„Wir werden Honig haben“ – Bee-Washing als Form von Greenwashing

Satirische Sendungen im Fernsehen sind ein Refugium für kritische Geister. Ein Lichtblick in der allabendlichen Fernsehwüste aus immer mehr Krimis ist das jede Woche nach der Heute-show kommende ZDF Magazin Royale mit Jan Böhmermann. Hier wird mit investigativen Mitteln gearbeitet, werden Schutzbehauptungen und Propagandaformeln enttarnt und wenig bekannte Tatsachen in einer lockeren und lustigen Form vermittelt, die sicherlich nicht nach jedermanns Geschmack ist, aber sich die Abneigung von Rechts redlich verdient hat.

Wer weiß denn schon, dass das in den Medien vielbeschworene Bienensterben eine Legende ist, beziehungsweise eine interessegeleitete Halbwahrheit? Nur zu gerne glauben wir sie, weil das in den letzten Jahrzehnten sich beschleunigende Insektensterben als Indikator für die Umweltzerstörung mittlerweile allseits bekannt ist. Die weltweit schwindende Biodiversität wird zu Recht als ebenso dramatisch und die Lebensgrundlagen der Menschheit bedrohend angesehen wie der Klimawandel.

In seiner Sendung vom 3. November 2023 stellte Böhmermann klar, dass die abnehmende Zahl von Bienenvölkern sich nur auf Wildbienen bezieht, während sich bei den Zuchtbienen eine gegenteilige Entwicklung zeigt. Hier ist sogar eine erhebliche Zunahme zu verzeichnen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass Honig ein begehrtes Nahrungs- und Genussmittel ist, sondern auch damit, dass es immer beliebter wird, sich eine Bienenzucht als Mittel zur Verbesserung des eigenen Images zuzulegen. Hier hat sich ein ganz neues Geschäftsmodell aufgetan: Der Verkauf und die Vermietung von Bienenstöcken an Firmen, die damit einer Auflage der EU nachkommen wollen, ihre „Nachhaltigkeit“ zu demonstrieren.

Ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür ist die Waffenschmiede Heckler und Koch. Böhmermann zitierte aus einem Artikel der Neuen Rottweiler Zeitung vom 27. August 2020, in dem unter dem Titel „Heckler und Koch: Von Waffen und Bienen“ über die jährliche Aktionärsversammlung des Unternehmens berichtet wird. Darin heißt es – etwas ausführlicher als in der Sendung gezeigt: „Bei der Produktion in Oberndorf achte man auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung. Dank sparsamerer Maschinen habe man den Energieverbrauch um 20 Prozent und den CO2 Ausstoß um 25 Prozent gesenkt. Geplant sei der Bau eines Blockheizkraftwerkes. Dienstwagen seien künftig nur noch Hybridfahrzeuge, Mitarbeiter könnten E-bikes leasen. Und weiter kündigte Koch einen ersten Schritt zur Konversion an: ‚Wir werden auf dem Betriebsgelände Bienenvölker ansiedeln‘, kündigte Koch an, ‚wir werden Honig haben.‘“

Gut gemeint oder objektiv zynisch? Jedenfalls könnten die Widersprüche und der Widersinn der herrschenden Produktionsweise kaum besser zusammengefasst werden: Auch bei der Herstellung von Menschenvernichtungsmitteln gilt es, nachhaltig zu sein und Ressourcen zu schonen. Dass die Gewinnerzielung dabei nicht zu kurz kommen soll, versteht sich von selbst. Und das alles wird mit dem sentimentalischen Versprechen garniert, dass man als ersten kleinen Schritt zur Rüstungskonversion Honig produzieren werde.

Ein zugegeben krasses Beispiel für das, was nach dem Vorbild des Begriffs Greenwashing „Bee-Washing“ genannt wird: Die Vorspiegelung eines menschen- und naturfreundlichen, also gebrauchswertorientierten Produzierens bei Aufrechterhaltung des Profitprinzips der Tauschwertproduktion. Die fleißigen Bienen eignen sich hervorragend dazu, einen „grünen Kapitalismus“ zu suggerieren.

Böhmermann stellte diesem „Nutztier“, das an dritter Stelle nach Schwein und Rind kommt, in seiner Sendung einen anerkannten Schädling gegenüber: den Borkenkäfer, der als „Feind Nummer eins“ unseren guten alten deutschen Wald durch rasante Vermehrung und übergroße Fresslust bedrohe. So die Legende. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Wälder in Deutschland sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit schnell wachsenden Fichten aufgeforstet worden, die nicht mehr so resistent sind wie der traditionelle Mischwald. Es ging um Profitabilität, nicht um nachhaltiges Wachstum. Die Folgen sind nun massenhaft in den immer wärmeren Sommern durch Wassermangel und Hitzestress absterbende und von den heftiger werdenden Stürmen umgelegte Nadelhölzer. Die sind ein bevorzugtes Fressen für den Borkenkäfer. Der aber bereitet durch sein Tun das Terrain für andere Insekten – und Wildbienen! Auf lange Sicht würde er sogar zum Wiedererstehen eines den neuen klimatischen Bedingungen angepassteren Mischwaldes beitragen.

An dieser Stelle brachte Böhmermann am Beispiel von Biene und Borkenkäfer eine Erkenntnis auf den Punkt, die auch zum Verständnis anderer Formen der falschen und manipulativen Feindbestimmung und der Ablenkung von den wahren Ursachen der Misere dienen könnte: „Wir lieben die Honigbiene, weil wir sie ausbeuten können und hassen den Borkenkäfer, weil er uns die Ausbeutung des Waldes versaut. Es geht gar nicht um Borkenkäfer gegen Biene. Der wahre Kampf ist Mensch gegen Natur. Und raten Sie mal, wer den gewinnt. Kleiner Tipp: Nicht wir, nicht wir.“

Mehr an Aufklärung ist von einer Satire-Sendung kaum zu erwarten.

Zum Gedenken an Erich Schöndorf (1947 – 2023)

„Gesellschaften haben offenbar nicht nur die Verbrecher, die
sie verdienen, sondern auch eine ihnen adäquate Justiz. So
wird sich eine Autogesellschaft auch keine Richter erlauben,
die ihr das Liebste nehmen.“ Erich Schöndorf

Erich Schöndorf war nach seinem Studium der Rechtswissenschaft, das er mit einer Promotion bei Spiros Simitis abschloss, von 1977 bis 1996 Staatsanwalt in Frankfurt am Main. Die letzten zehn Jahre war er im Umweltdezernat tätig und vor allem mit dem “Holzschutzmittel-Verfahren” befasst. Dabei ging es um die gesundheitlichen Folgen PCP- und lindanhaltiger Holzschutzmittel, die massenhaft vertrieben worden waren. Die Verurteilung zweier Manager des Herstellers Desowag, einer Tochterfirma des Bayer-Konzerns wegen Körperverletzung wurde im Nachhinein wieder aufgehoben. Das Unternehmen kam mit einer Geldspende für Forschungszwecke davon. Die Geschädigten gingen leer aus.

Nach dieser frustrierenden Erfahrung quittierte Schöndorf den Justizdienst. Unter dem Titel „Zermürbt und müde. Interne Querelen treiben einen Umweltstaatsanwalt aus dem Amt“ beschrieb Herbert Stelz in der ZEIT vom 6. September 1996 die Vorgänge um den Prozess und die Widerstände, mit denen sich Erich Schöndorf auseinandersetzen musste. Immerhin hatte er aber im Zusammenspiel mit Journalisten erreicht, dass der Fall bundesweit bekannt wurde und das Problembewusstsein für Umweltgifte gewachsen war. Desowag und andere Firmen mussten bei der Produktion von Holzschutzmitteln fortan auf gesundheitsschädliche Stoffe verzichten.

Das langwierige und nicht von Erfolg gekrönte Gerichtsverfahren arbeitete Schöndorf in seinem Buch “Von Menschen und Ratten. Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittel-Skandal” auf. Es folgte „Strafjustiz auf Abwegen. Ein Staatsanwalt zieht Bilanz“. Dann wandte er sich als Autor eher literarischen Formen zu. Dem Thema Umweltverbrechen angemessen entstanden die Öko-Krimis „Feine Würze Dioxin“, „Das Projekt“ und „Terrorziel Wasser“, alle im Nomen-Verlag veröffentlicht. Zuletzt erschien das Hörbuch „Game over?“ im Verlag Libroletto.

1996 wurde Erich Schöndorf als Professor für Umweltrecht und öffentliches Recht an die Fachhochschule Frankfurt am Main berufen. Viele Jahre war er aktiv im Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit dem Schwerpunkt Klimaschutz. Als Mitglied bei Business Crime Control (BCC) war er seit 1998 Mitherausgeber der Zeitschrift BIG Business Crime, seit 2002 Mitglied im Vorstand und von 2011 bis 2021 Vorsitzender des Vereins.

 

„Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“

Unter dem Titel „Umweltdelikte sind auch Wirtschaftsdelikte“ hat Schöndorf in BIG Nr. 4/2014 beschrieben, wie er Ende der 1990er Jahre an der Fachhochschule Frankfurt mit Hans See und dem von ihm zusammen mit anderen gegründeten Verein BCC in Kontakt kam und wie das seinen Blick auf Umweltdelikte veränderte: „Als reinrassiger ‚Öko‘ war ich ganz auf eine Verfolgung von Straftaten fixiert, die dem Schutz von Umweltgütern wie Wasser, Boden und Luft dienen sollte. Die wirtschaftliche Dimension dieser Verfahren hatte ich zunächst komplett ausgeblendet. Ich war in Umweltverbänden und Bürgerinitiativen zuhause und hatte mich im Kampf um die Startbahn West (des Frankfurter Flughafens) engagiert.“

Über den von ihm 12 Jahre lang als Staatsanwalt geführten Holzschutzmittel-Prozess schrieb er dementsprechend selbstkritisch: „Zahlreiche Häuslebauer und Heimwerker waren durch die Anwendung giftiger Lasuren krank geworden und ich hatte im Dschungel der Toxikologie mit ihren Grenzwertproblemen und biochemischen Wirkmechanismen den wirtschaftsrechtlichen und insbesondere den wirtschaftskriminellen Hintergrund des Verfahrens schlicht verkannt. Die Firma hatte nämlich ihre Giftchargen betrügerisch an den Mann gebracht, indem sie über die Gefährlichkeit ihrer Produkte nicht aufgeklärt hatte. Neben dem Umweltdelikt der Giftfreisetzung hatte ich es quasi unbemerkt auch noch mit einem Betrug zu tun.“

Dieser Betrug diente der Gewinnerzielung und Gewinnmaximierung, wie auch bei anderen derartigen Delikten. “Wer die Umwelt schädigt“, schrieb Schöndorf in seinem Artikel, „tut das in der Regel nicht aus Lust an der Zerstörung, am Kaputtmachen, sondern weil er damit Geld verdienen will. Der Unternehmer, der seine giftigen Abwässer in einen Fluss leitet, spart die Kosten für Aufbereitung und Reinigung. Der Entsorger, der den ihm anvertrauten Bauschutt in die Landschaft kippt, statt ihn ordnungsgemäß zu recyclen, spart ebenfalls die hohen Gebühren der Wiederverwertungsanlage. Und die Bäume am Amazonas fallen deswegen der Motorsäge zum Opfer, weil das Palisander- und Mahagoniholz in Amerika oder Europa reißenden Absatz findet und die gerodeten Flächen anschließend dem gewinnbringenden Sojaanbau dienstbar gemacht werden können.“

 

„Die Lügen der Experten“

Im Holzschutzmittel-Prozess hatte Erich Schöndorf als Staatsanwalt mit Sachverständigen zu tun, die ganz im Sinne des beklagten Unternehmens einen Zusammenhang zwischen den giftigen Inhaltsstoffen des Produkts und den Krankheitsbildern bei Anwendern nicht bestätigen konnten beziehungsweise leugneten. Diese Erfahrung hat er in seinem Essay „Die Lügen der Experten“ im SPIEGEL Nr. 23/1999 pointiert zur Sprache gebracht.

Auf die Ärzteschaft könnten die Betroffenen kaum hoffen, schrieb Schöndorf. In deren Studienplänen sei Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vorgekommen. Den „alltäglichen Chemikalienwahnsinn“ und seine Folgen für die Gesundheit hätten sie daher nicht auf dem Schirm. Aber „was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte“ breche nun auf.

Nach bitteren Erfahrungen mit der Schulmedizin hofften viele Betroffene auf die Justiz. „Bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel.“ Es stelle sich die Frage, „warum die Justiz Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.“

Schöndorf referierte eine naheliegende Erklärung: „Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.

Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.“

Richter und Staatsanwälte dürften und müssten sich fremden Sachverstands bedienen, um die Sache, die verhandelt wird, in allen Einzelheiten zu verstehen, das Für und Wider abwägen zu können und zu einem Urteil zu kommen. Sie könnten also nach Belieben Gutachter aus Wissenschaft und Praxis bestellen. Und da liege das Problem, so Schöndorf.

„Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.

Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.

Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozesserfolg des Opfers zu vereiteln.

Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis.

Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.

Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.“

Um diesen Usancen ein Ende zu bereiten machte Erich Schöndorf einen Vorschlag: „Was wir brauchen ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.“

Was die Transparenz bei Sachverständigen angeht, hat sich inzwischen dank des Drucks der Öffentlichkeit einiges getan. Dennoch bleibt der SPIEGEL-Essay Erich Schöndorfs in vielem aktuell.

 

„Die Mühen der Ebene“

Im Dezember 2015 wurde in Paris von 197 Staaten ein Klimavertrag abgeschlossen, um die Erderwärmung auf 1,5 bis maximal 2 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen. „Nach dem Gipfel kommen die Mühen der Ebene“, waren die Anmerkungen von Erich Schöndorf zu diesem Vertrag betitelt, die in BIG Nr. 1/2016 erschienen sind. Schöndorf schrieb: „Das Wunder von Paris. Da war vielleicht die Prophezeiung von Friedrich Hölderlin wahrgeworden, der da, wo Gefahr war, auch das Rettende wachsen sah. Oder die Welt hatte tatsächlich begriffen, dass es in Sachen Klimaschutz so um die 12 Uhr war. Schon einmal hatte ja die Weltgesellschaft in einer ähnlich prekären Situation in letzter Sekunde das Ruder herumgerissen, als sie zur Rettung der lebensnotwendigen Ozonschicht im Montreal-Abkommen die FCKW verbot.“

In seinem Artikel stellte Schöndorf die Möglichkeiten zur Nutzung und Weiterentwicklung erneuerbarer Energien dar, um die CO2-Emissionen mittelfristig erheblich zu senken und so einen weiteren Temperaturanstieg zu verhindern. Da sei „vorsichtiger Optimismus“ angebracht. „In jedem Fall bedeutet Paris, dass die Staaten in der Falle ihrer Selbstverpflichtung sitzen. Auch wenn es keine völkerrechtlich verbindlichen Sanktionsregeln gibt: Wer sich jetzt drückt oder zu bluffen versucht, steht zu Recht am Pranger der vertragstreuen Staaten sowie der überall mächtiger werdenden NGOs und Umweltverbände.“

Schöndorf sah „in den Köpfen der Menschen eine Trendwende geschafft“. „Jetzt geht es in eine andere Richtung und dieser Richtungswechsel kann eine neue Zuversicht generieren, kann dem Engagement zur Klimarettung einen neuen Schub verleihen.“ Inzwischen wissen wir, dass die „Mühen der Ebene“ noch viel schwieriger zu bewältigen sind als gedacht.

Am Schluss seines Artikels proklamierte Schöndorf ein Widerstandsrecht, wenn beispielsweise der Ausstieg aus der Kohle torpediert werde: „Dann werden sich hoffentlich viele an Wackersdorf, Whyl und Brokdorf erinnern, wo die Umweltbewegung ihre großen Erfolge gefeiert hat, und werden Kohlekraftwerke besetzen und Tagebaue blockieren. Denn es gibt da ein Ziel, auf das sich alle Staaten der Welt am 12. Dezember 2015 geeinigt haben: Die Erde zu retten. Wenn der Zweck die Mittel heiligen kann, dann jetzt.“

Bei allem Ernst der Lage hat Erich Schöndorf sich immer einen Sinn für den künstlerischen „Gegenentwurf“ und für die Satire bewahrt. In seinem Westerwälder Heimatort Greifenstein, in dem Erwin Piscator geboren wurde, für dessen Denkmal dort er sich einsetzte, hat er mit Laiengruppen Theaterstücke aufgeführt. Und in BIG hat er hier und da satirische Texte veröffentlicht – „wo die Satire doch“, schrieb er, „wie alle Kabarettisten übereinstimmend sagen, die einzig richtige Antwort auf den Unfug der Welt darstellt“.

 

Weitere Infos:

DokZentrum ansTageslicht.de: Ein ehemaliger Staatsanwalt gegen einen großen Chemiekonzern namens BAYER AG. Auf dieser Webseite findet sich u.a. auch die Aufzeichnung eines Interviews mit Erich Schöndorf.

Udo Hörster: Der Staatsanwalt des Holzgifte-Prozesses zieht Bilanz. In: Stichwort BAYER Nr. 1/1999

Herbert Stelz: Zermürbt und müde, DIE ZEIT Nr. 37/1996

https://www.zeit.de/1996/37/Zermuerbt_und_muede

Herbert Stelz: Wie im Mittelalter, DIE ZEIT Nr. 47/1996

https://www.zeit.de/1996/47/Wie_im_Mittelalter

 

Couragiert gegen Finanzkriminalität. Behördenversagen und staatlichen Blockaden zum Trotz

In einem Essay stimmte jüngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, Missstände aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schützen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku über einen der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und würdigt das langjährige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frühen 1990er Jahren das betrügerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfälischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „Hätte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst für grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen für die größten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in Müchen wegen Bilanzfälschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch Firmengründer Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefälschten Aufträgen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjähriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffällig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der Rentabilität ging, zunächst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie längst konkursreif waren. Weder die Aufsichtsräte noch externe Wirtschaftsprüfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden Fällen setzten erst einzelne Whistleblower die Aufklärung über kriminelle Machenschaften in Gang, während staatliche Behörden, wie etwa die zuständigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprägte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem für die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter Leerverkäufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakuläre Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnäckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner Aufklärungsarbeit ebenfalls auf massive Widerstände stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurück: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als Weltmarktführer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefüllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrüge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklärt die Vorgänge: Erhielt die Balsam AG Aufträge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der Auftragsbestätigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefälscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden Phantasiebeträge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis überhöhte Kredite vergeben. Um diese zurückzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den Finanzmärkten im Rahmen ganz legaler Geschäfte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugeführt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es ständig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall für den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wäre wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfälische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der Grünen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lässt nicht locker

Der ebenfalls über die Vorgänge bei der Balsam AG informierte Gründer von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die Vorwürfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen für glaubwürdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld für den Bereich Wirtschaftskriminalität zuständig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nächsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hätte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage später der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein Geständnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fünf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner späteren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. Firmengründer Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt übrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – für „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden Münchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnäckig jegliche Verantwortung für das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhängt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfüllt, den flüchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgeführt zu sehen bekommen.

Dass überhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private Wirtschaftsprüfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stützten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon früh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf Unregelmäßigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere Vorwürfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den Glücksspiel- und Pornosektor, Geldwäsche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft München und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschüchtern, einige Schlägertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da Leerverkäufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report über Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des Asiengeschäfts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestätigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschüchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklärte Dan McCrum gegenüber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefälscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie für Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des Lügengebäudes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und Gesprächen mit Shortsellern basierten, führten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) Unterstützt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft München wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht über die Wirecard Bank AG befasst war. Fünf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 über ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-Vorstände Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes Gespräch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg geführt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. Für die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im Kreditgeschäft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an Aufklärung über kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetäre Interessen verfolgen oder über interne Missstände informierte Angestellte betrügerischer Firmen sich vielleicht erst spät zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefährlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, München, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen Westfälischen), 7. März 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale Betrüger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wäre“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. März 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, München, 2021

 

 

 

 

 

Neues von Krause

Zum gewesenen ostdeutschen Politiker Günter Krause und seiner Karriere als Wirtschaftskrimineller wurde in der Ausgabe vom Februar 2018 in BIG Business Crime bereits ein längerer Beitrag veröffentlicht.

Zur Erinnerung: Der diplomierte und promovierte Ingenieur hatte zunächst in der späten DDR den Posten eines Kreissekretärs der Blockpartei CDU inne. Wie fast alle diese „Blockflöten“, deren Rolle sich in kritiklosem Abnicken von Vorgaben des „Bündnispartners“ SED erschöpfte, wechselte auch Krause im Herbst 1989 blitzschnell die Stichwortgeber und brachte es so in der allerletzten DDR-Regierung zum Staatssekretär. Zusammen mit dem bundesdeutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble unterzeichnete er damals den Einigungsvertrag. Beide zählten demzufolge nicht zu Unrecht als Hauptverantwortliche für die ungeheuren sozialen Verwerfungen während der sogenannten „Wiedervereinigung“ – zudem galten sie als Helfershelfer der Horden von Wirtschaftskriminellen, die ab dem 3. Oktober 1990 über die zumeist völlig ahnungslose ostdeutsche Bevölkerung herfielen.

Krause – nunmehriger CDU-Landesvorsitzende des nunmehrigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern – wurde dann wohl als Dankeschön für diese Unterschrift mit dem Posten eines Verkehrsministers der ersten gesamtdeutschen Regierung bedacht. Diesen musste er allerdings schon im Jahr 1993 – nach einer ganzen Reihe von Skandalen – wieder räumen, verlor dann auch sein Abgeordnetenmandat im Bundestag und zog sich dann ganz aus der Politik zurück. In den Folgejahren geriet er dafür regelmäßig wegen seiner Verwicklung in wirtschaftskriminelle Machenschaften in die Schlagzeilen der Presse und landete vor den Schranken diverser Gerichte.

Der neuerliche Skandal um Krauses kriminelle Machenschaften scheint allerdings eher von bescheidenem Umfang zu sein: Es geht um simplen Betrug. Krause hatte während eines Insolvenzverfahrens Einkünfte in Höhe von etwa 370.000 Euro verheimlicht – es waren wohl hauptsächlich Honorare für öffentliche Fernsehauftritte sowie Erlöse für eine Buchveröffentlichung. Die Einkünfte hatte er unter Nutzung der spanischen Firma seiner Frau versteckt, sie so dem Insolvenzverwalter und den Gläubigern vorenthalten.

Krause hat mittlerweile ein vollumfängliches Geständnis abgelegt und wird höchstwahrscheinlich mit einer Verurteilung auf Bewährung davonkommen.

Quellen:

Ex-Bundesverkehrsminister Krause wegen Betruges vor Gericht

https://www.berliner-zeitung.de/news/ex-bundesverkehrsminister-krause-wegen-betruges-vor-gericht-li.384837

Günther Krause legt Geständnis ab

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/guenther-krause-ex-bundesverkehrsminister-legt-in-bankrott-prozess-gestaendnis-ab-a-70cad694-a8ca-47e7-bec3-9fb9ad2be059

Erdoğans Wahlsieg

Der erneute Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei trotz desolater wirtschaftlicher Lage und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich nur erklären, wenn man den Charakter seines Regimes ins Auge fasst. Der investigative Autor Jürgen Roth, seinerzeit Mitherausgeber von BIG Business Crime, hat in seinem 2017 erschienenen letzten Buch: „Die Neuen Paten – Trump, Putin, Erdoğan, Orbán & Co. Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedrohen“ einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis geleistet. Er wandte sich dagegen, bloß von einem „neuen Autoritarismus“ zu reden, wie es heute üblich ist. Es handele sich vielmehr bei den „Neuen Paten“ um eine „gelungene Fusion von politischer und krimineller Macht“, die alle Sphären der Gesellschaft mit Korruption durchdringt, demokratische Kontrollen außer Kraft setzt und Opposition kriminalisiert – auch wenn noch mehr oder weniger „freie“ Wahlen bestehen.

Jürgen Roths Thesen dazu: „Die Neuen Paten haben den Staatsapparat nicht nur übernommen, vielmehr sind sie die Capo dei Capi des Staatsapparates geworden. Damit ihre Politik von der Gesellschaft akzeptiert wird, bedienen sie sich einer rassistischen, nationalistischen und autoritären Ideologie. Daher sind auch die Neuen Paten, wie die italienischen Mafien, eng mit rechtsextremen Bewegungen und Parteien verbunden… Beide Systeme, das der klassischen Mafien und das der Neuen Paten, regieren mit der Angst ihrer Untertanen und sind zutiefst undemokratisch. Beide zeichnen sich durch ein ihrem Wesen nach elitäres, antidemokratisches und dem Gleichheitsgrundsatz widersprechendes Grundmuster aus.“

Erdoğan spielte meisterhaft auf dem Klavier der Ängste und der gesellschaftlichen Spaltungen: Angst vor dem „Terror“ der kurdischen Minderheit – selbst wenn diese nur Mit- und Selbstbestimmung in einem föderal aufgebauten Staat fordert. Angst vor „globalistischen“ Drahtziehern, die die Türkei mit Modernismen wie LBGTI überfremden wollen. Das Muster ist bekannt.

Dass sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP dann in der Stichwahl darauf auch mit ähnlichen Mittel zu antworten versuchte – er versprach, die unliebsamen syrischen Flüchtlinge schnell aus dem Land zu werfen und nahm eine weitere rechte Partei mit ins Boot – hat ihm nichts genützt.

Dennoch: Erdoğan erhielt nur wenig mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Das zeigt, dass Widerstand gegen sein Regime nach wie vor vorhanden ist.

