Fehlende Aufarbeitung von Cum-Ex wegen Personalmangel

Die schwarz-grüne Regierung in NRW verspricht in ihrem Koalitionsvertrag vom Juni 2022, dass sie Delikte wie Cum-Ex „entschlossen bekämpfen und aufarbeiten“ und die Rolle der früheren WestLB dabei aufklären werde. „Die Ermittlungen in Sachen West-LB laufen allerdings schleppend, sieben Jahre nach deren Beginn scheint eine Anklage nicht in Sicht zu sein“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ) in ihrer Ausgabe vom 23. Januar 2023.

Gemeinsame Recherchen der SZ mit dem WDR ergaben, dass für den komplexen Fall nur zwei Beamte der Steuerfahndung Düsseldorf eingeteilt sind. Der frühere NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU) kritisiert die inaktive Rolle der Staatsanwaltschaft Köln in Personalfragen. Schon zu seiner Zeit als Minister habe sich der leitende Oberstaatsanwalt in Köln kaum aktiv um mehr Personal bemüht. Im Interview mit dem WDR-Magazin Westpol stellt er fest, dass die Ermittlungen viel weiter sein könnten. Er habe im Grunde seinerzeit der Staatsanwaltschaft in Köln Stellen „aufzwingen“ müssen. Sein Eindruck sei, dass sowohl der Leiter der Kölner Staatsanwaltschaft wie auch sein Vertreter kein großes Interesse an diesem Verfahren hätten. Biesenbach: „Es fehlen deutlich Kräfte für Cum-Ex-Verfahren.“ Die Aufklärung in Sachen Cum-Ex drohe deshalb „zu versanden“. Dem widerspricht Biesenbachs Nachfolger Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen). Er sieht kein Stocken der Ermittlungen, weil immer wieder Stellen besetzt würden. Die Justiz bemühe sich, die Arbeit der Staatsanwält:innen nach Kräften zu unterstützen.

Die SZ fasst den letzten Stand der Personalausstattung der Staatsanwaltschaft Köln zusammen:

„Offiziell zählt die eigens für Cum-Ex-Fälle zuständige Abteilung H bei der Staatsanwaltschaft Köln zwar 36 Stellen. Drei davon sind momentan aber nicht besetzt. Drei weitere Kräfte fallen derzeit wegen Elternzeit und Mutterschutz aus. Neun von zuletzt 16 neu geschaffene Stellen wurden dem Justizministerium zufolge mit Mitarbeitern besetzt, die noch ‚sehr dienstjung‘ seien. Bis auf zwei Ausnahmen verfügten sie ‚weder über Erfahrungen in Bearbeitung umfangreicher Wirtschaftsstrafsachen noch über steuer-und bankenrechtliche Vorkenntnisse‘.“

Die Cum-Ex-Verfahren werden am Landgericht Bonn verhandelt. Doch dort, so berichtet der WDR, lässt die angekündigte Prozessflut bislang auf sich warten. Dabei wurden Gerichtssäle für 600.000 Euro modernisiert und neue geplant. Stefan Weismann (Präsident Landgericht Bonn) meinte dazu: „Es war ein anderes Tempo angekündigt.“

Quellen:

„Schleppende Ermittlungen zur WestLB“, Westpol (TV-Magazin des WDR) vom 22. Januar 2023
https://www.ardmediathek.de/video/westpol/westpol/wdr/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTdjYjE2NjhhLTU3ZGQtNGUyNy1hY2Y0LTJmMTYyOTg0NDgwYg

Jan Diesteldorf/Nils Wischmeyer: „Personalmangel bremst Cum-Ex-Aufklärung“,
Süddeutsche Zeitung vom 23. Januar 2023

