mit-Corona-Masken-in-Bayern/!5980467&s/ 

Klaus Ott: „Tandler muss büßen, andere nicht“, SZ vom 13. Dezember 2023

ders.: „Ein blinder Fleck mitten im Wald“, SZ vom 13. Dezember 2023

Ein Jahr Wirecard-Prozess

Seit einem Jahr wird in München einer der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik verhandelt. Im Juni 2020 kollabierte der Zahlungsdienstleister Wirecard, als bekannt wurde, dass auf Treuhandkonten in Asien 1,9 Milliarden Euro fehlten. Neben Ex-Vorstandschef Markus Braun sitzen zwei weitere ehemalige Manager wegen Bilanzfälschung und Bandenbetrug auf der Anklagebank. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet, dass die Milliardensummen schlicht erfunden worden seien. Nach Aussage von Braun dagegen habe das Geld existiert, sei aber ohne sein Wissen beiseitegeschafft worden.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) resümiert den bisherigen Verlauf des Prozesses:

„Seit genau einem Jahr läuft dieses gigantische Verfahren schon, 86 Verhandlungstage bislang. Und es könnte sein, dass gerade erst Halbzeit ist. Denn im Gerichtssaal von Stadelheim lichtet sich das Dickicht aus Vorwürfen, Verstrickungen und Vertuschungen nur langsam. Oder wie es der Vorsitzende Richter Markus Födisch vor einigen Tagen formuliert hat: ‚Es werden immer mehr Fragen, statt weniger‘.“

Vier Personen stehen im Zentrum des kriminellen Wirecard-Bankrotts: Neben Markus Braun (fast zwei Jahrzehnte CEO des Konzerns) handelt es sich um Oliver Bellenhaus (von 2013 bis 2020 Wirecards Statthalter in Dubai und wichtigster Zeuge der Anklage), Stephan von Erffa (Chefbuchhalter und stellvertretender Finanzvorstand) und den weiterhin mit internationalem Haftbefehl gesuchten Jan Marsalek (ebenfalls Ex-Vorstandsmitglied von Wirecard).

Bellenhaus betreute vom Golf aus das Geschäft mit den „Drittpartnern“, ohne das der Aufstieg des Konzerns nicht möglich gewesen wäre: „Er sei der ‚Rainmaker’ gewesen, sagt Bellenhaus von sich, der Mann, der das Geld regnen ließ. Oder besser: der das Geld erfand. Denn alles sei ‚von Anfang ein Schwindel‘ gewesen, sagt Bellenhaus, von ihm ausgeführt, aber mit Wissen und Billigung durch Markus Braun und Jan Marsalek.“

Als einziger Ex-Wirecard-Manager räumt er seine Beteiligung an dem milliardenschweren Betrug ein und belastet dabei auch den flüchtigen Marsalek sowie die beiden Mitangeklagten Braun und von Erffa, die alle Vorwürfe zurückweisen.

„Woche für Woche sitzen sich nun also Braun und Bellenhaus in den Anklagebänken buchstäblich im Nacken: einer in der Reihe vorn, der andere direkt dahinter (…). Verbissen will jeder den anderen der Lüge überführen. Stephan E. hat seinen Platz abseits, auf einer weiteren Anklagebank. Der Rest ist Schweigen. Es kann nur eine Geschichte wahr sein vom Untergang der Wirecard AG. Höchstens. Braun oder Bellenhaus – mindestens einer lügt. Aber wer?“

Im Juli schaltete sich überraschend Jan Marsalek mit einem Schreiben seines Anwalts in das Münchner Verfahren ein – sein erstes Lebenszeichen seit mehr als drei Jahren. Mit dem Ziel, Braun auf Kosten von Bellenhaus zu entlasten. Der Brief sollte auf Antrag der Anwälte als Beweismittel zur Entlastung Brauns genutzt werden. Das Gericht hielt ihn jedoch in dem Verfahren für weitgehend wertlos, da Marsalek darin keine Belege für seine Behauptungen vorlegte. Klar aber wurde, dass Marsalek und sein Anwalt immer noch Kontakt halten.
Die SZ geht noch einmal auf wesentliche Stationen der Betrugsgeschichte ein. Spätestens seit 2016 hätte Wirecard öffentlich immer wieder unter Druck gestanden, Vorstand Braun aber Anleger, Analysten, Kreditgeber und sogar die Behörden jahrelang „um den Finger gewickelt“.

„Die Geschichte vom Aufsteiger aus Aschheim, verleumdet und verfolgt von finsteren Spekulanten, sie verfängt immer wieder. So gut, dass die Finanzaufsicht Bafin zwischenzeitlich sogar Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien verbietet und die Staatsanwaltschaft München I – also dieselbe Behörde, die nun die Anklage gegen Braun und die anderen führt – anderthalb Jahre lang gegen Journalisten der Financial Times ermittelt. Die hatten bereits früh über Ungereimtheiten berichtet. Das Verfahren aber wird erst im September 2020 eingestellt, da ist Wirecard schon seit elf Wochen implodiert.“

Braun bestreitet weiterhin beharrlich, er trage Schuld an der Insolvenz und verweist auf Bellenhaus und Marsalek. Ein Wirtschaftsprüfer von KPMG, der für eine Sonderuntersuchung verantwortlich war, behauptet jedoch, Braun habe ihm mitgeteilt, er verfüge über „absolutes Herrschaftswissen“ – und ihn dann zum Skifahren auf ein Chalet in Kitzbühel eingeladen. Braun bestreitet diesen Vorgang wie auch eine andere ihm zugeschriebene Aussage. Die ehemaligen Chefjuristin des Konzerns erklärte vor Gericht, Braun sei der Meinung gewesen, „dass man Compliance nicht brauche, dass das ein Scheiß sei“. Gemeint ist damit die Abteilung, die in Unternehmen für die Einhaltung von Gesetzen und Verhaltensrichtlinien zuständig ist.

