Private Fluchtprogramme der Superreichen

„Galoppierende Preise. Der Zusammenbruch des Finanzsystems. Das nächste Virus. Vielleicht sogar ein Atomkrieg. Alles möglich. Und jeder reagiert auf die Unsicherheit, auf seine Weise (…) Und die Superreichen?“

Das Wochenmagazin Wirtschaftswoche (WiWo) beschreibt in seiner Ausgabe vom 15. Juli 2022 die Vorsorgestrategie Superreicher gegen „die Bedrohungen unserer Zeit: Kriege, Killerviren und Klimakatastrophen“. Nach einer Erhebung der Beratungsfirma Capgemini, so die WiWo, gab es 2021 weltweit 22,5 Millionen Dollar-Millionäre, acht Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten davon leben in den USA (7,46 Millionen), 1,63 Millionen in Deutschland.

Offensichtlich strebt die Geldelite danach, sich verschiedene Aufenthaltsrechte zu sichern. So vermittelt ein Züricher Geschäftsmann Staatsbürgerschaften und Aufenthaltstitel – mit 300 Mitarbeitern und in 35 Büros weltweit. Seine Firma ließ die Fluchtbewegungen der Reichen untersuchen. Danach werden in diesem Jahr rund 88.000 Millionäre in andere Staaten auswandern – darunter mehr als 15.000 Superreiche aus Russland,  10.000 aus China und etwa 8.000 aus Indien.

„Amazon-Gründer Jeff Bezos, laut ‚Forbes‘ 135 Milliarden Dollar schwer, hat ein Refugium auf Hawaii. PayPal-Gründer Peter Thiel (4,8 Milliarden) ist Staatsbürger Neuseelands, Google-Gründer Larry Page (98 Milliarden) hat dort einen ständigen Wohnsitz. Für Thiel ist Neuseeland ‚die Zukunft‘, also der Ort, an den er wohl fliehen wird, wenn es soweit ist.“ (WiWo vom 15. Juli 2022)

Ein weiteres Beispiel für einen „Flüchtling de Luxe“ ist der Multimilliardär Roman Abramovich. Neben der russischen Staatsbürgerschaft verfügt er auch über einen Aufenthaltstitel in Großbritannien, eine israelische und eine portugiesische Staatsbürgerschaft, die ihm Freizügigkeit im gesamten Schengen-Raum ermöglicht (WiWo Online vom 18. Juli 2022).

„Die Zahlen spiegeln auch die zunehmende Ungleichheit wider: Wenn’s ums Geld der Menschen geht, ist Mobilität über Grenzen hinweg willkommen. Wenn’s ums Überleben der Menschen geht, dann werden Grenzen immer strikter geschlossen“, stellt der Soziolge Steffen Mau im Interview mit der WiWo fest (ebd.).

Von den weltweit reichsten Menschen haben nach Angaben von Mau rund 30 bis 40 Prozent mindestens einen zweiten Pass. „Seit Jahren hat sich über diese goldenen Pässe ein globaler Mobilitätsadel entwickelt, für den Grenzen keine Bedeutung mehr haben. Diese Personen schweben quasi im Privatjet über Grenzen hinweg, sie bilden damit eine eigenständige, sehr privilegierte Kaste, zugleich gibt es auch Personen aus der gehobenen Mittelschicht, die so versuchen, politische und wirtschaftliche Risiken zu minimieren. (…) Wer verschiedene Aufenthaltsrechte hat, kann damit sein gesamtes Portfolio optimieren, also gewissermaßen Ortsrenditen so generieren, wie sie gebraucht werden. Etwa, indem dort Steuern gezahlt werden, wo es günstiger ist. Oder jemand lässt sich dort nieder, wo er mehr Rechte und Freiheiten bekommt und sich nicht der Willkür ausgesetzt sieht. Im Idealfall gibt es beides auf einmal.“ (ebd.)

Durch die „goldenen Pässe“ werde, so Mau, die Staatsbürgerschaft kommerzialisiert und tendenziell entwertet. Dass, was eigentlich eine Loyalitätsbeziehung sei, werde jetzt zu einem handelbaren Gut – das sich allerdings sich nur einige wenige Menschen leisten können. So werde eine extreme Ungleichheit produziert zwischen denjenigen, die sich eine Staatsbürgerschaft kaufen können, und den Menschen, die mühsam an einer Einbürgerung arbeiten müssen (Nachweis festes Einkommen, Sprach- und Integrationstests).