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen bekam das linksgrüne „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ immerhin 10 Prozent der Stimmen – vor allem von Kurdinnen und Kurden, weil deren unter einer Verbotsdrohung stehende Partei HDP dazu aufrief.

In seiner Wahlanalyse auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Murat Çakır auf, welche schweren Aufgaben vor der Opposition in der Türkei liegen: „Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP (Erdoğans Partei) und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.“ („Die Türkei hat gewählt“, 15. Mai 2023)

Quelle:

https://www.rosalux.de/news/id/50409/die-tuerkei-hat-gewaehlt

Eine Matinee zu Krieg und Frieden

Seit 2006 veranstaltet Business Crime Control zusammen mit der KunstGesellschaft in Frankfurt am Main Matineen zu politischen und kulturellen Themen. Inzwischen sind es an die 200 Veranstaltungen geworden. Nach einigen Wechseln des Ortes finden sie seit vielen Jahren monatlich einmal im Club Voltaire statt. Hier eine exemplarische Auswahl: „Rechts macht auf links. Die national-soziale Gefahr“ mit Prof. Dr. Klaus Dörre, 2018; „Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart“ mit Prof. Dr. Armin Pfahl-Traughber, 2019; „Rechte Allianzen bedrohen die offene Gesellschaft“ mit Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer, 2020; „Patente töten“ mit Anne Jung von medico international, 2021; „Wasser ist Leben“ mit Prof. Dr.-Ing. Franz-Bernd Frechen, 2022; „Kulturelle Prägungen und Politik“ mit Prof. Dr. Dieter Kramer, 2022.

Am 26. Februar dieses Jahres war Nicole Deitelhoff, Professorin an der Frankfurter Universität und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Gast in der Matinee, mit dem Thema: „Putin und der Krieg. Kann es eine Verhandlungslösung im Ukrainekonflikt geben?“ Moderiert wurde die Matinee, wie viele vorher, von der Journalistin Ulrike Holler. Das zahlreich erschienene Publikum im Club Voltaire erwartete von der Referentin, die es von Fernsehinterviews und Auftritten in Talkshows her kannte, Antworten auf drängende und bedrängende Fragen: Wie hat sich der Konflikt entwickelt? Hätte es Alternativen gegeben? Welche Interessen sind im Spiel? Wie soll es weitergehen mit dem Krieg in der Ukraine? Welche Chancen für einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen gibt es? Wie könnte eine neue Friedensordnung in Europa erreicht werden?

Nicole Deitelhoff skizzierte zunächst ihre Position: Putin sei eindeutig der Aggressor, die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung, bei der ihr auch mit Lieferung von Rüstungsgütern geholfen werden solle, solange kein Waffenstillstand möglich ist. Auch was die Vorgeschichte des Krieges betrifft sah sie – zunächst – keine weitere Mitverantwortung des Westens. Der Beitritt osteuropäischer Länder zur NATO sei schließlich durch Abmachungen mit Russland abgefedert worden: Keine ständige Stationierung westlicher Truppen in diesen Ländern; NATO-Russland-Rat als vertrauensbildende Maßnahme; bisher keine Aufnahme der Ukraine in das nordatlantische Bündnis trotz entsprechender Bestrebungen. Eine Täter-Opfer-Umkehr, wie sie in Teilen der Protestbewegung gegen den Krieg beobachtet werden könne, sei deshalb falsch und nicht angebracht.

Nach Fragen aus dem Publikum differenzierte die Friedens- und Konfliktforscherin allerdings ihre Aussagen in diesem Punkt: So habe die USA Russlands Sicherheitsinteressen verletzt, beispielsweise durch ihre Präsenz im Schwarzen Meer und ihre treibende Rolle im Jugoslawienkrieg. Nach dem Ende der Sowjetunion sei nicht das von Gorbatschow vorgeschlagene „gemeinsame Haus Europa“ angestrebt und verwirklicht worden. Ansätze dazu wie die im Kalten Krieg geschaffene OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, seien nicht weiter verfolgt und ausgebaut worden. Stattdessen habe es einen Rückfall in alte Strukturen gegeben.

In einem im letzten Jahr erschienenen Beitrag für die Blätter für deutsche und internationale Politik hatte Deitelhoff ihre Haltung dazu wie folgt dargelegt: „Trotz aller Rede von der Zeitenwende … sollte Vorsicht walten, wegen dieser Entwicklungen alle Erfahrungen und bisherigen Grundlagen einer kooperativen Sicherheitsordnung zu verwerfen.“ Es zeige sich gerade in der gegenwärtigen Situation, „dass die ausschließliche Ausrichtung an Abschreckung keine belastbare Grundlage für Stabilität ist“.

Auf die Frage, wie es denn im Ukrainekrieg weitergehe, antwortete Nicole Deitelhoff, dass gegenwärtig noch beide Seiten fest davon überzeugt seien, die andere militärisch in die Knie zwingen zu können. Sie glaube persönlich nicht daran, dass dies möglich ist. Die Siegespropaganda auf beiden Seiten sei ein Mittel der psychologischen Kriegsführung nach innen und außen. Gewaltkonflikte hätten eine hohe Eigendynamik, bei der auch Unwägbarkeiten, Unerwartetes und das Glück mitspielten.

Wie aber solle man unter diesen Umständen aus der destruktiven Gewaltspirale mit ihren grausamen Folgen und der Gefahr einer Ausweitung des Krieges bis hin zum Einsatz von Atomwaffen herauskommen? Es gehe darum, so Deitelhoff, „aus einem unteilbaren Konflikt eine Teilbarkeit zu machen“. Das bedeute, die bereits ständig laufenden Verhandlungen zu Einzelfragen wie dem Getreideexport aus der Ukraine oder dem Austausch von Gefangenen fortzusetzen und auszuweiten. International müsste sich unter Beteiligung der UNO eine Gruppe von Staaten zusammenfinden, die sich, wie Indien und China, bisher eher oder teilweise neutral zum Konflikt verhalten haben, um eine Vermittlungsebene zu schaffen als Basis für künftige Verhandlungen.

Nicole Deitelhoff gebrauchte in diesem Zusammenhang das Bild von einem Zitronenbaum, um den heftig gestritten wird. Die unproduktivste Lösung sei es, ihn in Stücke zu zerschneiden. Davon hat niemand wirklich etwas, denn dann wäre er tot. Die Teilung seiner Früchte sei sinnvoller, aber dazu brauche es Zeit und Geduld, um sie wachsen zu lassen.

Entsprechend Zeit werde eine Lösung im Ukrainekonflikt benötigen. Die Umrisse dazu beschrieb Deitelhoff ganz ähnlich so, wie sie sich schon einmal bei den Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im Frühjahr 2022 abgezeichnet hatten, die dann abgebrochen wurden: Verzicht der Ukraine auf eine Mitgliedschaft in der NATO, mit Sicherheitsgarantien durch andere Länder. Sicherheitsgarantien müsse es auch für Russland geben. Rückzug der russischen Truppen und Aufhebung der Sanktionen. Zurückstellen aller territorialen Fragen und zivile UN-Verwaltung in den umstrittenen Gebieten für die nächsten 15 Jahre. Danach international organisierte und überwachte Referenden im Donbass und auf der Krim, um deren Status zu klären.

Bis dahin werde es eine andere Generation von Entscheidern in Russland und in der Ukraine geben, die zu einer dauerhaften Lösung des Konflikts fähiger und bereiter sein würde als die jetzige. Was an dieser Stelle noch einmal besonders auffiel, war das Fehlen einer politisch-ökonomischen Analyse der Kriegsursachen und der Interessen am und im Krieg. Damit befand sich die Referentin aber im Einklang mit der Mehrheit ihrer wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen. Näheres dazu kann man dem sehr lesenswerten Dossier „Quo vadis Friedensforschung?“ entnehmen, das als Beilage zur Zeitschrift Wissenschaft und Frieden Nr. 1/2023 erschienen ist.

Für die Protestbewegungen gegen Krieg und Militarisierung zeigte Nicole Deitelhoff Sympathien. Sie teile durchaus deren Ziele. Die gegenwärtige Friedensbewegung befinde sich aber in dem Dilemma, dass die Forderung nach einem sofortigen Stopp der militärischen Hilfe für die Ukraine bedeuten würde, dass Russland siegt und gar kein Interesse mehr an Verhandlungen hat. Die unkonditionierte Lieferung von immer weiteren Waffen wiederum verlängere den Krieg und widerspräche somit erst einmal dem Ziel, Frieden zu schließen.

Die unterschiedlichen Auffassungen zu dieser und anderen Fragen, die den Krieg in der Ukraine und seine Folgen betreffen, führten in der Matinee nicht, wie so oft, zu gegenseitigen Vorwürfen mit negativen Etikettierungen. Die Diskussion blieb, mit wenigen Ausnahmen, weitgehend sachlich und solidarisch. Damit war, zumindest im Kleinen, für zwei Stunden schon einmal etwas an Friedensfähigkeit gewonnen.

Als Fazit und Aufforderung sei hier zitiert, was Nicole Deitelhoff an anderer Stelle geschrieben hat: „Ja, wir sind wieder zurück auf Null. Doch angesichts der gewaltigen Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht – die drängendste ist zweifellos die Abwendung der Klimakatastrophe –, können wir es uns schlicht nicht leisten, lange an diesem Nullpunkt stehen zu bleiben.“

 

Der Kampf um das fossile Geschäftsmodell. Eine Studie untersucht die Macht der Gaslobby

Die fossile Energiewirtschaft steht unter erheblichem Druck. Zum einen wird sie von denjenigen attackiert, die wirksamen Klimaschutz unter kapitalistischen Bedingungen nicht für möglich halten. Zum anderen drängen Stimmen in den Vordergrund, die den Kapitalismus eher als Lösung des Problems sehen denn als Zerstörer der planetarischen Lebensgrundlagen. Würden Investitionen in erneuerbare Energien gegenüber fossilen größere Profite versprechen, heißt es etwa im Wochenblatt Die Zeit, sei international ein Wettrennen um die Erneuerbaren zu erwarten – und damit eine rettende Klimaschutz-Dynamik auf Basis nachhaltiger Energieträger (vgl. Die Zeit vom 23. Februar 2023).

Es wundert also nicht, dass die Gaswirtschaft erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die eigene Existenz zu legitimieren. Mit Erfolg, denn ihr Lobbyismus zeigt offenbar durchschlagenden Erfolg, wie eine Mitte Februar veröffentlichte umfangreiche Studie des Vereins LobbyControl eindrücklich belegt. Auf Basis einer Auswertung der Daten des seit über einem Jahr bestehenden Lobbyregisters werden die Kanäle untersucht, über die die großen deutschen Gaskonzerne und ihre Lobbyverbände Einfluss auf die Politik nehmen. Dabei liegt ihr Fokus auf den einflussreichsten Schlüsselfiguren und deren Netzwerken. Insbesondere habe der massive Lobbyeinfluss dazu geführt, dass die „Erzählung“, fossiles Erdgas sei ein klimafreundlicher Energieträger und somit wichtiger Teil der Energiewende, von der Bundesregierung übernommen worden sei – auf Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Dieser Einfluss setze sich aktuell beim Aufbau der LNG-Infrastruktur fort.

LobbyControl beschreibt aber nicht nur bestehende Missstände, sondern beansprucht auch, die notwendigen politischen Veränderungen im Verhältnis von Politik und Gasindustrie in Form eines Forderungskatalogs aufzeigen zu können.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind im Folgenden zusammengefasst:

– Viele Treffen und privilegierte Zugänge

Nach weitgehender Stilllegung der „Russland-Netzwerke“ wirkt der Lobbyismus in der aktuellen Regierung fort. So trafen sich von Dezember 2021 bis September 2022 Vertreter:innen der großen Gaskonzerne im Schnitt einmal täglich mit Spitzenpolitiker:innen der Bundesregierung (mehr als 260 Mal). Wie es in der Studie heißt, sei das deutlich mehr als bei den Vorgängerregierungen. Mit Umweltverbänden oder anderen energiepolitischen Akteuren gab es dagegen nicht annähernd so viele Treffen. Die Lobbymacht der großen Konzerne wie Uniper, Wintershall DEA oder RWE wurde zudem durch energieintensive Unternehmen wie BASF unterstützt. Gemeinsam mit der Gasindustrie übten sie Druck auf die Politik aus, um auf genügend kostengünstiges Gas zugreifen zu können.
Die Gaskonzerne sind weiterhin äußerst aktiv, vor allem auch mit Blick auf das Projekt eines massiven Ausbaus der LNG-Infrastruktur, das große neue fossile Geschäftsfelder eröffnen soll.