Braun sieht sich nach wie vor nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Richter teilen diesen Standpunkt bislang nicht.

„Sie halten es auch im Spätsommer noch für sehr wahrscheinlich, dass Braun die angeklagten Taten begangen hat. Und die Richter vermuten, der frühere Wirecard- Boss könnte noch immer ein Millionenvermögen verstecken. Er müsse also mit einem Urteil im Sinne der Anklage rechnen: Im Extremfall hieße das: Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren.“

Alle Zitate aus:

Johannes Bauer/Stephan Radomsky: „Shakespeare in Stadelheim“, Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Dezember 2023

Zusätzliche Quelle:

„Wirecard-Prozess: Anwalt des Kronzeugen Bellenhaus will Haftentlassung beantragen“, Handelsblatt (Online) vom 6. Dezember 2023
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/strafprozess-wirecard-prozess-anwalt-des-kronzeugen-bellenhaus-will-haftentlassung-beantragen/100002382.html 

Cum-Ex-Ermittlungen: Kehrtwende des Justizministers

Am 12. Oktober 2023 teilte der Bundesgerichtshof mit, dass die Revision des Cum-Ex-Steuerbetrügers Hanno Berger gegen die vom Landgericht Bonn verhängte achtjährige Haftstrafe verworfen worden sei. Das Verfahren ist damit abgeschlossen und der 72-jährige Berger rechtskräftig verurteilt.

Eine zweite positive Nachricht stellt die neue Entwicklung im Machtkampf um Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker (Staatsanwaltschaft Köln) dar. Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen), Justizminister in NRW, hatte kürzlich überraschend angekündigt, Brorhilkers Hauptabteilung in zwei eigenständige Sektionen aufspalten zu lassen – was bedeutet hätte, dass der wichtigsten Cum-Ex-Ermittlerin ein großer Teil ihrer Fälle weggenommen worden wäre, um diese in die Zuständigkeit eines mit dem Thema wenig vertrauten Juristen zu übergeben. In den Medien war von einer geplanten „Entmachtung“ Brorhilkers die Rede. Nach breiter öffentlicher Kritik hat Limbach nun einen – vorläufigen – Rückzieher gemacht. Am 8. Oktober teilte er mit, dass die Hauptabteilung nun doch als Ganzes beibehalten werden soll. Zudem würde sie vier zusätzliche Planstellen erhalten und somit von derzeit 36 auf 40 Staatsanwält:innen anwachsen. Die Auswirkungen der Maßnahmen sollen laut Limbach im Juli 2024 bewertet werden.

Einige Pressestimmen zur aktuellen Situation:

„Die Darstellung Limbachs, Brorhilker entlasten, die Effektivität der Arbeit steigern und Kontinuität bei einem ‚unvorhergesehenen, etwa krankheitsbedingten Ausfall‘ gewährleisten zu wollen, wirkte nicht überzeugend. Dagegen hatte etwa Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung ‚Finanzwende‘, vor einem schweren Rückschlag bei der Aufklärung des größten Steuerdiebstahls in der deutschen Geschichte gewarnt. Damit stehe die bisherige Linie, alle Cum-ex-Verbrecher vor Gericht zu bringen, zur Disposition, hatte Schick beklagt. Dagegen gebe es Akteure im NRW-Justizapparat, die ‚Deals‘ bevorzugten, mit denen sich Kriminelle von einer angemessen Bestrafung freikaufen könnten.

Nachdem Limbach sein Projekt zuletzt noch verteidigt hatte, gibt er sich nun betont konziliant. Er nehme die Einwände, die selbst von der Generalstaatsanwaltschaft kamen, ‚sehr ernst‘, (…), was auch für die Sorge einiger gelte, die Maßnahme könne die Cum-ex-Ermittlungen beeinträchtigen. Ziel aller Überlegungen und Maßnahmen sei es im Gegenteil, das Fahndungsteam ‚zu stärken, um so noch bessere Bedingungen für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu schaffen und dadurch umfassende Aufklärung zu ermöglichen‘. Gleichwohl könnte Limbachs Rolle rückwärts auch nur eine auf Zeit sein, bis sich die Wogen geglättet haben. Zunächst wolle er sich mit den Verantwortlichen bei der Generalstaatsanwaltschaft und Staatsanwaltschaft austauschen, bemerkte er. ‚Wenn wir dabei geeignetere Wege finden, bin ich selbstverständlich auch offen dafür, die in Rede stehende Organisationsentscheidung rückgängig zu machen.‘ Und wenn nicht?

Auf alle Fälle erscheint das Verhältnis zwischen Limbach und Brorhilker, die sich den Ruf als unbeugsame Kämpferin gegen die ‚Cum-ex-Bande‘ erworben hat, nachhaltig zerrüttet.“

(junge Welt vom 10. Oktober 2023)

 

„Berufspolitiker können in aller Öffentlichkeit ihren ‚Canossa‘-Moment durchleben: Nach der Kritik von Rechts- und Finanzpolitikern sowie dem Widerstand aus den Reihen der Strafjustiz hat Benjamin Limbach (…) eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen. Reumütig erteilte Limbach der geplanten Aufspaltung der Kölner Staatsanwaltschaft, die eine Schlüsselrolle in der Aufklärung des milliardenschweren Steuerskandals ‚Cum-ex‘ spielt, eine Absage. (…) Für einen Sinneswandel hat seinen Worten nach ein Treffen im Ministerium am vergangenen Mittwoch gesorgt, an dem unter anderem auch Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, bisher in Köln alleinige Hauptabteilungsleiterin für die Cum-ex-Fälle, teilnahm. (…) Auf Nachfrage erklärte der Justizminister, er habe deswegen lange nicht das Gespräch mit Brorhilker gesucht, weil dies Aufgabe des Leitenden Oberstaatsanwalts sei. Dies entspreche seiner Ansicht von ‚Führungsmanagement‘ in der Justizverwaltung. Brorhilker hatte sich intern mit einem Brief an den Hauptstaatsanwaltsrat gewandt, der die oberste Personalvertretung innerhalb des Justizministeriums ist. Darin warf sie Limbach Fehler und irreführende Darstellungen zu den Cum-ex-Ermittlungen vor.“ 