Quellen:

Volker Ter Haseborg u. a.: „Flüchtlinge De Luxe: Geldwerter Vorsprung“, Wirtschaftswoche vom 15. Juli 2022 (Print), Seite 16-21

„Der Mobilitätsadel schwebt im Privatjet über Grenzen hinweg“, Interview von Sonja Álvarez mit Steffen Mau, Wirtschaftswoche (Online) vom 18. Juli 2022

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/millionaere-kaufen-goldene-paesse-der-mobilitaetsadel-schwebt-im-privatjet-ueber-grenzen-hinweg/28507518.html

 

„Skandal im Skandal“: Cum-Ex und die Landesbanken

„Der sichtbare Teil des ‚Cum-Ex‘-Sumpfs wird umso größer, je länger die juristische Aufarbeitung des größten Steuerraubs in der Geschichte Europas andauert. Immer wieder geraten neue kriminelle Substrukturen in den Fokus der Ermittler, immer wieder bringen Razzien in dubiosen Geldhäusern neue Details ans Licht.“ Das schreibt die junge Welt in ihrer Ausgabe vom 23. Juli 2022. In der Tat kann nicht bestritten werden, dass die kriminellen Finanzgeschäfte seit geraumer Zeit öffentlich diskutiert werden. Immerhin werden mehr als 100 Banken und mindestens 1.500 Personen verdächtigt, den Staat ausgeplündert zu haben. Auch haben mittlerweile sowohl der Bundesfinanzhof, der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht die Cum-Ex-Geschäfte als illegal und strafbar eingestuft.

Einen bislang jedoch unterbelichteten Aspekt rekonstruiert das Handelsblatt in seiner Online-Ausgabe vom 20. Juli 2022: den Stand der Ermittlungen gegen die an Cum-Ex-Geschäften beteiligten Landesbanken. „Das Ergebnis ist ein Skandal im Skandal“, konstatiert die Wirtschaftszeitung und fragt, ob die Justiz schlicht mit zweierlei Maß misst.

„Der Cum-Ex-Steuerschaden, den deutsche Landesbanken schon zugegeben haben, kratzt an der Milliardengrenze. Doch die juristische Aufarbeitung kriecht. Kein einziger Landesbanker wurde bislang wegen Cum-Ex-Geschäften verurteilt, kein einziger angeklagt. ‚Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt. Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken‘, sagt Christoph Spengel, Steuerprofessor an der Universität Mannheim.“ (ebd.)

Allein die ehemalige Landesbank WestLB, so die Zeitung, habe im Zuge von Cum-Ex-Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern hinterzogen, ein Vielfaches mehr als die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Hamburger Warburg Bank. Ähnliche Geschäfte liefen offenkundig auch bei anderen Landesbanken: In Hessen geht es um 22 Millionen Euro (Landesbank Hessen-Thüringen: Helaba), in Hamburg um 112 Millionen (HSH Nordbank, heute Hamburg Commercial Bank), in Baden-Württemberg (LBBW) um 166 Millionen. Die Ursache für die offensichtlich fehlende Motivation der Staatsanwälte, aktiv zu werden, ist für viele Insider des Cum-Ex-Komplexes klar: Bei den Landesbanken sitzen und saßen so manche noch aktive und ehemalige Politiker im Aufsichtsrat.

Das Handelsblatt schließt seinen detailreichen Artikel wie folgt:

„Jahrelange Steuerhinterziehung mit anschließend bestenfalls behäbiger Strafverfolgung ist ein öffentliches Ärgernis. Kenner der Vergangenheit freilich ärgern sich gleich doppelt: Die Landesbanken, die den Steuerzahler schädigten, ließen sich zuvor vom Steuerzahler retten.

Die HSH Nordbank beantragte 2008 in der Finanzkrise Staatsgarantien in Höhe von 30 Milliarden Euro. Später wurde bekannt, dass die Führung Risiken in eine Tochtergesellschaft auf den kanarischen Inseln ausgelagert hatte, um ihre Bilanz aufzuhübschen. Die Rettung der HSH kostete den Steuerzahler drei Milliarden Euro. Das hielt die Bank nicht davon ab, mit ihren Cum-Ex-Aktiengeschäften Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zu hinterziehen.