Anklageschrift gegen führenden Unternehmensberater

Bei Unternehmen und staatlichen Institutionen geht ohne Unternehmensberatung häufig gar nichts. Unternehmensberater wie McKinsey & Co. prägen deshalb sowohl Wirtschaftsprozesse als auch gesellschaftliche Lebensverhältnisse entscheidend mit – und verdienen damit Unsummen an Geld. In ihrem im Oktober 2022 zuerst in den USA veröffentlichten „Schwarzbuch McKinsey“ legen die beiden Investigativ-Journalisten der „New York Times“, Walt Bogdanich und Michael Forsythe, nun eine Skandalchronik der weltweit wichtigsten Unternehmensberatung vor. Es ist das bisher aktuellste einer ganzen Reihe von in den vergangenen Jahren erschienenen kritischen Büchern verschiedener Autor:innen über McKinsey – einem Unternehmen, das wohl stellvertretend für die gesamte Consulting-Branche angeprangert werden soll.

Nach eigenen Angaben arbeiten rund 35.000 Mitarbeiter:innen von McKinsey in mehr als 130 Städten und 65 Ländern. Die beiden Autoren gehen primär der Frage nach, mit welchen Methoden dieser riesige und mit über zehn Milliarden Dollar Jahresumsatz international führende Strategieberater vorgeht und welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen seiner Tätigkeit bisher beobachtet werden konnten. Geschieht etwas Skandalöses, stehen die Kunden von McKinsey in der Kritik, da sie für die Folgen ihres Handelns verantwortlich sind. Die Berater, die sie instruiert haben, bleiben dagegen weitgehend verborgen und damit aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik. Der Anspruch der amerikanischen Journalisten ist es deshalb, die „fragwürdigen Praktiken“ (Untertitel des Buches) McKinseys aus den letzten Jahrzehnten auf Basis umfangreicher Recherchen ans Licht zu zerren (oder auch der Öffentlichkeit bereits bekannte Fälle der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen). Die beiden Autoren haben (laut Schutzumschlag des Buches) Hunderte Gespräche mit Insidern geführt und „zehntausende vertrauliche Dokumente“ eingesehen mit dem Ziel, weiter am Lack von McKinsey zu kratzen.

Bogdanich und Forsythe listen in dem Buch detailliert auf, bei welchen strittigen oder kriminell anmutenden Aktivitäten von Unternehmen Mitarbeiter:innen von McKinsey ihre Finger mit im Spiel hatten. Angeführt wird eine Vielzahl von Fällen, hier nur einige Beispiele:
2014 engagierte der Konzern U.S. Steel McKinsey, um den Stahlkonzern wieder auf Gewinnkurs zu bringen. Die Berater implementierten einen „transformativen“ Businessplan, um unter anderem Wartungskosten zu senken. Dutzende Mechaniker wurden entlassen, Hunderte beruflich herabgestuft. Tödliche Arbeitsunfälle waren die voraussehbare Folge.
In den Freizeitparks von Disneyland wurde ebenfalls die „wirtschaftliche Effizienz“ durch einen Umbau der Wartungsarbeiten gesteigert. Ein Jahr lang hatten Consultants von McKinsey die Walt Disney Company analysiert; die wenig überraschenden Empfehlungen folgten 1997: die Instandhaltung von Fahrgeschäften sollte eingeschränkt, Arbeitsplätze gestrichen und Aufgaben an externe Dienstleister outgesourct werden. Auch hier führen die Autoren die nachfolgenden tödlichen Unfälle in einzelnen Vergnügungsparks (z. B. in einer Achterbahn) zurück auf das „eiskalte Kostensenkungskalkül, das die Firma zum Klassenbesten der Unternehmensberatungen gemacht hatte“. (Seite 31)
Seit der globalen Finanzkrise spielte McKinsey eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des britischen Gesundheitsdienstes „National Health Service“ (NHS). Wegen dem gewaltigen Haushaltsdefizit sollten umfangreiche Kürzungen des NHS-Budgets vorgenommen werden. McKinsey schlug im März 2009 Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Pfund vor; diese sollten durch den Abbau von rund zehn Prozent der NHS-Belegschaft ermöglicht werden. Die beiden Autoren verdeutlichen, wie eng mittlerweile die Bindung der britischen Regierung mit dem privaten Consulting ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Regierung den nationalen Gesundheitsdienst noch ganz ohne die Hilfe von Beratern auf die Beine stellen. 313 Millionen Pfund gab der NHS jetzt allein im Jahr 2010 für Consultingfirmen aus.
Als schockierendster Fall des Buches gelten McKinseys Beratungsleistungen für die US-amerikanische Firma Purdue Pharma, einem Hersteller von Schmerzmitteln mit hohem Suchtpotenzial (Opioiden). Von 2004 bis 2019 erhielt McKinsey insgesamt 83,7 Millionen Dollar Beratungshonorar, um „das Verlangen der Nation nach dem Schmerzmittel OxyContin“ (Seite 198) zu schüren. Die Autoren sprechen von 750.000 Menschen, die infolge einer Epidemie starben, die damals durch den Verkauf des Schmerzmittels in Gang gesetzt wurde.