(FAZ vom 13. Oktober 2023)

 

„Seit zehn Jahren verfolgt Brorhilker mutmaßliche Steuerdiebe rund um den Globus, bis nach Australien, und hat dabei viel erlebt: einen weinenden Privatbankier; erboste Anwälte, die ihr alles Mögliche vorwerfen; oder widerspenstige Drahtzieher, die sich angesichts drohender Haftstrafen plötzlich in redefreudige Kronzeugen verwandeln. Was die schier ruhe- und rastlose Oberstaatsanwältin in diesen zehn Jahren bislang nicht erlebt hat, das ist ein Minister, der sich ihr gewissermaßen in den Weg stellt. Noch dazu ein Politiker der Grünen, die lange Zeit wie kaum eine andere Partei für Aufklärung gesorgt haben. (…) Jetzt hat Minister Limbach zu spüren bekommen, was es heißt, sich mit Brorhilker anzulegen. (…) Mehr als 60.000 Menschen* haben nach Angaben der Organisation Finanzwende eine von diesem Verein initiierte Eingabe unterschrieben. Darin wird die Landesregierung in NRW aufgefordert, die Cum-ex-Hauptabteilung H bei der Kölner Staatsanwaltschaft nicht aufzuspalten, sondern auzubauen.“

(Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023)

 * (Finanzwende selbst spricht in einer Meldung vom 13. Oktober 2023 von mehr als 80.000 Unterschriften)

 

Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Justiz stellen Süddeutsche Zeitung und Focus Online an:

„Es ist ein seltsamer Termin, der an diesem Mittwoch im nordrhein-westfälischen Justizministerium in Düsseldorf stattfindet. Die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker kommt, und zwar auf Wunsch von Minister Benjamin Limbach. Der Grünen-Politiker will mit der Ermittlerin besprechen, wie in einem der größten Steuerskandale in Deutschland weiter verfahren wird. (…) Der ungewöhnliche Termin und seine Vorgeschichte sind ein Lehrstück darüber, was Minister gerade nicht tun sollten. Sie sollten grundsätzlich nicht in Ermittlungsverfahren von Staatsanwaltschaften eingreifen. Und dies erst recht nicht in politisch heiklen Fällen wie Cum-Ex. (…) In einem der vielen Verfahren dazu geht es auch um merkwürdige Vorgänge bei der Hamburger SPD. Und damit um die Rolle des heutigen Kanzlers Olaf Scholz als damaliger Bürgermeister in Hamburg, gegen den aber nicht ermittelt wird. Die Grünen regieren als Juniorpartner mit der SPD in Hamburg und im Bund in Berlin. In beiden Parlamenten ist in Sachen Cum-Ex vom ursprünglichen Anspruch der Bürgerrechtspartei, für Transparenz zu stehen, nicht viel übrig. Aus Rücksicht auf den Partner halten sich die Grünen bei der Aufklärung fragwürdiger Vorgänge um die SPD und den damaligen Bürgermeister Scholz in der Hansestadt auffällig zurück. Brorhilker hingegen will unbedingt wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der hanseatische Fiskus die dortige Privatbank Warburg zeitweise sehr geschont hat. (…) Dass Limbach sich in dieser Lage als grüner Minister in die Arbeit der Kölner Staatsanwaltschaft einmischt, zeugt von mangelndem Fingerspitzengefühl und fehlender politischen Weitsicht. (…) Was der grüne Minister da treibt, wirft jedenfalls die Frage auf, warum Deutschland als demokratischer Rechtsstaat überhaupt noch am Weisungsrecht von Justizministerien gegenüber Staatsanwaltschaften festhält. (…) Die Weisungsbefugnis sollte stark eingeschränkt werden. Pläne dafür gibt es seit Jahren. Sie sollten endlich umgesetzt werden.“

(Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023)

 

„Während die Deutschen gebannt auf die Wahlergebnisse schauten, machte der grüne nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach am Sonntag einen spektakulären Rückzieher: Er verzichtet auf den Umbau der Staatsanwaltschaft in Köln, der Steuerbetrugsermittlungen behindert hätte. Einer, der jetzt wieder zittern muss, ist Kanzler Olaf Scholz. (…) Mit seiner politischen Kehrtwende gibt er seinen Kritiker Recht: Sie hatten darauf hingewiesen, dass die Umstrukturierung der Abteilung Deutschlands hartnäckigste Verfolgerin der kriminellen Cum-Ex-Geschäfte, die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, in ihrer Arbeit behindern würde.