Ähnliche Geschichten gibt es aus anderen Bundesländern. In Berlin kostete die Rettung der Landesbank rund zwei Milliarden Euro; dort sorgten unter anderem üppige Abfindungen an gescheiterte Vorstände für Unmut.

Alles in den Schatten stellte die Rettung der WestLB. Auf bis zu 18 Milliarden Euro bezifferte Finanzminister Walter Borjans 2018 die möglichen Belastungen für den Fiskus durch die Skandalbank.

Die Führung der WestLB dankte dem Steuerzahler die Rettung, indem sie ihn anschließend auch noch betrog: Laut Staatsanwaltschaft liefen die Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank zwischen 2007 und 2011. Wenn die mehrheitlich staatseigene Nachfolgegesellschaft Portigon nun Rückstellungen für die Rückzahlung bildet, landet die Rechnung dort, wo sie immer landete: beim Steuerzahler.“

 

Quellen:

Sebastian Edinger: „Aufarbeitung des Steuerraubs“, junge Welt vom 23. Juli 2022

https://www.jungewelt.de/artikel/431035.finanzwirtschaft-aufarbeitung-des-steuerraubs.html?sstr=cumex

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“,  Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html?

Sönke Iwersen: „Cum-Ex-Skandal: Landesbanken und ihre Kontrolleure in der Politik verraten die Steuerzahler“ (Kommentar), Handelsblatt (Online) vom 21. Juli 2022

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-cum-ex-skandal-landesbanken-und-ihre-kontrolleure-in-der-politik-verraten-die-steuerzahler-/28537822.html

 

 

Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und „Sozialbetrug“ im Vergleich

Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar für viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen Gerichtssälen von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe würden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, müssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschärft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von Armutskriminalität zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-Gespräch erläuterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kämen Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-Betrügern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit würde in beiden Fällen geschädigt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffällig. [4]

Wissenschaftlich unterfüttert wird diese – nicht unbedingt überraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen für beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von Vergünstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen Beträge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit für eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der für beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„Für die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (…) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhängt werden; bei höheren Hinterziehungsbeträgen soll es dann zu Bewährungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € übersteigt, sollten regelmäßig Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden. Für den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren Schadensbeträgen mit wesentlich härteren Strafen geahndet. Beaucamp führt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf Bewährung führen, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Landgericht Osnabrück verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschätzte Schäden von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 Einzelfälle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht für den deutschen Staat nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jährlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als Sozialleistungsempfänger. Viele Menschen mit Leistungsansprüchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine Anträge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrügen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschränkt. In Fällen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gäbe es keine „natürliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, Anwälte und Banken für ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten würden. Für Steuerhinterziehung im größeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrückt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (Ankündigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins Gefängnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

Vorschläge für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. März 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454

Aggressiver Lobbyismus des Fahrtenvermittlers Uber

Die am 10. Juli 2022 veröffentlichten Uber-Files zeigen, wie der global agierende US-Fahrdienstleister versuchte, Politik und Öffentlichkeit mit dubiosen Methoden zu beeinflussen. Das Ziel bestand darin, sich Zugang zu den europäischen Märkten zu verschaffen und etwa in Deutschland das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. Unterstützt wurde der Konzern dabei von Politik, Wissenschaft und Medien.

Die Informationen basieren auf internen Dokumenten des Unternehmens, die dem britischen Guardian zugespielt und von rund 40 Medien weltweit ausgewertet wurden. In Deutschland beteiligten sich daran WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung (SZ). Laut SZ vom 11. Juli 2022 stammt das Material (rund 124.000 E-Mails, Textnachrichten und Analysen) von einem ehemaligen Uber-Manager, der von 2014 bis 2016 für das Unternehmen als Cheflobbyist in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gearbeitet hatte. Belegt werden vor allem die Lobbypraktiken des US-Konzerns in der Zeit von 2013 bis 2017, als Uber weltweit aggressiv expandierte. Ab 2014 wollte sich Uber auch in Deutschland verstärkt etablieren. Allerdings wehrte sich die Taxibranche massiv gegen die Pläne des Konzerns. Es kam zu mehreren Gerichtsurteilen, die Uber-Dienste verboten: „Das Dumme nur: Deutsche Gerichte sehen in Uber nicht nur ein digitales Start-up, das lediglich eine App zur Verfügung stellt, sondern vielmehr einen Fahrdienst, der deshalb, ebenso wie Taxis, eine Lizenz benötige und dafür auch örtliche Niederlassungen gründen müsste. Infolge wäre der US-Konzern in Deutschland damit voll steuerpflichtig.“ (Tagesschau.de vom 10. Juli 2022)