McKinsey, so heißt es in dem Buch weiter, habe auch die amerikanische Aufsichtsbehörde beraten, deren Aufgabe es war, die Auswirkungen des Skandals in den Griff zu bekommen: „Auch hier kam die Doppelrolle von McKinsey als Berater der Regulierten und der Regulierungsbehörde ins Spiel.“ (Seite 220) Gleiches geschah in China, wo McKinsey einen staatlichen Baukonzern beim Aufbau militärischer Infrastruktur beriet, zugleich aber auch für das US-Pentagon arbeitete, die die chinesischen Pläne als Bedrohung auffasste. Zur Geschäftspolitik von McKinsey gehört es offensichtlich, zur gleichen Zeit verschiedene Unternehmen zu beraten, die auf demselben Markt miteinander konkurrieren.
McKinsey arbeitete auch für die deutsche Spitzenpolitik: Insbesondere die Bundesregierung gehört zu ihren Dauerklienten, so auch das Bundesverteidigungsministerium. Zur Erinnerung: Nachdem Ursula von der Leyen im Jahr 2013 das Ministerium übernommen hatte, holte sie selbst Unternehmensberatungen ins Haus, um Probleme im Beschaffungswesen zu lösen. In der 2018 bekanntgewordenen „Berateraffäre“ wurde von einem eingesetzten Untersuchungsausschuss zwar kein strafbares Fehlverhalten der damaligen Verteidigungsministerin festgestellt. Deutlich wurde aber, dass unter ihrer Verantwortung McKinsey „mehrere auf unrechtmäßige Weise freihändig vergebene Aufträge erhalten hatte“ (Seite 386). Vergaberegeln seien schlicht missachtet worden. Süffisant gehen die Autoren in diesem Zusammenhang auf die besonderen Beziehungen von der Leyens – während ihrer Zeit als Bundesministerin und der Auftragsvergaben an McKinsey – zu der Beratungsfirma ein: „Während sie als Verteidigungsministerin fungierte, waren zwei ihrer Sprösslinge für McKinsey tätig“. (Seite 387)

Tatsächlich gilt McKinsey nach wie vor als attraktive Adresse für Neueinsteiger, da die Bewerberzahlen trotz hartem Auswahlverfahren gigantisch zu sein scheinen. Vielleicht wird sich das aber ändern, denn die Kritik an dem Branchenführer wird immer lauter. Die Diskrepanz zwischen Eigendarstellung und tatsächlicher Beratungspraxis sticht einfach zu sehr ins Auge. So hält die Skandalfirma an ihrem Image als „werteorientiert“ fest und stellt sich etwa auf ihrer Webseite als „values-driven organization“ vor, die „high ethical standards“ folgt. Die akribisch vorbereitete und umfangreiche „Anklageschrift“ der beiden Autoren dementiert diese Selbstinszenierung vehement.

Walt Bogdanich/Michael Forsythe: Schwarzbuch McKinsey. Die fragwürdigen Praktiken der weltweit führenden Unternehmensberatung, Econ, Berlin, 2022, 496 Seiten, 24,99 Euro