Der Skandal dahinter ist riesig: Namhafte Adressen aus der deutschen Finanzwelt waren jahrelang an krummen Geschäften zu Lasten des Steuerzahlers beteiligt. Die Politik schaute zu – oder war sogar behilflich. Mancherorts wird deswegen hartnäckig ermittelt, andernorts sieht man keinen besonderen Grund dafür. In Hamburg, wo möglicherweise mit Wissen des ehemaligen Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz der größte Schaden entstanden ist, gehören die Ermittler eher zu der zurückhaltenden Fraktion. In Köln allerdings sitzen die Unbeugsamen. Und ausgerechnet sie wollte der grüne Justizminister ausbremsen. (…)

Mit im Fokus stehen dabei: Der damalige Finanzsenator Peter Tschentscher, heute Hamburger Regierungschef, und sein Vorgänger als Erster Bürgermeister: Olaf Scholz. Gegen sie gab es seit Bekanntwerden des Skandals mehrere Strafanzeigen: Sie hätten Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch das Bankhaus seit 2007 geleistet, und im Falle Scholz auch noch uneidliche Falschaussage geleistet, so formulierte es der Strafrechtler Gerhard Strate in seiner 38-seitigen Strafanzeige zu Jahresbeginn. (…)

Im März 2022 lehnte die Staatsanwaltschaft Hamburg nach nur vier Wochen Prüfung die Eröffnung eines Strafverfahrens ab. Scholz habe glaubhaft gemacht, dass er sich an Gespräche mit dem Warburg-Bankier Christian Olearius 2016 und 2017 nicht erinnern könne. (…)

Staatsanwälte in Deutschland sind weisungsgebunden. Da kommt schnell die Vermutung auf, dass aus der Politik eindeutige Hinweise gegeben wurden, die man nicht ablehnen kann. Jedenfalls in Hamburg. (…)

Ganz anders läuft es in Köln. Hier ermittelt seit Jahren Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker. Zunächst mit einem kleinen Team gegen Verdächtige aus dem Kölner Raum in Zusammenhang mit den Hamburger Vorgängen. Brorhilker ließ sich nicht abwimmeln, und je intensiver in Köln ermittelt wird, umso blamierter steht die Hamburger Justiz da. Und desto gefährlicher wird es für einige prominente Namen. Dann allerdings schien auch die nordrhein-westfälische Politik ihrem Justiz-Star ins Handwerk pfuschen zu wollen.

Justizminister Limbach, heute Grüne, bis 2018 bei der SPD, wollte über den neu ernannten Leiter der Staatsanwaltschaft Köln, Stephan Neuheuser, eine Reorganisation durchsetzen.“

(Focus Online vom 9. Oktober 2023)

 

Das Handelsblatt verweist darauf, wie viel Aufklärungsarbeit bei Cum-Ex noch zu erledigen ist:

„Arbeit gibt es noch reichlich: Die Staatsanwaltschaft verfolgt aktuell rund 120 Ermittlungskomplexe mit etwa 1700 Beschuldigten. Bis heute hat die Behörde zehn Anklagen gegen 13 Angeklagte geschrieben. Es gibt mehrere Verurteilungen, drei davon hat der Bundesgerichtshof bereits bestätigt.

Der Großteil der Ermittlungen ist noch lange nicht abgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit hat die Staatsanwaltschaft zahlreiche an Cum-Ex-Geschäften beteiligte Großbanken durchsucht, zuletzt die französischen Institute Natixis und BNP Paribas und die japanische Großbank Nomura. Anfang 2023 gab es auch eine Razzia bei ehemaligen Topmanagern von HSBC Trinkaus in Düsseldorf.

Das Ausmaß des Skandals ist in Deutschland bisher ohne Beispiel. Die Staatsanwaltschaft stößt deshalb an ihre Kapazitätsgrenzen. Kritiker hatten gemutmaßt, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des Skandals vernachlässigt wird. Die Aufteilung der Hauptabteilung unter Leitung eines relativ unerfahrenen Oberstaatsanwalts könne zu schnelleren Einstellungen führen, so die Befürchtung. Doch jetzt bleibt zunächst alles bei der bisherigen Struktur.“

(Handelsblatt vom 12. Oktober 2023)

Auch die Bürgerbewegung Finanzwende betont in einer Mitteilung vom 13. Oktober, dass der Kampf gegen Cum-Ex weiterhin defizitär ist:

„Wirklich unglaublich: Der NRW-Justizminister Limbach plante die Aufspaltung der Abteilung, die bei der Kölner Staatsanwaltschaft für die juristische Aufarbeitung des Cum-Ex-Steuerraubes zuständig ist. (…) Doch dazu ist es nicht gekommen! Finanzwende startete umgehend eine Petition (…) für die politische Rückendeckung Brorhilkers und forderte eine personelle Aufstockung ihrer Abteilung statt der geplanten Umstrukturierung. Über 80.000 Bürger*innen haben sich in kürzester Zeit mit ihrer Unterschrift unserer Forderung angeschlossen, Cum-Ex-Täter*innen nicht davonkommen zu lassen. (…) Trotz dieses Erfolges gibt es aber weiter viel zu tun. Die angekündigten Stellen müssen erst noch besetzt werden. Zudem sollten pro Staatsanwalt und Staatsanwältin mindestens acht Ermittler*innen von anderen Behörden wie Steuerfahndung und Polizei zur Verfügung stehen. Wir sind also noch lange nicht da, wo wir bei der Bekämpfung von CumEx eigentlich sein müssten.“

Zum Schluss sei auf den Hintergrundartikel von Herbert Storn (Business Crime Control) vom 11. Oktober 2023 in Makroskop (Das Magazin für Wirtschaftspolitik) verwiesen:

„Die Cum-Ex-Lobby schlägt zurück“,

https://makroskop.eu/33-2023/die-cum-ex-lobby-schlagt-zuruck/

Die Situation bis zur „Kehrtwende“ des Justizministers von NRW in Sachen Organisationsstruktur der Staatsanwaltschaft Köln beleuchtet detailliert der Podcast „Handelsblatt Crime“ (vom 8. Oktober 2023):

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/eklat-in-der-nrw-justiz/29431978.html

Quellen:

„Cum-ex: Justizminister mit Kehrwende“, FAZ vom 13. Oktober 2023

Klaus Ott: „Machtkampf um die Cum-Ex-Aufklärerin“, Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023

ders.: „Einmischen verboten“, Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023

Ralf Wurzbacher: „Limbach macht halbe Rolle rückwärts“, junge Welt vom 10. Oktober 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/460750.korruption-limbach-macht-halbe-rolle-rückwärts.html?