Als besonders pikantes Detail sei auch genannt, dass die Deutsche Energie-Agentur (DENA) der Gasindustrie einen privilegierten Zugang in das Bundeswirtschaftsministerium anbietet. Bei der DENA handelt es sich um eine im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gegründete, von der Rechtsform her private, tatsächlich aber mehrheitlich bundeseigene GmbH. Ihre Aufgabe besteht darin, die Regierung in energiepolitischen Fragen zu beraten. Stattdessen aber, schreibt LobbyControl, fungiere sie als „Lobbykanal für Unternehmen“. Soll heißen: Die Regierung toleriert den Gaslobbyismus nicht nur, sondern fördert ihn sogar. Das Unternehmen sorgt dafür, dass im Rahmen verschiedener Austauschformate einseitig Wirtschaftsvertreter:innen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, während Umwelt- oder Verbraucherschutzverbände weitgehend außen vor bleiben. Die DENA wird folgerichtig nicht nur vom Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch aus privaten Quellen finanziert (z.B. von den Energiefirmen Wintershall DEA, Eon oder Exxon Mobil).

Ein Zitat aus der Studie:
„Auf diese Weise entstand auch die Gasstrategie der Bundesregierung: Sie wurde weitgehend von der Industrie selbst formuliert und räumte Gas eine entsprechend große Rolle in der deutschen Energiepolitik ein. Auch unter Wirtschaftsminister Habeck wirken die gasfreundlichen Netzwerke und Strukturen rund um das Ministerium weiter – sei es durch gasfreundliches Personal im Ministerium, durch weiterhin aktive Lobbyverbände mit guten Zugängen ins Ministerium und weiterhin bestehende gasfreundliche Strukturen innerhalb der DENA. Gaskonzerne sind infolge der Energiekrise noch enger in die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sowie des Bundeskanzleramts eingebunden als zuvor.“ (Seite 7)

– Hohe Ausgaben

74 Unternehmen und zwölf Lobbyverbände der Gaswirtschaft, die sich im Lobbyregister finden lassen, gaben im Jahr 2021 zusammen rund 40 Millionen Euro pro Jahr für Lobbyarbeit aus und beschäftigten dabei 426 Personen. Hinzuzurechnen sind weitere Millionensummen aus der gasverbrauchenden Industrie sowie die Lobbyausgaben von Gazprom und dessen Tochterkonzernen, die sich seinerzeit nicht ins Lobbyregister eingetragen hatten. Zum Vergleich: Die drei größten Umweltverbände, die sich für den Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas engagieren, verfügten in dieser Zeit insgesamt nur über 1,5 Millionen Euro für ihre Lobbyarbeit (Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und BUND). Laut Lobbyregister arbeiten lediglich zwischen 83 und 110 Lobbyisten für diese drei Organisationen.

– Enge personelle Verbindungen

LobbyControl spricht von mindestens 30 ehemaligen Politiker:innen, die als gut bezahlte Seitenwechsler für die Lobbyabteilungen der Gasindustrie arbeiten. Neben Gerhard Schröder, der dem „russischen Gas“ den Zugang zu wichtigen SPD-Minister:innen ebnete, handelt es sich zum Beispiel um Kerstin Andreae, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen nun die mächtige Lobbyorganisationen BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) leitet und über einen guten Draht ins grün geführte Wirtschaftsministerium verfügt. Aus dem christdemokratischen Spektrum fungiert der ehemalige CDU-Abgeordneter und parlamentarische Staatssekretär Friedbert Pflüger als Aufsichtsratsvorsitzender des Lobbyverbands Zukunft Gas.

Auch zwischen Wirtschaftsministerium und Gasbranche gebe es enge Verflechtungen, schreibt LobbyControl. Minister Habeck (Die Grünen) habe zwar nach Amtseintritt die Führungskräfte seines Hauses ausgewechselt, die Abteilung „Wasserstoff und Gas, Energieeffizienz in Industrie und Gewerbe“ werde aber auf Ebene der Unterabteilungs- und Referatsleitung noch immer mit Personen besetzt, „die über Jahre enge Verbindungen mit der Gasindustrie gepflegt haben“ (Seite 80).

– Die Forderungen von LobbyControl

Die Gaskonzerne drängen nachdrücklich auf den Erhalt ihres fossilen Geschäftsmodells. Soll ein Ausstieg aus dem fossilen Energieträger Gas aber gelingen, so LobbyControl, müssten die Lobbynetzwerke zurückgedrängt werden. Zumindest sei „mehr Ausgewogenheit in der Beteiligung verschiedener Interessengruppen sowie mehr Transparenz über politische Entscheidungsprozesse“ (Seite 5) zu gewährleisten. Insbesondere, da sich seit Beginn des Ukraine-Krieges die Kontakte zwischen Gasindustrie und Politik intensiviert hätten. Zudem fordert LobbyControl eine sogenannte Lobby-Fußspur, „die Kontakte zwischen Spitzenpolitiker:innen und -beamten mit Lobbyakteuren offenlegt und sichtbar macht, welche Interessen von Unternehmen oder Verbänden in konkreten Gesetzgebungsprozessen Berücksichtigung gefunden haben und welche nicht“ (Seite 43). Weitere Forderungen lauten: Das Sponsoring sollte offengelegt und begrenzt, die bestehenden Regeln für Seitenwechsel aus der Politik in die Wirtschaft und in Lobbyjobs verschärft, Akteure mit Anliegen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, Soziales und Menschenrechte in gleichem Maße angehört werden. Außerdem sollen Lobbynetzwerke und -arbeit autoritärer Staaten deutlich stärker kritisch in den Blick genommen sowie die Macht von Konzernen über das Kartellrecht und weitere Regulierungsmaßnahmen eingeschränkt werden.

– Fazit

Bei der Vorstellung der Studie in Berlin verwies Co-Autorin Nina Katzemich darauf, dass sich die Gaslobby als Partner der erneuerbaren Energien inszeniere. Dabei werde bewusst vernachlässigt, dass Gas ein fossiler und eben kein nachhaltiger Energieträger sei (vgl. Berliner Zeitung vom 15. Februar 2023). Das Narrativ von Erdgas als vermeintlich saubere und klimafreundliche „Brückentechnologie“ habe sich erfolgreich durchgesetzt. Völlig zu Unrecht: Die letzten Bundesregierungen, heißt es schon zu Beginn der Studie, hätten es verpasst, rechtzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien einzuleiten. Die Folgen für die Gesellschaft seien verheerend: „Es drohen weitere erhebliche Klimaschäden, milliardenschwere Fehlinvestitionen zulasten der Steuerzahler:innen, enorme Preissteigerungen sowie möglicherweise sogar Versorgungsengpässe.“ (Seite 5)

Die vorliegende 108-seitige Studie von LobbyControl weist nach: Die Erdgaslobby ist so einflussreich wie eh und je. Die akribische Untersuchung des Transparenz-Vereins leistet aber das, was sie verspricht: Sie wirft ein erhellendes Licht auf die „Schattenpolitik“ der Giganten des Gasmarkts.Quellen:

„Pipelines in die Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland“, hrsg. von LobbyControl e.V. (Autorinnen: Dr. Christina Deckwirth und Nina Katzemich), Köln, Februar 2023

Jochen Bittner: „Der Weltuntergang fällt aus“, Die Zeit vom 16. Februar 2023

Christine Dankbar: „Neue Studie: LobbyControl warnt vor fortgesetztem Einfluss der Gasindustrie“, Berliner Zeitung (Online) vom 15. Februar 2023

Der Artikel ist der Beilage der Zeitschrift Stichwort Bayer, Ausgabe 2/2023 entnommen.

 

 

“Bürger, schützt Eure Banken!“

Im Caricatura Museum in Frankfurt am Main ist bis 19. März eine Ausstellung zur Geschichte der satirischen Zeitschrift „Pardon“ zu sehen, die von 1962 bis 1982 erschien. Einer der beiden Kuratoren der Ausstellung ist Gerhard Kromschröder, der als „Pardon“-Redakteur zusammen mit Nikolaus Jungwirth 1971 die satirische Initiative „Bürger, schützt Eure Banken!“ gründete. Prominente, die gebeten wurden, die Initiative zu unterstützen, fielen prompt auf sie herein, wie Alfred Dregger, der stramm rechte damalige Vorsitzende der CDU Hessen, sowie der damalige Chef des Bundeskriminalamts Horst Herold. Wir haben Gerhard Kromschröder im Rückblick auf diese Aktion ein paar Fragen gestellt.

Mit Ihrer vermeintlichen Bürgerinitiative war damals der Schutz vor Bankräubern gemeint, die man angeblich an verdächtigem Verhalten vor Banken erkennen sollte. Erscheint heute angesichts von Cum-Ex-Betrügereien und Geldwäsche auch mit Hilfe von Banken eine derartige satirische Aktion überhaupt noch denkbar, und wenn ja, wie könnte sie aussehen?

Kromschröder: Aber immer! Die Leute sind ja viel leichtgläubiger als wir wahrhaben wollen. Und die Banken umgibt in der allgemeinen Wahrnehmung immer noch, trotz aller Skandale, eine Aura der Seriosität. Was sich im Moment abspielt, könnte man durchaus mit einer Satire verdeutlichen, die unserer damaligen Aktion ähnelt: Die Banken werden geschützt, diesmal von oben, trotz aller Betrügereien; sie werden gepampert, und ihre Schulden übernimmt die Allgemeinheit.

Am Schluss des damaligen Artikels in „Pardon“ zu Ihrer Aktion wurde der Brecht-Spruch zitiert: “Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” Sind die Banken inzwischen nicht längst in gewisser Weise selber zu Räubern geworden?

Kromschröder: Natürlich, denn sie sind das, was sie schon immer waren: eher mafiöse Vereinigungen als selbstlose, dem Allgemeinwohl verpflichtete Verwahr- und Vermehrungsanstalten von ihnen anvertrautem Geld.

Könnte oder sollte man „Bürger, schützt Eure Banken!“ heute nicht zeitgemäß neu interpretieren, zum Beispiel als präventive Aufforderung, die Geldinstitute unter öffentliche, demokratische Kontrolle zu nehmen?

Kromschröder: Das ist längst überfällig. Es wird endlich Zeit, dass sich die Bankkunden nicht länger an der Nase herumführen und abmelken lassen, zum Beispiel durch hohe Gebühren und wenig Zinsen; es geht nicht an, dass die Banken weiter die Politik vor sich hertreiben und es so immer wieder schaffen, die Schäden, die sie verursachen, auf die Gesamtbevölkerung abzuwälzen. Statt „Bürger, schützt Eure Banken!“, wie bei uns vor 50 Jahren, könnte der Slogan heute dann vielleicht lauten: „Bürger, übernehmt Eure Banken!“

 

Gerhard Kromschröder hat als investigativer Journalist unter anderem Reportagen über Neonazis, Giftmüll-Skandale und zur Flick-Spendenaffäre gemacht. Mit Günter Wallraff zusammen entwickelte er die Methode der Undercover-Recherche. Berichte darüber veröffentlichte er unter dem Titel „Ich war einer von ihnen“ 1987 im Eichborn Verlag. Ab 1989 war Kromschröder dann Nahost-Korrespondent des Stern. Während des ersten Irak-Kriegs arbeitete er als einziger deutscher Journalist und Fotoreporter im bombardierten Bagdad. Zum zweiten Irak-Krieg erschien sein Buch „Bilder aus Bagdad – Mein Tagebuch“, in dem er seine Erfahrungen als Kriegsreporter beschrieb. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit dem Schriftsteller Gerhard Henschel mehrere Fotobände, bei denen sie sich auf die Lebensspuren verschiedener Dichter begaben, von Wilhelm Busch bis Arno Schmidt.

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untätige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klären, ob führende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre später, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag für den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die Geschäfte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurück – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon häufig für Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum größten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig übernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben für die beiden Bundesländer trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle Geschäfte zu Lasten der öffentlichen Hand einfädelten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich während der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die Vorgänge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafür sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das Düsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das Geschäftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor über sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den Geschäften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt hätten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten Steuerschäden belaufen sich ebenfalls auf hohe Millionenbeträge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurückhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker übt sich die Justiz tatsächlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit Gefängnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. Während aber bislang vier Täter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spätestens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurückzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wäre. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwändiges Verfahren handele, gäbe es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro müssen letztlich viele hochkomplexe Aktiengeschäfte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt für die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, für die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, Rückstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die Steuerrückforderungen übernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwärtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und Schlüsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwähnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 übernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frühere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklärt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von Grünen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der früheren WestLB aufklären.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche Leerverkaufsgeschäfte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen Wirtschaftsprüfer und in enger Kooperation mit den zuständigen Behörden würden alle in Frage kommenden Geschäftsvorgänge in dem Zeitraum untersucht. Nach der Ankündigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (…) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-Geschäften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurückgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdächtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch für die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit Milliardenbeträgen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der Prioritätenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

Aufsichtsräte wissen von nichts

Zu den auffallend zurückhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit Landräten, Oberbürgermeistern und Sparkassenvorständen, sind keinerlei Versuche bekannt, die Aufklärung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen Geschäften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und späterer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als Aufkäufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezügliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse über missbräuchliches Verhalten der Landesbank vorliegen würden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, ebenfalls recht dürftig: „Während meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht über das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschäftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „Wirtschaftsgrößen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. Verwaltungsräten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hätten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen Geschäfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (…) Die Cum-Ex-Geschäfte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen Geschäften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese räumen mit naiven Annahmen auf, der Staat würde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkämpften Geschäftsfeldern wie die privaten Banken und müssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die Führungskräfte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe Gehälter und Boni.