Das Geschäftsmodell von Uber besteht darin, über eine App und gegen satte Provisionen Fahrdienste zu vermitteln, das heißt ohne einen eigenen Fuhrpark Mitfahrgelegenheiten via Smartphone zu ermöglichen – und damit das Taximonopol zu brechen. Der Konzern, der 2009 in San Francisco gegründet wurde und im letzten Jahr 17 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte, steht damit in direkter Konkurrenz zum regulierten deutschen Taxi-Markt. Deshalb tat sich bislang auch die öffentliche Meinung mit der Dienstleistung des US-Unternehmens eher schwer.

Einen Eindruck vom rabiaten Auftreten des Unternehmensgründers Travis Kalanick vermittelte die SZ am 11. Juli 2022:

„Dass dieser Expansion bisweilen nationale Arbeitsschutzgesetze oder Beförderungsbestimmungen entgegenstanden, störte Kalanick offenbar nicht. Gespräche mit Politikern bezeichnete er als ‚Zeitverschwendung‘, demonstrierenden Taxifahrern hielt er entgegen, Roboter würden bald ihren Platz einnehmen. Kaum hatte das Unternehmen einen Markt betreten, sollten die Behörden dort die Regeln im Sinne Ubers ändern. Das Manager Magazin verglich Kalanick einmal mit einem Cowboy, der die Schwingtüren zum Saloon eintritt, sich den Weg zum Tresen freischießt – und dort zuvorkommend bedient werden will.“

Wie aber konnte Uber über Jahre hinweg Politiker, Wissenschaftler und Medien für sich einspannen, um die öffentliche Meinung und die Gesetze in seinem Sinne zu beeinflussen?

Die Politik:

Laut SZ setzte sich der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt für Uber ein. Zwischen 2014 und 2017 traf er sich mindestens vier Mal mit Kalanick, drei der Zusammenkünfte waren bisher nicht öffentlich bekannt. „Dabei soll es auch zu einer geheimen Absprache gekommen sein, die Uber das Geschäft erleichtert haben soll“, schreibt das Handelsblatt am 10. Juli 2022. „Als Finanzminister habe Macron sich ‚selbstverständlich mit zahlreichen Unternehmen ausgetauscht‘, erklärte ein Sprecher des Präsidenten. Dabei sei es auch darum gegangen, bestimmte administrative oder regulatorische Sperren aufzuheben.“ Auf EU-Ebene war die Niederländerin Neelie Kroes, bis Ende 2014 als EU-Kommissarin für die digitale Agenda verantwortlich, behilflich. Sie soll sich bei Politikern ihres Landes für Uber stark gemacht haben. Nach ihrem Ausscheiden in Brüssel und nach Ablauf einer Karenzzeit übernahm sie einen gut bezahlten Job als Beraterin bei dem US-Unternehmen (vgl. Spiegel vom 10. Juli 2022).

FDP-Politiker Otto Fricke stellte den Kontakt zu deutschen Politikern her, zum Beispiel zum damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und zur Staatssekretärin Dorothee Bär (beide CSU). Laut SZ sei es das Ziel gewesen, das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. In dieser Zeit, zwischen 2014 und 2016, war Fricke für eine Beratungsfirma als Lobbyist tätig. Bereits von 2002 bis 2013 gewählter Bundestagsabgeordneter, stieg er dann ab 2017 wieder in die Politik ein und kam erneut in den Bundestag.