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Chef-Ermittlerin Brorhilker bekommt plötzlich mehr Macht“, Handelsblatt (Online) vom 12. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-chef-ermittlerin-brorhilker-bekommt-ploetzlich-mehr-macht/29440496.html

Oliver Stock (Gastautor: Reinhard Schlieker): „Der seltsame Rückzieher des grünen NRW-Ministers – Scholz muss wieder zittern“, Focus Online vom 9. Oktober 2023

https://www.focus.de/finanzen/news/cum-ex-ermittlungen-der-seltsame-rueckzieher-des-gruenen-nrw-ministers-scholz-muss-wieder-zittern_id_221528190.html

„CumEx-Täter*innen nicht davonkommen lassen“, Mitteilung von Finanzwende e.V. vom 13. Oktober 2023

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/cumex-taeterinnen-nicht-davonkommen-lassen/

 

Fehlendes Interesse an Whistleblowing: Strafzahlung für Deutschland

Bereits im Dezember 2021 hätte die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern vom Oktober 2019 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Die EU hatte den Mitgliedsstaaten also eine Frist von mehr als zwei Jahren eingeräumt, ihren Auftrag zu erledigen. Der Bundestag verabschiedete das Hinweisgeberschutzgesetz jedoch erst im Dezember 2022. Der Bundesrat, in denen die Union mitregiert, blockierte das Vorhaben dann im Februar 2023.

„Endlich, am 2. Juli 2023, trat das Gesetz in Kraft – nur war beim Europäischen Gerichtshof schon Monate vorher eine Klage der Kommission eingegangen.  Brüssel hatte die Geduld verloren, das politische Versagen bekam eine Zahl: Es war ein Tagessatz, ein bisschen so wie beim Gerichtsvollzieher: 61.600 Euro pro Tag zwischen dem abgelaufenen Stichtag und dem Inkrafttreten verlangte die EU. (…) In Berlin beginnt man sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass dieses politische Versagen echtes Geld kosten wird. Gerechnet wird so: 560 Tage Verspätung mal 61.600 Euro macht 34.496.000 Euro. Vorsichtshalber aufgerundet auf 35 Millionen.“ (Süddeutsche Zeitung)

Offiziell geht Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof juristisch gegen die Strafzahlung vor. Vorsorglich ist die Summe im Haushalt des Justizministeriums aber bereits eingestellt – die Bundesrepublik nimmt den Vorgang also ernst.

Mit 35 Millionen Euro, so die Süddeutsche Zeitung, ließe sich dagegen viel Gutes tun. Ausgerechnet Organisationen, die sich dem Kampf gegen Hass im Netz verschrieben hätten, würden darüber klagen, dass die Förderung ihrer Arbeit im kommenden Haushaltsjahr gekürzt oder gestrichen werden solle.

Die Sache könnte nach Meinung der SZ sogar noch viel teurer werden. Um 240.240 Euro täglich, für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof es ebenso sähe wie die EU: „Dass die deutsche Regelung nämlich bis heute nicht gut genug ist, weil die vorgeschriebenen Meldestellen für Whistleblower in vielen Gemeinden bis heute nicht existieren. (…) Noch mal eine knappe Viertelmillion täglich, was soll‘s. Es wäre dann das ebenso teure wie beschämende Finale einer ohnehin beschämenden Geschichte.“

Quelle:

Georg Mascolo: „Das wird jetzt wehtun“, Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Oktober 2023

 

 

Elon Musk: Rücksichtslos gegen Flüchtende und eigene Beschäftigte

Felix Klopotek schreibt in der Augustausgabe 2023 der Konkret über Elon Musk, den reichsten Menschen der Welt:

„Bewundernd, distanziert, zweifelnd und staunend schaut die hiesige Elite auf Musk. Wie soll man ihn einschätzen? Was kann man von ihm erwarten? Man weiß es nicht – und man soll es auch gar nicht wissen. Das ist die Pointe: Diese Fragen sollen unbeantwortet bleiben. Noch für eine Selbsteinschätzung, eine Erklärung in eigener Sache, ein definitives Leitbild ist Musk zu groß. So bleibt offen, wofür er steht. Ultraelitär oder lässig antibürgerlich? Globalistische Tech-Elite oder lieber Trump-Kumpel? Auf seiten der Ukraine oder doch Sympathien für Putin und Xi Jinping, weil die so harte Machertypen sind? Lächerliche Fragen aus der Sicht von Musk. Er ist da, wo er seine Chancen sieht, immer bereit zu zerstören, um Neues zu schaffen. Er verkörpert die Vision einer kapitalistischen Welt, die nach Jahren, Jahrzehnten des Klein-Kleins im Westen sich endlich entkoppeln muss von politischen Restriktionen – Liberalismus, Konservatismus, Demokratie, gar Sozialismus. All diese Begriffe stehen für die Beschränkung der privaten unternehmerischen Initiative. Musk ist noch nicht mal antipolitisch, er ist radikal apolitisch.“ (Seite 16)

Rechte Verschwörungserzählungen

Letztere Behauptung lässt sich angesichts aktueller Äußerungen des Tech-Milliardärs bezweifeln. So teilte Musk Ende September den hetzerischen Post eines offenbar rechtsextremen Nutzers seiner Internetplattform X (vormals Twitter), in dem zur Wahl der AfD aufgerufen wird, und kritisierte scharf die deutsche Migrationspolitik. Der User behauptet in seinem Tweet, dass derzeit acht Schiffe deutscher NGOs auf dem Mittelmeer „illegale Einwanderer“ aufnehmen und in Italien absetzen würden. „Hoffen wir“, so der User, „dass die AfD die Wahlen gewinnt, um diesen europäischen Selbstmord zu stoppen.“ Musk kommentierte mit Blick auf die deutschen Schiffe: „Ist die deutsche Öffentlichkeit sich dessen bewusst? (…) Sicherlich ist es eine Verletzung der Souveränität Italiens, wenn Deutschland große Mengen illegaler Einwanderer auf italienischen Boden transportiert? Das hat etwas von Invasionsstimmung.“ (Handelsblatt vom 30. September 2023)