Die bizarre Geschäftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprünglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ Geschäftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr Auslandsgeschäft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen Gründen per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die Geschäftsführungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu führen. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten Geschäftspolitik noch nie einschränken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante Geschäfte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund geführt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und Verwaltungsräte, zur Aufklärung über die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lässt auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darüber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht für das „marktübliche“ internationale Investmentgeschäft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen Träger) fähig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hält ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne Täter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu früh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html

Das Ende von Demokratie und Staat – Die visionäre Heilsbotschaft des Tech-Milliardärs Peter Thiel

Im Mai 2022 beschrieb Die Zeit ganzseitig den Persönlichkeitskult um Elon Musk, Chef von Tesla, Twitter und dem Raumfahrtunternehmen SpaceX. Für den TV-bekannten Start-up-Investor Frank Thelen ist er „der größte Architekt der Menschheitsgeschichte“. Die Kombination von zur Schau gestelltem Machertum und dem Versprechen einer leuchtenden technologischen Zukunft lässt seine Anhängerschaft offenbar stetig wachsen: „Mit Tesla will er den Klimawandel stoppen, mit Twitter die Meinungsfreiheit retten, seine Lieblings-Kryptowährung Dogecoin soll nicht die Finanzelite reich machen, sondern ‚the people‘s crypto‘ sein“. Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonao bezeichnete ihn nicht weniger euphorisch als „Mythos der Freiheit“. Dies nicht gerade zufällig: Seit Monaten wird berichtet, dass Musk politisch nach rechts driftet, sich für Verschwörungserzählungen anfällig zeigt, für die Republikanische Partei und für den Ex-Präsidenten Trump wirbt. Ob die Übernahme und somit absolute Kontrolle über den Kurznachrichtendienst Twitter, einer wichtigen globalen Informationsplattform, sein Image auch bei vielen seiner bisherigen Fans beschädigen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

„Die Erziehung eines Libertären“

Ähnlich einflussreich wie die Kultfigur Musk, aber weitaus weniger im öffentlichen Rampenlicht stehend, ist der aus Frankfurt am Main stammende US-Milliardär Peter Thiel. Auch der Gründer des Online-Bezahldienstleisters PayPal und erste Großinvestor bei Facebook setzt auf die Republikaner: Im Jahr 2016 verhalf er mit gigantischen Summen Donald Trump zur Präsidentschaft. Seine provokanten politischen Überzeugungen legte der libertäre Vordenker der politischen Rechten in den USA in zahlreichen Vorträgen, Essays und Buchpublikationen dar. So zum Beispiel im Frühjahr 2009 in dem vielbeachteten Essay „The Education of a Libertarian“, den er auf Einladung der ultrakonservativen Denkfabrik Cato Institute vorlegte. Persönliche Freiheit sei das höchste Gut überhaupt, heißt es dort zu Beginn. Er stemme sich gegen Steuererhebungen, die „beschlagnahmenden“ Charakter hätten, lehne totalitäre Systeme ebenso ab wie die Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jeden Einzelnen: „For all these reasons, I still call myself ‚libertarian‘“.

Auch glaube er nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar seien. Das seit 1920 zu beobachtende gewaltige Anwachsen des Wohlfahrtsstaates und die Ausweitung des Frauenwahlrechts seien verantwortlich dafür, dass die Idee einer „capitalist democracy“ ein Widerspruch in sich sei. Soll heißen: Selbst eine moderate staatliche Politik des sozialen Ausgleichs und der demokratischen Mitsprache passe nicht zum Konzept der Freiheit, die mit dem Kapitalismus identisch ist. Dieser von ihm geäußerte Gedanke führe seiner Meinung nach zur eigentlichen Aufgabe der Libertären, einen Ausstieg aus der Politik in all ihren Formen zu finden. Er lege seinen Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien, die einen „neuen Raum für Freiheit“ schaffen könnten. Noch unentdeckte Gebiete müssten erschlossen werden, um neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszuprobieren. Als „technological frontiers“ nennt Thiel den Cyberspace, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere.

Wie Thiel weiter meint, habe er als Unternehmer und Investor seine Anstrengungen auf das Internet konzentriert. So wolle er eine von jeder Regierungskontrolle freie Weltwährung schaffen, um die Währungssouveränität der Staaten zu beenden. Konzerne wie Facebook hätten in den 2000er Jahren den Raum für einen neuen Umgang mit konfligierenden Interessen oder abweichenden Meinungen („new modes of dissent“) und neue Wege zur Errichtung von nicht an Nationalstaaten gebundene Gemeinschaften geschaffen. Der Weltraum bietet nach Thiel „eine grenzenlose Möglichkeit zur Flucht vor der Weltpolitik“. Die Raketentechnologie habe aber seit den 1960er Jahren nur wenige Fortschritte gemacht. Notwendig sei eine „Verdoppelung der Anstrengungen für die kommerzielle Raumfahrt“. Eine „libertäre Zukunft“ im All, wie sie bekannte Science-Fiction-Autoren beschrieben hätten, könne in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts möglich werden. Zwischen Cyberspace und Weltall verortet Thiel als Ideologe uneingeschränkter technologischer Machbarkeit die Besiedelung der Ozeane. Diese solle einen dauerhaften Lebensraum ohne jeden Einfluss von Staaten schaffen.

Weltraum und Militär

Thiels Karriere ist eng mit diversen US-Techriesen und mit dem militärisch-industriellen Komplex verknüpft. Sein finanzielles Engagement bei Facebook führte zu einer jahrelangen Freundschaft mit dessen CEO Marc Zuckerberg. Der Bezahldienst Paypal entstand aus einem Zusammenschluss von Firmen Thiels und Elon Musks im Jahr 2000. Die 2004 gegründete Datenanalyse- und Softwarefirma Palantir brachte Thiel schließlich 2020 an die Börse. „Palantir (‚sehender Stein‘)“, schreibt Werner Rügemer, „ist einer der wichtigsten Softwarezulieferer für die US-Geheimdienste FBI, CIA und NSA, aber auch für das Department of Home Security, für (…) Air Force, Marines und die US-Katastrophenschutzbehörde.“ (Rügemer, Seite 145) Trotz seiner behaupteten staatskritischen Attitüde als Libertärer entwickelte Thiel das Unternehmen Palantir mit seinen weltweit knapp 3.000 Mitarbeiter*innen zu einem engen Partner von Regierungen, Behörden, dem Militär und der Großindustrie.

In das von seinem ehemaligen Paypal-Kollegen Elon Musk im Jahr 2002 gegründete Weltraumunternehmen SpaceX investierte Thiel die ersten 20 Millionen Dollar (vgl. Wagner, Seite 95). Selbstredend gilt Thiel als großer Fan von Musks Projekt, den Mars zu besiedeln – er ist an dessen Finanzierung beteiligt (vgl. n-tv). Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass er nun auch in ein oberbayerisches Start-up investiert, das unbemannte Flugobjekte an die Ukraine liefert. Zusammen mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A steigt Thiel mit 17,5 Millionen Dollar bei der Drohnenfirma Quantum Systems ein. Bisher ist es bei deutschen Startups eher verpönt, offen im Rüstungssektor tätig zu werden – Investoren aus der Venture Capital-Branche schließen Investments in Rüstungsprojekten in der Regel aus. Quantum aber lieferte im Frühjahr die ersten Überwachungsdrohnen zur Ausspähung russischer Truppen an die Ukraine. Weitere sollen folgen. Da die Grenzen zwischen Aufklärungs- und Waffensystemen in Zeiten der vernetzten Kriegsführung immer mehr verschwimmen, fallen offensichtlich – mit kräftiger Unterstützung des Neuinvestors Peter Thiel – bei deutschen Startups zunehmend bisher vorhandene Hemmungen, sich militärisch zu engagieren (vgl. Handelsblatt vom 21. Oktober 2022 und Süddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2022).

Weltmeer und Seestädte

Wie stellt sich Thiel aber nun eine Gesellschaft der Zukunft vor, in der Freiheit im Sinne des Libertarismus handlungsleitend sein soll? In jedem Fall in Form „freier Räume“ jenseits staatlicher Regulation. Zum Beispiel auf hoher See, denn das Meer und ferne unbewohnte Inseln gehören scheinbar niemanden, sind also eine Welt, die nach Thiel und Co. nur darauf wartet, angeeignet zu werden.

„In der Geschichte des Kolonialismus“, heißt es in einem FAZ-Artikel von Theresia Enzensberger, „war das unbeschriebene Blatt schon immer eine nützliche Illusion. Das Niemandsland war für die kolonisierenden Seefahrer eine ganz selbstverständliche Erweiterung ihres geschichtslosen, unbeanspruchten Meeresraums.“ Deren Erben im heutigen Silicon Valley sähen sich als Pioniere, als Entdecker von neuen Möglichkeiten und Lebenswelten. „Wenn Elon Musk die indonesische Insel Biak gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung durch eine Startrampe in ein ‚Space Island‘ verwandeln will; wenn Peter Thiel in das Seasteading Institute investiert, das vorhat, künstliche Inseln zu errichten; wenn der Rohstoffhändler Titus Gebel in Honduras freie Privatstädte entwickelt, bei denen die Regierung durch einen ‚Staatsdienstleister‘ ersetzt wird, dann tun sie das alle im Namen der Aufklärung – wie schon die Seefahrer Jahrhunderte vor ihnen.“

Das genannte Seasteading Institute wurde 2008 von Patri Friedman gegründet – dem Enkel Milton Friedmans, des Begründers der Chicagoer Schule, und Sohn des Anarcho-Kapitalisten David Friedman. Sein Projekt, eine „radikal libertäre“ Seestadt zu entwickeln, wurde von Thiel durch eine Spende von einer halben Millionen Dollar ins Rollen gebracht (vgl. Kemper, Seite 62f.). Laut Wikipedia-Eintrag bezeichnet „Seasteading“ (engl. Sea [Meer] und homesteading [Besiedlung, Inbesitznahme]) das Konzept, Stätten dauerhaften Wohn- und Lebensraums auf dem Meer zu schaffen, außerhalb der von nationalen Regierungen beanpruchten Gebiete. Die Washington Post beschrieb im Jahr 2011 Thiels Ideen näher:

„Thiel believes these islands may be important in ‚experimenting with new ideas for government‘, such as no welfare, no minimum wage, fewer weapons restrictions, and looser building codes.“ („Thiel glaubt, dass diese Inseln wichtig sein könnten, um mit ‚neuen Ideen für Regierungen zu experimentieren‘, wie z.B. keine Sozialhilfe, kein Mindestlohn, weniger Waffenbeschränkungen und lockerere Bauvorschriften.“ Vgl. Hinweis und Übersetzung im „ZDF-Magazin Royale“ vom 11. Februar 2022)

Am Ende seines Essays „The Education of a Libertarian“ (2009) wünscht Thiel übrigens Patri Friedman für sein außergewöhnliches Experiment nur das Beste.

Kryptowährung

Thiel ist auch ein langjähriger Fan von Digitalwährungen wie etwa Bitcoin. Er wird nicht müde, gegen alle Barrieren anzukämpfen, die seinem Ziel im Wege stehen, eine von staatlichen Banken unabhängige Währung zu schaffen. Mit seiner Firma PayPal wollte er damit nichts weniger als das Weltfinanzsystem aus den Angeln heben. Zunächst profitierte er aber persönlich davon. Über seinen Founders Fund investierte er 2017 rund 20 Millionen Dollar in die Kryptowährung; schon Anfang 2018 soll sein Investment laut Manager Magazin hunderte Millionen Dollar wert gewesen sein.