Die Wissenschaft:

Laut Uber-Files fand der Konzern über Fricke auch Kontakt zu Justus Haucap, Professor für Wirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf – einem „Überzeugungstäter, der im Taximonopol ohnehin ein Problem sah“ (SZ vom 11. Juli 2022). Dieser verfasste 2015 für 44.000 Euro eine Studie zu den angeblich positiven Wirkungen der Marktöffnung für die Verbraucher und platzierte laut SZ einen „flankierenden“ Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für weitere 4.000 Euro. Die Studie wurde vor Erscheinen offensichtlich von Uber noch einmal gegengelesen und in Absprache mit Haucap abgeändert.

Die Medien:

Die Uber-Files enthüllen, dass „die Berater des Unternehmens von Beginn an auch einige der mächtigsten Medienkonzerne Deutschlands auf dem Zettel hatten: Axel Springer, Hubert Burda Media, Pro Sieben Sat 1“. (SZ vom 12. Juli 2022) Tagesschau.de beschrieb am 11. Juli das strategische Vorgehen Ubers:

„Um in Deutschland besser angenommen zu werden, hoffte Uber auch auf Unterstützung von Medienunternehmen. Der Springer-Konzern bot Hilfe an und investierte in das Start-up. Vor allem für den damaligen ‚Bild‘-Chef Diekmann interessierte sich Uber. (…) Man wollte sich am liebsten mit der größten deutschen Boulevardzeitung zusammentun, um den Zutritt zum deutschen Markt zu erleichtern. ‚Wir brauchen jemanden wie Kai Diekmann, der Türen für uns öffnet‘, schrieben die Uber-Manager damals. Und in einer anderen E-Mail: ‚Kai Diekmann ist der beste Weg, auch um zu Merkel zu kommen.‘ Diekmann galt bei Uber als einer der mächtigsten Medienmacher. (…) Offen für Unterstützungsleistungen zeigte sich laut den Uber Files Axel Springer. Der Konzern beteiligte sich Anfang 2016 mit einem kleinen Investment am US-Unternehmen. ‚Für uns ist der Wert die Unterstützung und der Einfluss des Verlags in Berlin und Brüssel‘, hielten Uber-Manager dazu intern fest. (…) E-Mails zeigen auch, wie hilfsbereit Springer-Manager für Uber waren. Sie wollten zum Beispiel dabei helfen, den Uber-Chef Travis Kalanick mit hochrangigen Politikern zusammenzubringen. ‚Bitte teilen Sie uns mit, welche Politiker Travis in dem Zusammenhang treffen möchte (…)‘. (…) Über Springers Uber-Beteiligung erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls lange nichts, erst im April 2017 wurde sie bekannt, als Diekmann ‚Bild‘ verließ und in ein Beratergremium von Uber wechselte – das ‚Policy Advisory Board‘, wie Uber es nennt.

Diekmann ließ mitteilen, er habe dabei geholfen, für Axel Springer bei den relevanten Technologieunternehmen Türen zu öffnen und wichtige Kontakte herzustellen. ‚Es ging darum, den ‚Spirit‘ zu verstehen‘. Einen Interessenkonflikt zwischen seinen Gesprächen und Treffen mit Tech-Unternehmen wie Uber und seinen Aufgaben bei ‚Bild‘ habe es nie gegeben.“

 

Quellen:

Nina Bovensiepen u.a.: „Über Uber“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf u.a.: „Wer schreibt, der bleibt“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum/Jan Diesteldorf: „Bitte recht Uber-freundlich“, SZ vom 12. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum u.a.: „Deutsche Lobbyisten im Dienste eines US-Konzerns“, Tagesschau.de vom 10. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-105.html

Petra Blum u.a.: „Wie Uber deutsche Medien umwarb“, Tagesschau.de vom 11. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-107.html

„Datenlecks decken schmutzige Lobbyarbeit des Fahrdienstleisters Uber auf“, Der Spiegel (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/uber-datenlecks-decken-schmutzige-lobbyarbeit-des-fahrdienstleisters-auf-a-c1cae170-ce5c-44a0-90b4-58b0d66416ad

 