Musk bezieht sich dabei auf die Kritik der italienischen Regierung am Auswärtigen Amt, das in diesem Jahr Seenotrettungsorganisationen mit bis zu zwei Millionen Euro unterstützt. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte sich gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz irritiert über die finanziellen Hilfszahlungen gezeigt. Das Handelsblatt kommentiert Musks enorme Meinungsmacht vor dem Hintergrund der politischen Aktivitäten, Flüchtende von Europa fernzuhalten: „Mit dem Tweet von Musk gewinnt die Debatte nun deutlich an Schärfe.“

 Die taz stellt klar, dass die Behauptungen von Musk & Co schlicht falsch sind:

„Tatsächlich sind von den bisher in diesem Jahr rund 133.000 an Italiens Küsten angekommenen Flüchtlingen und Migrant:innen nur rund 8 Prozent von NGO-Schiffen nach Italien gebracht wurden. (…) Zur Zeit des Tweets (…) waren nicht sieben oder acht, sondern fünf von deutschen Vereinen betriebene Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer unterwegs: die ‚Louise Michel‘, ‚Aurora‘, ‚Nadir‘ und ‚Trottamar III‘, dazu die von den Behörden festgesetzte ‚Humanity 1‘. Bisher erhielt kein Schiff deutsche Staatshilfe. Geplant sind Zahlungen an den Verein SOS Humanity, der die ‚Humanity 1‘ betreibt. Ob das Geld tatsächlich fließt, ist aber offen.“

Nach Auffassung der Frankfurter Rundschau  bedient sich der von Musk geteilte Aufruf zur Wahl der AfD eines Vokabulars, das an die von Rechtsextremen verbreitet rassistische und antisemitische Verschwörungserzählung des sogenannten Großen Bevölkerungsaustauschs angelehnt ist. „Unter diesem Narrativ propagieren Rechtsextreme einen angeblichen Versuch einer ‚globalen Elite‘, weiße Bevölkerungen gegen Geflüchtete ‚auszutauschen‘. Insbesondere Anhänger:innen der Identitären Bewegung verbreiten dieses Narrativ – vor allem in den sozialen Netzwerken. Auch in Bekennerschreiben rechtsextremer Terroristen findet es sich seit Jahrzehnten. (…) Elon Musk fiel bereits in der Vergangenheit immer wieder durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen auf: So verbreitete er einen antisemitischen Vergleich zwischen dem Comic-Bösewicht Magneto und dem liberalen Milliardär und Philanthropen George Soros. Soros – ein Überlebender des Holocaust – ist eine Hassfigur der extremen Rechten und wird in der Verschwörungserzählungen des ‚Großen Bevölkerungsaustausches‘ oft als Sinnbild ‚der Elite‘ verunglimpft. Am prominentesten in Orbàns Ungarn.“

„Produktionshölle“

Ein anderer Schauplatz: Ende September veröffentlichte das Magazin Stern die Ergebnisse einer Recherche über das Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide. Danach wurden gravierende Verstöße von Elon Musks Unternehmen gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen festgestellt – die die Politik offenbar tatenlos hinnimmt. Die Vorwürfe des Stern beruhen teils auf Dokumenten, die Reporter:innen des Magazins offenbar einsehen konnten, teils auf Aussagen von Betroffenen, die über selbst erlittene Unfälle berichteten. Daneben, so der Stern, konnten zwei Reporterinnen in die Gigafabrik eingeschleust werden und deshalb gravierende Mängel selbst beobachten.

Das nd kommentiert die Veröffentlichung des Stern:

„Wie viel unattraktiver kann Elon Musk das Arbeiten in seiner Tesla-Gigafabrik in Grünheide noch gestalten? Keine Tarifbindung trotz Automobilindustrie, Verschwiegenheitserklärung im Arbeitsvertrag, Ellbogenmentalität gemischt mit autoritärer Führung, heiße Sommer und kalte Winter in den Fabrikhallen: Tesla scheint ein richtig mieser Arbeitgeber zu sein. Nun glänzt die Gigafabrik in Grünheide mit hohen Zahlen meldepflichtiger Arbeitsunfälle und Gruselgeschichten von Verunglückten.“ (nd vom 5. Oktober 2023)

Der von Tesla-Gründer und Provokateur Musk selbst stammende Begriff „Produktionshölle“ bezeichnet anschaulich die seit Jahren berüchtigten Arbeitsunfallstatistiken und Produktionsvorgaben des seit März 2022 produzierenden Werks von Tesla (vgl. nd vom 8. Oktober 2023).

Eine Auswahl der Vorwürfe der investigativen Stern-Recherche gegen Tesla in Grünheide:

– Tesla durfte in nicht einmal zwei Jahren die Fabrik in ein Trinkwasserschutzgebiet setzen – Das Landesamt für Umwelt und die untere Wasserbehörde des Landkreises hebelten mit etlichen Sondergenehmigungen dafür große Teile ihrer Wasserschutzverordnung aus. Zum Teil erteilten die Behörden  für illegale Bauarbeiten nachträglich Ausnahmegenehmigungen. 