Auf der Konferenz „Bitcoin 2022“ im April 2022 in Miami Beach griff Thiel dann die drei bekannten Größen der US-Finanzindustrie frontal an: Warren Buffett, den JP Morgan-Chef Jamie Dimon und Blackrock-Chef Larry Fink. Er machte sie für die aktuelle Kursschwäche der Kryptowährung verantwortlich und beschimpfte sie als „Finanz-Gerontokraten“, die sich gegen die „revolutionäre Jugendbewegung“ rund um die Digitalwährung Bitcoin verschworen hätten. Er warf ihnen vor, den Trend zu nachhaltigen Investitionsansätzen gegen Bitcoin-Anlagen zu stützen (wegen des hohen Stromverbrauchs beim Mining achten Investoren offensichtlich mittlerweile auf mehr Energieeffizienz). Das Handelsblatt kommentierte dies am 8. April 2022 wie folgt:

„Thiels Verbalattacke einfach als unschöne Stimmungsmache abzutun wäre (…) zu einfach. Denn seine Rhetorik ist gefährlich. Thiel spricht von ‚Feindeslisten‘, Buffett nennt er den ‚Feind Nummer eins‘, Nachhaltigkeitsansätze seien eine ‚Hassfabrik‘, die er mit der Kommunistischen Partei Chinas gleichsetzt. Sinngemäß drückt er damit aus: Bitcoin bedeutet Freiheit, alles andere ist Diktatur. (…) Um diesen Standpunkt zu legitimieren, inszeniert sich der 54-Jährige, ironischerweise je nach Betrachtung selbst schon ein alter weißer Mann, als Interessenvertreter einer Jugendbewegung. Doch erstens besteht gerade in der jungen Generation ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber der Umwelt. Während Thiel den Staat am liebsten abschaffen würde, befürworten gerade viele junge Menschen Einschränkungen zugunsten größerer Nachhaltigkeit.“

Thiels Jugendkult passt übrigens zu einzelnen von ihm geförderten Forschungsprojekten, die das Ziel verfolgen, den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten. Beispielsweise steckt er Geld in die Kryonik, einer Technologie, die es ermöglichen soll, Menschen nach ihrem Ableben einzufrieren, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutauen. Thiel erklärte bereits 2012, der Tod sei ein Problem, das sich lösen ließe. Laut Medienberichten wollte er an umstrittenen klinischen Tests teilnehmen, bei denen sich Erwachsene das Blut jüngerer Menschen spritzen lassen, um selbst wieder jugendlich frisch zu werden – in den USA als „Vampir-Therapie“ bekannt. Ende Oktober 2022 boten Internetportale dazu eine passende Meldung: Elon Musk hatte eine Reihe von Prominenten aus der globalen Tech-Szene und einzelne Hollywood-Stars zu einer Halloween-Party auf ein rumänisches „Dracula-Schloss“ eingeladen. Auch Peter Thiel stand auf der Gästeliste. Ein Sinn für skurrilen Humor ist den Tech-Milliardären kaum abzusprechen.

Königsmacher der neuen Rechten

Thiel hat allerdings bei öffentlichen Auftritten bestritten, ein Vampir zu sein. Das Manager Magazin hält in seiner Oktoberausgabe 2022 eine weitere Metapher für ihn bereit. Nach Auffassung des Blatts schürt Thiel schon lange Umsturzfantasien und greift als „Dark Lord“ nicht weniger als nach der politischen und gesellschaftlichen Macht in den USA. Sein Selbstverständnis zeigt eine mehrtägige Konferenz, zu der seine Capital-Venture-Firma Founders Fund Anfang 2022 in ein luxuriöses Hotel in Miami Beach einlud. Die „wichtigsten Unruhestifter unserer Kultur“ (unter anderem Elon Musk) versammelten sich dort unter dem Motto „A Conference for Thoughtcrime“. Die Teilnehmer*innen verstanden sich offenbar als Ketzer und Nonkonformisten, die „‚von anderen Konferenzen verbannt sind‘, wie es in der Einladung hieß. (…) Die Besucher sollten sich mit Widerspruch und unpopulären Ideen beschäftigen, wesentlich für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.“

Das Manager Magazin ernannte Peter Thiel als „Megaspender“ der Republikanischen Partei zum „Königsmacher der radikalen Rechten“. Denn mit seinen Millionen wolle er den Machtwechsel im US-Senat herbeiführen – und unterstützte bei den US-Zwischenwahlen im November zwei Trump-Anhänger und politische Newcomer, die selbst aus der Venture-Capitalist-Branche kommen: J.D. Vance (Ohio) und Blake Masters (Arizona). „Sie überbieten sich mit kruden Thesen von rassistischen Anspielungen, Verschwörungstheorien und Attacken auf die ‚woke culture‘, die Bewegung gegen Diskriminierung.“ Thiel selbst ist seit 2016 Großspender der Republikaner und gilt seitdem als Vertrauter und Berater von Ex-Präsident Trump. Dies ist ungewöhnlich, weil es auch in den USA offenbar eher selten ist, dass sich das „Wagniskapital“ direkt parteipolitisch einmischt. Anders bei Thiel: „‚Die Politik hat immer mehr Raum bei ihm eingenommen. Peter ist superpolitisch, und das schon seit fünf, sechs Jahren‘“. So zitierte das Handelsblatt jedenfalls am 8. Februar 2022 eine ihm nahestehende Person. Thiel, im gesellschaftspolitisch eher liberal geprägt Silicon Valley als Außenseiter geltend, versucht die Republikaner politisch weiter nach rechts zu verschieben, in dem er systematisch als Netzwerker agiert. Der amerikanische Universitätsprofessor Moira Weigel erklärte Mitte des Jahres gegenüber dem britischen Guardian, dass Thiel selbst aber gar nicht entscheidend sei: „What matters about him is whom he connects.“ Thiel stelle die Kontakte und Verbindungen her zwischen den „most rightwing politicians in recent US-history“.

Thiel möchte aber offensichtlich auch seine Kontakte nach Europa intensivieren. So heuerte Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang 2022 bei der Investmentfirma Thiel Capital als „Global Strategist“ an. Vor allem die guten Kontakte des ehemaligen ÖVP-Politikers zu Autokraten im osteuropäischen Raum und zur EU könnten Thiel bei der Entwicklung seines rechten Netzwerks von Nutzen sein. Kurz war zuvor wegen Korruptionsvorwürfen als Kanzler zurückgetreten und hatte alle politischen Ämter niedergelegt.

Herrschaft der Monopole

Der vorgeblich staats- und politikferne Tech-Milliardär scheut also nicht vor einer engen Kooperation mit einflussreichen und die freie Marktwirtschaft verherrlichenden (Ex-)Politikern zurück. Die suchen umgekehrt seine Nähe – ungeachtet der von Thiel provokant vertretenen Auffassung, Kapitalismus und Wettbewerb seien für ihn unvereinbar. „Für weite Teile der Allgemeinheit“, schreibt sein Biograf Thomas Rappold, „gilt der Grundsatz, dass Kapitalismus und Wettbewerb Synonyme sind. Tatsächlich sind sie für Thiel aber Gegensätze.“ (Rappold, Seite 37) Aufsehen erregte Thiel immer dann, wenn er öffentlich feststellte, dass er das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs für innovations- und profithemmend halte und deshalb die Herrschaft kapitalistischer Monopolunternehmen befürworte. Gründer sollten einen Monopolstatus anstreben, das heißt eine einzigartige Firma aufbauen und sich stark von Wettbewerbern differenzieren, um nicht in eine Wettbewerbssituation zu geraten. Marktführer der Digitalwirtschaft, wie Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, seien als Garanten des technologischen Fortschritts ein Segen für die Entwicklung der Menschheit (vgl. auch Wagner, Seite 68). Zwischen Politik und Technologie bestehe deshalb ein Wettkampf auf Leben und Tod – so schrieb er es in seinem im Jahre 2009 erschienenen Essay.

Steuerparadies

Recht erfolgreich kämpft Thiel gegen den Staat aber auch in eigener Sache. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle für Staatsapparate. Auf große Teile seines Vermögens, das der Bloomberg Billionaires Index am 10. November 2022 auf 7,14 Milliarden US-Dollar taxiert, zahlt Thiel aber seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Steuern. Eine Grauzone des US-Steuerrechts ermöglicht es ihm, in einem Rentenfonds Milliarden Dollar steuerfrei zur Seite zu schaffen. „Thiel verteidigt seine persönliche Steueroase inmitten der USA mit allem, was er hat. Dass sie unangetastet bleibt, ist unter republikanischer Regierung deutlich wahrscheinlicher.“ (Manager Magazin, Seite 116) Offenbar wird der großzügige Sponsor der amerikanischen Rechten von privaten Verlustängsten geplagt.

Ängstlicher Visionär

Seine technokratischen Allmachtsfantasien und erfolgreichen Investitionsentscheidungen sowie sein politisches „Networking“ haben den selbsternannten „Contrarian“ (Querdenker, Nonkonformist) für viele zu einer ähnlichen Lichtgestalt wie Elon Musk gemacht. So schreibt der Thiel-Biograf Rappold, selbst Internetunternehmer und Investor: „Die Gabe, Dinge in hellseherische Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umszusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt.“ (Rappold, Seite 107)

Aber der Visionär trifft auch auf Gegner. Zum Beispiel in Neuseeland, das sich Thiel als Rückzugsort für apokalyptische Zeiten sozialen, politischen oder ökologischen Zerfalls ausgesucht hat (vgl. The Guardian vom 18. August 2022). Im Jahr 2011 sicherte sich der US-Amerikaner, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, einen neuseeländischen Pass, obwohl er sich gerade erst zwölf Tage im Land aufgehalten hatte. Um eine Staatsbürgerschaft zu erhalten, müssen Bewerber*innen üblicherweise mindestens 1.350 Tage in fünf Jahren in dem Staat gelebt haben. Aber für den erfolgreichen Unternehmer drückten die neuseeländischen Behörden offenbar beide Augen zu. Die wohlwollende Entscheidung wurde 2017 bekannt – erwies sich dann aber in der Öffentlichkeit als höchst umstritten.

„Thiel“, schreibt Rappold, „reiht sich damit ein in ein Silicon-Valley-Phänomen: Obschon die Vordenker für eine neue Welt gerne viel Optimismus in der Öffentlichkeit versprühen, wenn sie ihre Innovationen als gesellschaftliche Durchbrüche messiasartig ihrer weltweit treu ergebenen Fangemeinde präsentieren, sorgen sich immer mehr wohlhabende Silicon-Valley-Größen um ihre eigene Zukunft. Während Thiel sich einen Zufluchtsort im malerischen Neuseeland ausgesucht hat, kaufen sich andere in luxuriöse Bunkeranlagen ein, horten Treibstoff und Nahrungsmittel. (…) Vielen gemein ist eine geradezu dystopische Sicht auf die Welt. Wer viel hat, kann eben auch viel verlieren.“ (Rappold, Seite 293)

Quellen

Bücher:

Andreas Kemper: Privatstädte. Labore für einen neuen Manchesterkapitalismus, Münster, 2022

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir. Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert, München, 2017

Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln, 2015

Artikel:

Heike Buchter et al.: „Elon Musk sein“, Die Zeit vom 25. Mai 2022

Diana Dittmer: „Der Mann, der Trump wieder an die Macht bringen will“, n-tv, 12. Mai 2022
https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Milliardaer-Peter-Thiel-Der-Mann-der-Trumps-Truppen-in-Stellung-bringt-article23116635.html

Theresia Enzenberger: „Die Möglichkeiten einer Insel“, FAZ (Online) vom 19. September 2022
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/privatstaaten-von-techmilliardaeren-die-moeglichkeiten-einer-insel-18385728.html

Elizabeth Flock: „Peter Thiel, founder of Paypal, invests $1.24 million to create floating micro-countries“, The Washington Post vom 17. August 2011
https://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/peter-thiel-founder-of-paypal-invests-124-million-to-create-floating-micro-countries/2011/08/17/gIQA88AhLJ_blog.html

Thomas Fromm: „Peter Thiel investiert in Quantum Systems aus Gilching “, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/peter-thiel-drohnen-ukraine-quantum-systems-1.5676733

Edward Helmore, „‚Don’ of a new era: the rise of Peter Thiel as a US rightwing power player“, The Guardian vom 30. Mai 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/may/30/peter-thiel-republican-midterms-trump-paypal-mafia

Felix Holtermann et al.: Peter Thiel im Wahlkampf: Die Wagniskapitalgeber greifen an“, Handelbslatt (Online) vom 8. Februar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/us-zwischenwahlen-peter-thiel-im-wahlkampf-die-wagniskapitalgeber-greifen-an/28049440.html

Larissa Holzki: „Quantum Systems aus München erhält Thiel-Invest“, Handelsblatt (Online) vom 21. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/drohnen-hersteller-quantum-systems-aus-muenchen-erhaelt-thiel-invest/28748324.html

Christina Kyriasoglou: „Dark Lord“, Manager Magazin, Oktober 2022, Seite 110-116

Tess McClure: „Billionaire Peter Thiel refused consent for sprawling lodge in New Zealand“, The Guardian vom 18. August 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/18/peter-thiel-refused-consent-for-sprawling-lodge-in-new-zealand-local-council

Mareike Müller: „Peter Thiel erzählt Unsinn über den Bitcoin – und rückt immer weiter nach rechts“, Handelsblatt (Online) vom 8. April 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-peter-thiel-erzaehlt-unsinn-ueber-den-bitcoin-und-rueckt-immer-weiter-nach-rechts/28239920.html

Peter Thiel: „The Education of a Libertarian“, Cato Unbound: A Journal of Debate, 13. April 2009
https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/

 

Gute und schlechte Gewinne? Übergewinnsteuer und die Frage der Moral

Laut Bertelsmann-Stiftung empfinden fast drei Viertel der Menschen in Deutschland die sozialen Unterschiede als ungerecht, noch mehr zweifeln an der gerechten Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne im Land (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 9. September 2022). Zudem ergab eine im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemachte repräsentative Umfrage, dass ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer derzeit hohe Zustimmungswerte erzielen – über alle Parteipräferenzen hinweg. Etwa 72 Prozent der Befragten hierzulande befürworten eine stärkere Besteuerung von Unternehmen, die von der Marktentwicklung in der gegenwärtigen Krise stark profitieren und satte Gewinne einfahren.