Übergewinnsteuern gegen missbrauchte Marktmacht

Am 8. Juli 2022 stimmte der Bundesrat gegen den Antrag der Länder Bremen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen auf die befristete Einführung einer Übergewinnsteuer. Dabei handelt es sich um eine Sondersteuer auf hohe Zusatzgewinne von Unternehmen durch den Ukraine-Krieg (Kriegsprofiteure, vor allem im Energiesektor). Diese Übergewinnsteuer sollte zur Finanzierung staatlicher Entlastungsmaßnahmen dienen. Die Bundesländer, in denen die CDU/CSU oder die FDP an der Regierung beteiligt sind, stimmten gegen den Entschließungsantrag. Damit muss die Bundesregierung keinen Vorschlag für die Erhebung der Steuer für das laufende Jahr vorlegen. In der Frage zeigt sich auch die Bundesregierung gespalten: SPD und Grüne unterstützen die Idee, die FDP und Finanzminister Christian Lindner positionieren sich klar gegen eine derartige Steuer.

„Der Bürgermeister der Hansestadt, Andreas Bovenschulte, sieht vor allem im Energiesektor Handlungsbedarf: ‚Allein im ersten Quartal dieses Jahres konnten die vier Ölriesen Shell, BP, Exxon und Total ihren Nettogewinn gegenüber dem Vorjahr von etwa 15 Milliarden auf rund 34 Milliarden US-Dollar mehr als verdoppeln‘, sagte der SPD-Politiker. ‚Nach Berechnungen der Internationalen Energieagentur dürften die gestiegenen Energiepreise den Konzernen in diesem Jahr 200 Milliarden Euro zusätzlich in die Kassen spülen.‘“ (tagesschau.de vom 10. Juni 2022)

Auch die EU-Kommission prüft mehrere Optionen zur Einführung einer Übergewinnsteuer. Die sogenannte „Windfall Profits Tax“, schreibt die taz am 7. Juli 2022, werde von der EU-Kommission auf ihre Machbarkeit geprüft. Es gehe um eine koordinierte Herangehensweise in den 27 EU-Staaten. Denn für die Steuerpolitik seien die Mitgliedsländer zuständig. Brüssel wolle laut EU-Kommissarin Věra Jourová verhindern, dass es zu nationalen Alleingängen oder Marktverzerrungen komme. Italien und Rumänien hätten die Übergewinnsteuer bereits eingeführt, bald werde Spanien folgen.

Nach Berechnungen der Entwicklungsorganisation Oxfam würde eine einmalige Sondersteuer von 90 Prozent auf Extraprofite allein bei den größten Unternehmen der G7-Länder über 430 Milliarden US-Dollar einbringen. „Das ist genug Geld,“ so Oxfam, „um die Finanzierungslücken aller humanitären Hilfsaufrufe der Vereinten Nationen zu schließen, einen 10-Jahres-Plan zur Beendigung des Hungers zu finanzieren und den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerungen der G7-Staaten einen einmaligen Zuschuss von über 3.000 US-Dollar zu zahlen, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken.“ Laut einer aktuellen von Oxfam beauftragten Umfrage sind drei Viertel der Bundesbürger:innen dafür, Extraprofite von Unternehmen stärker zu besteuern.

Auch Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel hält eine Übergewinnsteuer für machbar:

„Die EU empfiehlt sie. Etliche Länder in Europa trauen sie sich zu. In den USA ist sie von Renommierten der Wirtschaftswissenschaft durchdekliniert worden. Historische Erfahrungen mit ihr liegen in den USA und Großbritannien vor. Sie, das ist die zeitlich befristete Sondersteuer auf Übergewinne, zielgenauer auf Extraprofite vor allem in den Kassen der Mineralölkonzerne. Diese Steuer richtet sich gegen die missbrauchte Marktmacht von der Ölquelle über die Raffinerien und Transporte bis zur Tankstelle. (…) Die am Markt monopolistisch auftretenden Big Five-Mineralölkonzerne haben jüngst selbst gezeigt, wie sie ihre Übergewinne staatlich subventioniert steigern. Es handelt sich um die Tankrabatte, die großteils mit preispolitischen Tricks in die Konzernkassen gelenkt wurden. Auch das Ifo-Institut irrt mit seiner zweifelhaften Vergleichsstudie, die die nahezu komplette Weitergabe der Rabatte auf Kraftstoffe behauptet. (…) Deshalb ist klar: Da die CDU zusammen mit der FDP die Sondersteuer auf Extraprofite abgelehnt hat, sollten diese staatlichen Subventionen per missbrauchter Tankrabatte unverzüglich abgeschafft werden. Natürlich wäre es am besten, statt die Übergewinne zusätzlich zu besteuern, deren Ursachen zu beseitigen. Sie sind das Ergebnis monopolistisch eingesetzter Marktmacht durch die Konzerne.“ (taz vom 10. Juli 2022)