– Das Werk gefährdet Mitarbeiter:innen, Umwelt und Anwohner gleichermaßen: Fast täglich ereignen sich Unfälle mit schweren und schwersten Verletzungen. Giftstoffe, Öle und Diesel versickern wegen eines zum Teil nachlässigen Umgangs im Erdreich. „Allein zwischen Juni und November 2022 gab Tesla selbst demnach 190 meldepflichtige Unfälle an. (…) Die Daten der Rettungsstellen sprechen eine ähnliche Sprache. Man kann dort nachlesen, dass Musks Fabrik im ersten Jahr nach der Eröffnung 247 Mal einen Rettungswagen oder Hubschrauber anforderte. Auf die Mitarbeiterzahl umgerechnet, sind das in einem ähnlichen Zeitraum gut dreimal so viele Notfälle wie beispielsweise in Audis Werk in Ingolstadt.“ (Seite 32)

Nach Aussage eines Gewerkschafters verletzten sich in keinem anderen Autokonzern in Deutschland so viele Menschen wie bei Tesla. Es handelt sich dabei unter anderem um Verletzungen durch Stromschläge, Verbrühungen, Salzsäure, amputierte Gliedmaßen.

– Der Konzern wurde vom Stern mit dessen Recherchen und den Vorwürfen der Mitarbeiter:innen konfrontiert, reagierte aber nicht darauf. Tesla hat mit Hilfe von Politik und Brandenburgs Behörden ein System des Schweigens geschaffen. Hinweisgeber, die über Sicherheitsmängel informierten, verloren ihren Job. Aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen können von Unfällen betroffene Beschäftigte nicht offen mit Journalisten sprechen. Mitarbeitende, die über interne Vorgänge reden, müssen mit ihrer Entlassung und Schadensersatzklagen rechnen. Tesla schottet sich gegenüber der Öffentlichkeit nahezu ab „wie ein Gefängnis“. (Seite 26).

– Brandenburgs Behörden nehmen ihre Kontrollfunktion offensichtlich nicht ernst. Aus ihren Akten, so der Stern, gehe hervor, dass seit Januar 2022 mindestens ein Mitarbeiter des Landesamts für Arbeitsschutz  mehrmals im Monat zu Tesla fährt, um die Arbeitssicherheit zu prüfen – zumeist allerdings erst nach vorheriger Ankündigung und Angabe darüber, was genau er sich ansehen will.

Dazu der Kommentar des Stern:

„Es ist das eine, dass die Regierung eines Bundeslandes stolz ist auf die Ansiedlung eines Weltkonzerns, den Regierungen und Regionen in ganz Europa umworben haben. Und gute Beziehungen zu diesem Konzern zu unterhalten, weil es allen Seiten nutzt. Etwas ganz anderes ist es, wenn Politiker und Behörden dabei zusehen, wie ein Unternehmen systematisch Menschen und die Umwelt in Gefahr bringt und gegen Auflagen und Gesetze verstößt. Oder sogar mithelfen, dass diese Missstände möglichst nicht auffallen.“ (Seite 35)

Stephan Kaufmann bilanziert nüchtern für das nd:

„Tesla unterscheidet sich von der deutschen Konkurrenz nur dadurch, dass es die geltenden Regeln des kapitalistischen Geschäfts besonders konsequent umsetzt. Genau deswegen ist der Konzern ja auch besonders erfolgreich: Umsatz in drei Jahren verdreifacht, Gewinn versiebenfacht. ‚Es sind die Leute in diesen Fabriken, die unseren Wohlstand schaffen‘, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Werkseröffnung im März 2022. Seitdem hat sich Teslas Börsenwert um 170 Milliarden Dollar erhöht.“

Eine positive Meldung zum Schluss: Nach Angaben der IG Metall forderten am 9. Oktober mehr als 1.000 Beschäftigte von Tesla „bei einer erstmaligen Aktion in der Fabrik in Grünheide gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen“. (Handelsblatt vom 9. Oktober 2023) Sie hätten sich mit einem Slogan auf IG-Metall-Aufklebern und T-Shirts gezeigt: „Gemeinsam für sichere & gerechte Arbeit bei Tesla“.

Quellen:

Christian Esser/Manka Heise/Tina Kaiser: “Außer Kontrolle”, Stern vom 26. September 2023, Seite 24-37 

Kilian Beck: „Musk teilt AfD-Wahlaufruf und liefert sich Schlagabtausch mit deutschen Außenministerium“,

Frankfurter Rundschau (Online) vom 3. Oktober 2023

https://www.fr.de/politik/gegen-baerbock-ministerium-verschwoerungserzaehlung-musk-schiesst-92552088.html

Christian Jakob: „Elon Musk hetzt gegen Seenotrettung“, taz (Online) vom 2. Oktober 2023

https://taz.de/Elon-Musk-hetzt-gegen-Seenotrettung/!5964281/

Stephan Kaufmann: „Tesla: Weltweit berüchtigte Arbeitsunfallstatistiken“, Neues Deutschland (Online) vom 8. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176660.gruenheide-tesla-weltweit-beruechtigte-arbeitsunfallstatistiken.html?

Felix Klopotek: „Logik des Schreckens“, Konkret 8/2023, Seite 16-18

Jule Meier: „Arbeitsunfälle bei Tesla in Grünheide: Arm ab und arm dran“, Neues Deutschland (Online) vom  5. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176737.arbeitsschutz-arbeitsunfaelle-bei-tesla-in-gruenheide-arm-ab-und-arm-dran.html?

Dietmar Neuerer: „Elon Musk teilt Beitrag mit Aufruf zur Wahl der AfD – Kritik von den Grünen“, Handelsblatt (Online) vom 30. September 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/tesla-chef-elon-musk-teilt-beitrag-mit-aufruf-zur-wahl-der-afd-kritik-von-den-gruenen/29421492.html

„Über 1000 Tesla-Mitarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen“, Handelsblatt (Online) vom 9. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ig-metall-ueber-1000-tesla-mitarbeiter-fuer-bessere-arbeitsbedingungen/29434870.html

 

Staatsanwältin kaltgestellt?

Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin soll entmachtet werden. Das berichtet das Handelsblatt am 20. September 2023. Danach plant Stephan Neuheuser, erst seit wenigen Wochen neuer Chef der Kölner Staatsanwaltschaft, einschneidende personelle Veränderungen. Er will die Hauptabteilung H, „Deutschlands schlagkräftigste Ermittlertruppe im Kampf gegen Steuerhinterziehung nach der Methode Cum-Ex“, umbauen. Diese wurde von Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker geleitet, die als führende Expertin bei der strafrechtlichen Verfolgung des Wirtschaftsverbrechens gilt. Ein zweiter Hauptabteilungsleiter, Ulrich Stein-Visarius, soll ernannt werden, der allerdings bislang in Bezug auf Cum-Ex-Verfahren völlig unerfahren ist.

„Neuheuser und Stein-Visarius kommen beide aus dem Justizministerium Nordrhein-Westfalen. Neuheuser leitete dort zuletzt das Referat für Personalbedarf im Justizvollzug, Stein-Visarius das Referat für Jugendstrafrecht. Nun soll er die Hälfte der rund 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte führen, die sich um die hochkomplizierten Cum-Ex-Fälle kümmern.“

Brorhilker muss ihre Ermittlungsarbeit künftig wohl mit dem neuen Co-Chef abstimmen. Bei unterschiedlichen Auffassungen, schreibt das Handelsblatt, müsste ihr Vorgesetzte Neuheuser entscheiden. Umgesetzt sind die Pläne noch nicht. Nach Angaben einer Sprecherin des Justizministeriums dauere „die Prüfung von Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz“ in der zuständigen Fachabteilung noch an.

Die junge Welt kommentiert diesen für viele Beobachter überraschenden Vorgang:

„Die personelle Neuordnung mit Effizienzgewinnen zu begründen, ist dreist. Bei ihrer Jagd auf die Cum-Ex-Diebe und ihre Beute konnte Brorhilker seit 2013 etliche spektakuläre Erfolge erzielen. Zum Beispiel brachte sie den Kanzleipartner von Hanno Berger zum Reden, der in Deutschland schillerndsten Cum-Ex-Figur. Zehn Jahre nach Bergers Flucht in die Schweiz erwirkte die Oberstaatsanwältin seine Auslieferung, woraufhin dieser 2022 vor den Landgerichten Bonn und Wiesbaden zu jeweils rund acht Jahren Haft verurteilt wurde. 2014 ließ Brorhilker im Rahmen einer weltweiten Razzia Büros in Frankfurt am Main, Zürich, Luxemburg, London und New York durchsuchen und massenhaft Beweismittel beschlagnahmen. 2015 spielte ein Insider dem NRW-Finanzministerium eine CD zu, durch deren Auswertung 129 Cum-Ex-Geschäfte aufgedeckt und 100 Millionen Euro an zu Unrecht erstatteten Steuern zurückgeholt werden konnten. Nicht zuletzt verfasste Brorhilker die Anklage im Prozess gegen die Hamburger Warburg-Bank, gegen die schließlich eine Geldstrafe von 176 Millionen Euro verhängt wurde.“

Auch das Handelsblatt unterstreicht die Verdienste Brorhilkers:

„International konnte sich die Chefermittlerin aus Köln höchsten Respekt erarbeiten. Die Nachrichtenagentur Bloomberg nahm Brorhilker im Dezember 201 als einzige Deutsche in ihre ‚Top 50‘ auf – die Liste der ‚Menschen und Ideen, die 2021 das globale Geschäft bestimmen‘. Zu Hause schien ihre Arbeit weniger geschätzt. Längst nicht alle Stellen in der Hauptabteilung waren besetzt. Viele der Ermittler hatten kaum Berufserfahrung. Außerdem sollten sie sich neben den Cum-Ex-Verfahren auch um Corona-Betrugsfälle kümmern.“

Die junge Welt erinnert weiter daran, dass derzeit der ehemalige Chef der Warburg-Bank, Christian Olearius, in Bonn vor Gericht steht und dass sich die Hamburger Bürgerschaft vom Justizapparat behindert fühlt:

„Die Justiz in der Hansestadt interessiert der Fall nicht, obgleich sich in der Bürgerschaft ein Untersuchungsausschuss damit beschäftigt. Allerdings erhob das Parlament den Vorwurf, die Kölner Staatsanwaltschaft habe ein Jahr lang Akten aus Ermittlungsverfahren zurückgehalten, die der Ausschuss wiederholt angefordert hatte. Offenbar sind in Köln seit längerem Bremser am Werk, denen Brorhilkers Eifer missfällt. (…) Reichen die Vorbehalte vielleicht bis hoch an die Behördenspitze oder noch weiter? Jedenfalls wurden den Hamburger Abgeordneten erst nach Intervention durch NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) Unterlagen zugeleitet. Zudem musste der Chef der Staatsanwaltschaft, Joachim Roth, seinen Hut nehmen, um durch besagten Neuheuser ersetzt zu werden. Dessen erste Amtshandlung wird absehbar darauf hinauslaufen, die Kompetenzen Brorhilkers zu beschneiden. Zugleich gibt es immer noch Klagen aus Hamburg, dass weiterhin wichtige Papiere aus Köln fehlten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.“

Quellen:

René Bender/Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Neuer Behördenleiter will Deutschlands wichtigste Cum-Ex-Ermittlerin entmachten“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-neuer-behoerdenleiter-will-deutschlands-wichtigste-cum-ex-ermittlerin-entmachten-/29370396.html

Ralf Wurzbacher: „Das Imperium schlägt zurück“, junge Welt (Online) vom 22. September 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/459573.cum-ex-das-imperium-schlägt-zurück.html