Die sogenannte Übergewinnsteuer scheint in weiten Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße populär zu sein, wie die moralische Empörung über die „Krisen- und Kriegsgewinnler“ spürbar ist. Wohl auch um möglichen „Wutprotesten“ ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigte deshalb die Bundesregierung Anfang September im dritten Entlastungspaket eine Reihe von Maßnahmen an. So will sie hohe Krisengewinne von Energieunternehmen abschöpfen, um mit den Einnahmen eine Begrenzung der Strompreise, das heißt einen günstigen „Basistarif“ für Privathaushalte sowie kleine und mittelständische Unternehmen finanzieren zu können.

Damit liegt die Ampelkoalition auf einer Linie mit der EU-Kommission, die bereits im März den Mitgliedsstaaten eine Leitlinie an die Hand gegeben hatte, wie sie solche „Zufallsgewinne“ abschöpfen und die Erlöse umverteilen könnte. Am 7. September schlug sie erneut vor, die Gewinne von Unternehmen ab einer gewissen Grenze mit einer Abgabe zu belegen. Die Initiativen von EU und Bundesregierung zielen dabei auf die Produzenten von Wind-, Sonnen- , aber auch Atomstrom, denen zurzeit Traumrenditen beschert werden, da der Strompreis am teuersten Energieträger Gas gekoppelt ist, ohne dass für sie die Kosten gestiegen wären. Nicht mehr im Fokus der Diskussion stehen dagegen die großen internationalen Energiekonzerne, die ihre Geschäfte mit fossilen Brennstoffen machen und wegen der drastisch gestiegenen Gas- und Ölpreise ebenfalls hohe Gewinne verzeichnen können. Die Idee, auch von ihnen einen „Solidaritätsbeitrag“ in Form einer Steuer einzufordern, ist bislang am Widerstand von Finanzminister Christian Lindner und der FDP gescheitert.

Politisch kontroverse Initiativen dieser Art erscheinen einem ökonomischen Laien kompliziert und unübersichtlich. Sie werden zusätzlich seit vielen Wochen von einer nicht minder vielseitigen öffentlichen Debatte begleitet – bei der die Frage nach der rechtlichen Machbarkeit der Abschöpfung von „ungerechten“ Gewinnen überprüft, markttheoretische sowie verteilungspolitische Überlegungen angestellt und nicht zuletzt moralische Bewertungen vorgenommen werden. Fundierte Antworten dazu bietet eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“, nach der in Deutschland bei Einführung einer Übergewinnsteuer für Unternehmen der Gas-, Öl- und Strombranche Einnahmen in Höhe von 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr möglich sind. Dem Zweifel, ob die Politik die Mittel dazu hat, die Abschöpfung der Übergewinne rechtssicher umzusetzen, entgegnet die Studie mit Verweis auf Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag, der eine solche Maßnahme für juristisch umsetzbar hält.

Auch dem besonders in der wirtschaftsliberalen Presse vorgebrachten Vorwurf, eine Übergewinnsteuer würde die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in das Steuersystem gefährden, parieren die Autoren der Studie: „Das Argument ist vor allem eine ideologische Verteidigung des Status Quo. In Zeiten eines Wirtschaftskrieges ist die Übergewinnsteuer möglicherweise sogar nötig, um das Vertrauen der Bürger in das Steuersystem und das politische System aufrecht zu erhalten.“ (Seite 18) Der Journalist und Jurist Heribert Prantl hält eine Abschöpfung der Krisengewinne ebenfalls für verfassungskonform, ihre Nichtabschöpfung dagegen für „obszön“ (Süddeutsche Zeitung vom 3./4.September 2022).

Einer seiner Kollegen von der Süddeutschen Zeitung, Nikolaus Pieper, hält dagegen die Absicht der Regierung, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, für „anmaßend“ (Süddeutsche Zeitung vom 6. September 2022). Damit assistiert er Clemens Fuest vom Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo), der den Befürwortern einer Übergewinnsteuer entgegenhält, es sei nicht sinnvoll, Sondersteuern zu erheben, da die Meinungen darüber, welche Geschäfte moralisch mehr oder weniger wertvoll seien, voneinander abwichen. Das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden oder die besonderen Interessen einzelner Politiker, Parteien oder öffentliche Stimmungen dürften für die Besteuerung nicht maßgeblich sein. Nur die Gleichbehandlung aller Steuerzahler schütze vor ungerechter Belastung und Willkür (vgl. Handelsblatt vom 9. Juni 2022).

Die gesamte FDP-Riege sperrt sich gegen die Übergewinnsteuer. Im ZDF-Talk „Markus Lanz“ beharrte das Mitglied des Bundesvorstands der Partei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, darauf, dass es in Krisen immer Unternehmen geben werde, die plötzlich viel verdienten. Es gäbe schlicht keinen Übergewinn, so die Wirtschaftsliberale, sondern nur einen Gewinn. Damit zeigt sie Kante und kontert der allgemeinen Stimmungslage im Lande – und wundert sich nicht ganz zu Unrecht über die kritischen Stimmen, denn sie bekennt sich lediglich zu einer Grundregel des kapitalistischen Marktsystems. Denn wer Marktgewinne von Unternehmen, die zu wirtschaftlichen Nachteilen oder Notsituationen bei anderen Marktteilnehmern führen – ob Firmen oder Einzelpersonen – als unmoralisch oder ungerecht bewertet, muss zwingend das dem Missstand zugrundeliegende ökonomische System abschaffen wollen. Das System beruht schließlich auf Mechanismen, die Ungleichheiten voraussetzen und zugleich permanent erzeugen.

„Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung,“ so der Jurist Thomas Fischer im Rechtsmagazin Legal Tribune Online, „weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschränkter Märkte nicht möglich wären. Karl Marx würde sagen: Der ‚Surplus-Profit‘ ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten.“ Um dessen wirtschaftliches Handeln mit seinen unsozialen Folgen zumindest einzuschränken, sollte vor allem auf Instrumente zurückgegriffen werden, die verfassungsgemäß sind und für die die schwierige Unterscheidung von „schlechten übermäßigen“ und „guten normalen“ Gewinnen überflüssig ist.

Nichts spricht gegen die Einführung von Übergewinnsteuern, wie sie andere Länder bereits eingeführt oder beschlossen haben. Die weitgehend fehlende gesellschaftliche Legitimation von sogenannten Krisengewinnen sollte aber genutzt werden, Forderungen und Überlegungen aufzugreifen, die über die aktuelle Debatte hinausgehen. Dazu gehört es zum Beispiel, die Preissetzungsmacht monopolistisch auftretender Energiekonzerne in den Fokus zu nehmen (Forderung nach Entflechtung und Vergesellschaftung), das Steuersystem mit Blick auf die extremen sozialen Ungleichheiten umfassend zu überprüfen (inklusive der wirtschaftskriminellen Machenschaften) und die historisch immer wieder aufflammende Diskussion über die Demokratisierung der Wirtschaft zu fördern.

Quellen:

Mario Candeias/Eva Völpel/Uwe Witt: „Mehrheit für Energiepreisdeckel und Übergewinnsteuer. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung“. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46961/mehrheit-fuer-energiepreisdeckel-und-uebergewinnsteuer

Thomas Fischer: „Sollte der Staat ‚Über‘- und ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen?“, 5. September 2022, LTO – Legal Tribune Online
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fragen-an-fischer-uebergewinn-steuer-zufallsgewinn-abschoepfung-wucher/

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Sriftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer

Literaturtipp:

Christoph Trautvetter/Yannick Schwarz: Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021. Hrsg. vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, Berlin, August 2021
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/jahrbuch2021/

Verlorener Krieg

Ein Jahr nach dem Sieg der Taliban in Afghanistan erschienen in der Presse Artikel, die die Ursachen des Debakels der westlichen Interventionsstreitkräfte nicht mehr beschönigen. So unter dem Titel „Der verlorene Krieg“ ein Beitrag von Peter Carstens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. August 2022. Sein bitteres Fazit: „Nach zwei Jahrzehnten am Hindukusch kannte der Westen weder seine Kriegsgegner noch seine afghanischen Verbündeten“. Wie konnte dies auch anders sein, wenn von vornherein mit dem Geldkoffer gearbeitet wurde, um sich Bündnispartner und Vasallen unter den afghanischen Stammesfürsten und Warlords des seit Jahrzehnten laufenden Bürgerkriegs  einzukaufen.

Der andere, noch gravierendere Irrtum: Dass es gelingen könnte, eine Modernisierung nach westlichem Muster mit gewaltsamen Mitteln in diesem Land zu erzwingen. Als sich 1978 die kommunistische Partei Afghanistans, die vor allem in der städtischen Elite und im Militär verankert war, an die Macht geputscht hatte, führte die ZEIT ein Interview mit dem neuen Ministerpräsidenten Nur Muhammad Taraki. Auf die Frage, was seine Regierung zu unternehmen gedenke, wenn sich die Mullahs auf dem Land dagegen wehren würden, dass für Mädchen eine Schulbildung eingeführt werden soll, antwortete er: „Dann muss eben Blut fließen“. Da war eigentlich schon klar, dass es so kaum etwas werden konnte mit dem sozialen Fortschritt in Afghanistan. 

Das Blutvergießen begann und ging weiter, mit der Assistenz äußerer Mächte. Zunächst scheiterte die Sowjetunion bei dem Versuch, ihren Bündnispartnern in Kabul den Machterhalt in der Auseinandersetzung mit widerstrebenden Kräften zu sichern. Der  US-Oberstratege Brzezinski freute sich darüber, dass sie in die Falle gegangen war und nun ihr „Vietnam“ erlebte. Aber die USA und ihre Verbündeten wurden nicht schlauer daraus und handelten nicht klüger. Im „Krieg gegen den Terror“ nach dem 11. September 2001 war Afghanistan das erste Ziel. Viel Kenntnis über das Land und eine konsistente Strategie, wie mit ihm umgegangen werden sollte, gab es nicht.

Der kolonialistische Blick der westlichen Interventen war quasi auf das Bakschisch als universelles Schmiermittel fixiert. So blühten der Opportunismus und die Korruption in Afghanistan wie die Mohnpflanzen auf den Feldern. Dazu kamen dann Luftangriffe von US-Kampfflugzeugen auf friedliche Hochzeitsgesellschaften, die aus der Höhe mit Ansammlungen von Taliban-Kämpfern verwechselt wurden. Und Kriegsverbrechen anderer Art, wie man von Afghan:innen im bundesrepublikanischen Exil hören kann. Sie werden nie einen Richter finden. Nur die Bundeswehr habe sich da nichts vorzuwerfen – sieht man einmal von Oberst Klein ab.

Zum Schluss kulminierten die Fehleinschätzungen. Auch den westlichen Geheimdiensten entging, dass die afghanische Armee und die Regierung in Kabul keineswegs bereit waren, gegen die Taliban weiterzukämpfen, nachdem feststand, dass die Truppen der USA und ihrer Verbündeten sich zurückziehen würden. Die Generäle und führenden Politiker Afghanistans hatten längst im Ausland ihr Schäfchen ins Trockene gebracht. Peter Carstens resümierte in seinem  Artikel:

„Die Korruption in der Armee war lange bekannt, unternommen wurde dagegen wenig. Das viele Geld, das der Westen in Afghanistan seit 2002 investiert hat, sei ‘nicht immer da angekommen, wo es ankommen sollte’, so der Diplomat Markus Potzel (bisher Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan – R.D.) überaus diplomatisch… Allein Amerika hatte 850 Milliarden Dollar für den Militäreinsatz ausgegeben und weitere 145 Milliarden für den zivilen Aufbau. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in den Jahren 2010/2011 steckte Washington jährlich um die 100 Milliarden Dollar in den Krieg. Und auch Deutschland gab insgesamt etwa 20 Milliarden Euro aus, den Großteil davon für das Militär und seine Helfer, die Ortskräfte. Diplomat Potzel meint: ‘Da hatten sich die afghanischen Eliten sehr gut eingerichtet und wir letzten Endes auch. Das war so eine Art Stillhalteabkommen.’ So blieb Afghanistan eines der korruptesten Länder der Erde und eines der größten Drogenanbaugebiete der Welt.“

Die vorgebrachte Begründung für den militärischen Einsatz in Afghanistan, es gehe darum, den Terror zu bekämpfen, Entwicklung zu ermöglichen, Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen, enthüllt sich im Licht dieser Zahlen als schönfärberische Behauptung. Profitiert haben in erster Linie die westliche Rüstungsindustrie und einige Exportunternehmen, in zweiter Linie die korrupten afghanischen Politiker und Warlords, erst in dritter Linie Angehörige einer dünnen Mittelschicht in den afghanischen Städten sowie Frauen und Mädchen, die zur Schule und Universität gehen und Berufe ergreifen konnten, die ihnen vorher verschlossen waren. Besonders Letztgenannte sind nach dem Sieg der Taliban gefährdet und müssen um Leib und Leben fürchten, wenn sie in irgendeiner Form mit den westlichen Interventen zusammengearbeitet haben.