Das Handelsblatt versucht, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen:

„In Berlin“, kommentiert Redakteurin Kathrin Witsch, „diskutiert man jetzt öffentlich über die Zerschlagung der Ölmultis und die Besteuerung von Übergewinnen. Doch das scheint schon juristisch schwer durchsetzbar, schnelle Preissenkungen durch diese Initiativen gegen die international agierenden Milliardenkonzerne sind darum nicht zu erwarten. Vielmehr sollte sich die Politik darum darauf konzentrieren, weitere steuerliche Erleichterungen für diejenigen zu schaffen, die sie bei den hohen Spritpreisen wirklich brauchen – wie Pendler und Gewerbetreibende“.

Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema bietet das Magazin für Wirtschaftpolitik Makroskop:

Gerd Grötzinger: „Übergewinnsteuer? Ja, bitte!“ vom 6. Juli 2022
https://makroskop.eu/spotlight/versailles-durch-die-hintertur/ubergewinnsteuer-ja-bitte/

Quellen:

Eric Bonse: „Brüssel für Steuer auf Extragewinne“, taz vom 7. Juli 2022
https://taz.de/Hohe-Profite-hohe-Energiepreise/!5862682/

„Bundesrat befasst sich mit Übergewinnsteuer“, Tagesschau vom 10. Juni 2022
https://www.tagesschau.de/inland/bundesrat-uebergewinnsteuer-101.html

Rudolf Hickel: „Subventionierte Extraprofite“, taz vom 10. Juli 2022
https://taz.de/Sondersteuer-auf-Uebergewinne/!5866498/

„Oxfam fordert Übergewinnsteuer, um Hunger- und Klimakrise zu bekämpfen“, Pressemitteilung von Oxfam vom 24. Juni 2022
https://www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/2022-06-24-oxfam-fordert-uebergewinnsteuer-um-hunger-klimakrise-bekaempfen

Kathrin Witsch: „Aktionismus zwecklos: Benzin und Diesel bleiben teurer“, Handelsblatt vom 14. Juni 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-aktionismus-zwecklos-benzin-und-diesel-bleiben-teurer/28423526.html

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse über die undurchsichtigen Geschäfte der Adler Group, ehemals einer der größten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation über die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerät. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansässigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp über vier Euro.

Für Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende März 2022, als die Wirtschaftsprüfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat für den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist für Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die Prüfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß Geschäfte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte über unseriöse Geschäftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen würde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische Leerverkäufer Fraser Perring, der bereits zur Aufklärung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil über die Adler Group gefällt hatte („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plündere das Unternehmen zulasten der Aktionäre aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das Geschäftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fälschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplündern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte künstlich aufblähe, sich dann günstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschütten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jüngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch Wertzuwächse ihrer „assets“. Besonders Geschäfte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begründen, aus denen Gewinne – ohne Liquiditätszuflüsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nüchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hätte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. Tatsächlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten für die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – für DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fünf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden für die Aktionäre seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hätte die Höhe der Ausschüttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemäß der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, würde es zum einen ermöglichten, leichter an günstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschütten. [2] Für die Mieter:innen eine beängstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten üppigen zukünftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestätigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring über die Geschäftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Aufklärung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen läuft hinterher und stützt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden Leerverkäufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell führt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte für Rechnungslegungsverstöße vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und Beschäftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen Verstößen kann sie Geschäfts- und Wohnräume durchsuchen und Gegenstände beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in Düsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties für 350 Millionen Euro übernehmen. Deshalb verkaufte Adler das Düsseldorfer Grundstück für 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen Geschäftsführer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genügend Kapital, um die ADO zu übernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rückgängig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. Für Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hätte das Unternehmen ins Verderben führen können. Rückzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hätten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fällige Anleihen zurückzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug für den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzustreiten – als wäre nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert über die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-Aktionäre bestätigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das Verhältnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur Bonitätsprüfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen Geschäfte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/