Die Armut und Verelendung im Land, die vorher schon endemisch war, wächst nun von Tag zu Tag. Dazu tragen verschärfte Sanktionen und das bisherige Einfrieren des afghanischen Staatsvermögens durch die USA bei.

Es ist ein Skandal, dass es keine grundsätzliche Debatte über den Afghanistaneinsatz gegeben hat und geben wird, in der geklärt werden könnte, welche Alternativen möglich gewesen wären und wieviel Sinnvolleres mit dem vielen aufgewandten Geld für eine nicht bevormundende Förderung der Zivilgesellschaft und für Projekte der Entwicklungshilfe in Afghanistan hätte getan werden können. Auch der Artikel von Peter Carstens enthielt dazu keinerlei Hinweise. Er beschränkte sich darauf, die schlechte Performance der Bundesregierung im Fall Afghanistan und die fehlende Ehrung der Veteranen des Afghanistankrieges zu kritisieren. Aber etwas anderes wäre ja von der FAZ auch nicht zu erwarten.

Neues zum Kampf gegen Geldwäsche

Zwei Jahre hatte die Financial Action Task Force (FATF) die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland geprüft. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: In einem umfangreichen Bericht vom August 2022 stellt das wichtigste internationale Gremium gegen Geldwäsche fest, dass es trotz einzelner Fortschritte auch große Defizite beim Aufspüren und der Verfolgung vieler Fälle gibt. Schon vor Veröffentlichung der Studie ging deshalb Bundesfinanzminister Lindner in die Offensive und propagierte einen „Paradigmenwechsel“ beim Kampf gegen Finanzkriminalität. Vor allem soll laut „Eckpunktepapier“ des Ministeriums vom 23. August eine neue zentrale Bundesbehörde aufgebaut werden, um die bislang zersplitterten Kompetenzen zu bündeln – noch sind rund 300 Aufsichtsbehörden, vom Bund bis in die Kommunen, mit der Ermittlungsarbeit gegen die Finanzkriminalität betraut.

Laut FATF hätte es vor allem Erfolge bei den kleinen Fällen gegeben, Vollzugsbedarf dagegen beim Aufspüren der großen, international verzweigten Finanzkriminalität. Einen von mehreren Strängen der neuen Oberbehörde soll deshalb ein neues Bundesfinanzkriminalamt bilden, „das gezielt komplexe Fälle von illegalen Finanzflüssen aufklärt, sich auf den ‚follow-the-money‘-Ansatz fokussiert und bei der Sanktionsdurchsetzung den Hut aufhat“, wie es im Eckpunktepapier heißt.

Der Vorstoß des FDP-Ministers stieß überwiegend auf positive Resonanz. Der rechtspolitische Sprecher der oppositionellen Union, Günter Krings, bezeichnete die Vorschläge als „richtig und überfällig“. Zustimmung kam ebenfalls von den Grünen: Marcel Emmerich, Obmann im Innenausschuss, hält allerdings auch die Einrichtung eines Immobilienregisters für nötig, da viele Kriminelle mit ihrem „schmutzigen Geld“ Häuser, Wohnungen oder auch Grundstücke bar und ohne Nachweis bezahlen würden und deshalb nicht nur eine Bundesbehörde erforderlich sei. Ähnlich argumentierte der Bundestagsabgeordnete der Linken, Pascal Meiser, der eine Pflicht zur Offenlegung der tatsächlichen Eigentümer von Immobilien und Unternehmensanteilen sowie der Herkunft größerer Vermögen fordert (vgl. Stern vom 23. August 2022).

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, begrüßte den politischen Vorstoß zwar generell, zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung einer weiteren zusätzlichen Behörde. Er forderte, die bereits bestehenden polizeilichen Teile des Zolls besser zu organisieren. Entscheidend seien eine gute organisatorische Einbindung der neuen Behörde in die deutsche Sicherheitsarchitektur und zusätzliche Befugnisse, um verdächtiges Vermögen aufzuspüren und zu konfiszieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022 und Handelsblatt Online vom 23. August 2022).

Frank Buckenhofer, bei der Gewerkschaft der Polizei für den Zoll zuständig, fand es zwar gut, dass sich die Regierungskoalition verstärkt für die Bekämpfung der Geldwäsche interessiert. Er zeigte sich aber skeptisch gegenüber der Einrichtung eines Bundesfinanzkriminalamtes, das zunächst „nur eine sperrige Worthülse“ sei. Die Behörde könnte ihren Zweck verfehlen, sollte sie sich nur durch einen zentralen Charakter auszeichnen. „Neben einer koordinierenden Zentralstelle“, so Buckenhofer, „brauchen wir auch Fahnder vor Ort, quasi an der Front, die mit ausreichenden polizeilichen Kompetenzen ausgestattet werden.“ So wie es bei der Guardia di Finanza in Italien der Fall sei. Buckenhofer sprach sich auch für eine Darlegungspflicht aus: Besitzer großer Vermögen sollten im Zweifelsfall erklären können, woher diese stammten. Doch genau davor scheine das FDP-geführte Finanzministerium zurückzuschrecken. Diese Art der Beweislastumkehr sei offensichtlich nicht vorgesehen (vgl. Wirtschaftswoche Online vom 24. August 2022).

Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende begrüßte die Pläne Lindners für eine stärker zentralisierte Geldwäscheaufsicht, hielt sie jedoch auch nicht für weitreichend genug. Schwere Steuerkriminalität à la Cum-Ex würde offensichtlich ausgeklammert. Zudem müssten den Behörden auch die richtigen Werkzeuge in die Hand gegeben werden. Er plädierte für mehr Möglichkeiten bei der Abschöpfung von Vermögenswerten. In Zukunft sollte der Grundsatz gelten, dass diese beschlagnahmt werden, wenn deren wirtschaftlich Berechtigte nicht transparent gemacht werden könnten (rp-online.de vom 23. August 2022).

Für Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit kann eine neue Behörde durchaus ein Beitrag zur Lösung des Problems darstellen. Bislang ermittele das Bundeskriminalamt im Fall einer der Geldwäsche vorausgehenden Straftat und würde so nur „die kleinen Fische“ fangen. Es reiche aber nicht, den Drogendealer zu verfolgen, nicht aber den Anwalt, den Notar oder den Mitarbeiter einer Bank, der das Geld wasche. Das Finanzministerium habe richtig erkannt, dass es einen Paradigmenwechsel geben müsse – es sei vom verdächtigen Geldfluss ausgehend zu ermitteln, damit die professionellen Geldwäscher, die organisiert Kriminalität betrieben, von den Behörden nicht unerkannt bleiben (vgl. junge Welt vom 1. September 2022).

Im Interview mit der jungen Welt antwortete Trautvetter auf die Frage, woher plötzlich der Wille der Bundesregierung komme, Finanzkriminalität zu verfolgen, die sonst Unternehmen willfährig Geld hinterherwerfen würde:

„Der politische Wille, den Schattenfinanzmarkt auszutrocknen, ist erst vorhanden, seit die Financial Action Taskforce droht, Deutschland vom internationalen Finanzmarkt abzukoppeln. Die bisherige Untätigkeit ist auch darauf zurückzuführen, dass das Geld im Fall von Geldwäsche meist nicht dem deutschen Staat direkt entgeht, sondern oft aus Straftaten aus anderen Ländern stammt. Man sagt einfach: Geld stinkt nicht; die dahinterstehende Kriminalität ist nicht unser Problem! Ich bin aber optimistisch, dass der Druck etwas bewirkt.“

 

Krieg und Geschäft

„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“ – dies hatte der französische Sozialist Jean Jaurès zur Warnung vor dem Ersten Weltkrieg gesagt. Gemeint war, dass die Mechanismen der Kapitalverwertung – Konkurrenz um Rohstoffe, Arbeitskräfte, Marktanteile, Absatzmärkte und Gewinnmargen – früher oder später zwangsläufig zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen um Einflusssphären, territoriale Ausdehnung von Staaten und koloniale Landnahme führen. Der Kapitalismus trete dann in sein imperialistisches Stadium ein. In dem befinden wir uns noch.

Vorbereitet und begleitet würden diese Auseinandersetzungen durch nationalistische und rassistische Ideologien und die Produktion entsprechender Selbstidealisierungen und Feindbilder: „Wir“ sind dann die Guten mit den besten Absichten und den höheren Werten. „Die“ sind die Bösen, Kulturlosen, im Zweifel die Unmenschen. Und dies jeweils wechselseitig.

Ohne den völkerrechtlichen Unterschied zwischen Angreifer und Angegriffenem verwischen zu wollen, das Recht auf Selbstverteidigung zu bestreiten, die russischen Kriegsverbrechen zu relativieren oder das Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung zu missachten: Auch der Krieg in der Ukraine trägt, besonders wenn man seine Vorgeschichte einbezieht, Züge eines imperialen Ringens um Einflusszonen und Ressourcen – mit all den ideologischen Überhöhungen, die dazugehören. Nicht nur auf Seiten Russlands, sondern ebenso auf Seiten der USA, die 2014 den prowestlichen Umsturz in der Ukraine förderte und sie gegen den Rat ihrer eigenen außenpolitischen „Realisten“ in die Nato zu integrieren beabsichtigte, um Russland zu schwächen.

Auch im Ukrainekrieg haben, wie bei Kriegen unter kapitalistischen Bedingungen immer, die Rüstungsindustrie und ihre Zulieferer etwas zu gewinnen. Der Aktienkurs von Rheinmetall, einer der größten deutschen Rüstungsschmieden, schoss seit Kriegsbeginn so in die Höhe, dass man den Konzern in Rheingold umbenennen könnte. Als Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen und der Reaktionen darauf stiegen die Preise für Öl und Benzin so stark an, dass der Profit der Mineralölkonzerne explodierte. Bei den anschließenden Preiserhöhungen für Güter des täglichen Bedarfs ist nicht sicher, ob die Situation nicht für spekulative „Mitnahmeeffekte“ ausgenutzt wurde und wird. Eine geplante „Gasumlage“, um die horrend wachsenden Energiekosten den Verbraucherinnen und Verbraucher in Rechnung zu stellen, entpuppte sich als ausgesprochen unsozial. Die Maßnahmen der Bundesregierung zur Kompensation der Belastungen für Lohnabhängige und kleine Selbständige sind äußerst unzureichend.

So wächst die Kluft zwischen Armut und Reichtum weiter und schneller – nicht nur in unserem Land, sondern, als Folge des Krieges und des ihn begleitenden Wirtschaftskrieges, auch international.

Das in der von der Regierung proklamierten „Zeitenwende“ abrupt aufgelegte 100 Milliarden Euro teure Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr verschiebt die Gewichte staatlicher Investitionen zugunsten des Militärischen. Schon lange notwendige Investitionen in die zum Teil marode zivile Infrastruktur müssen zurückstehen. Zu erwarten und befürchten ist, dass die Kosten für die Hochrüstung in den nächsten Jahren durch Einsparungen im Sozial- und Kulturbereich gedeckt werden sollen. Aufgrund der anhaltenden Blockade der FDP wird die Ampelkoalition wohl weder eine durchgreifende Steuer auf krisenbedingte Extraprofite noch einen Lastenausgleich mit höherer Besteuerung der Besserverdienenden, der Vermögenden und reichen Erben zustande bringen. Obwohl mehr als Dreiviertel der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Verteilung von Einkommen und Vermögen für ungerecht halten.

Krieg ist nichts, was der Kapitalverwertung entgegensteht. Der Nationalökonom Joseph Schumpeter hat als Wesen des Kapitalismus die „schöpferische Zerstörung“ benannt. Altes zerstören und Neues wieder aufbauen, das generiert Gewinne, schafft und sichert Arbeitsplätze – durch alle kriegsbedingten Krisen hindurch. Auch die Hochrüstung wirkt in gewisser Weise wie ein Konjunkturprogramm, selbst wenn die produzierten Güter der Vernichtung dienen. 

Es ist sicherlich kein Zufall, dass man sich jetzt wieder an eine Geschichte aus der europäischen Vergangenheit erinnert, die den Zusammenhang von Krieg und Geschäft in krassester Weise beleuchtet. Unter dem Titel „Gefallen, zermalmt und aufgelöst“ wurde in der F.A.Z. vom 18. August 2022 über sie berichtet.

Bis vor kurzem galt als Rätsel, was aus den sterblichen Überresten der mindestens 20 000 Gefallenen der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 geworden ist. Nur ganze zwei Skelette wurden bei Ausgrabungen gefunden. An Erklärungen dafür mangelte es nicht. „So hieß es, die sterblichen Überreste seien in den 1820er-Jahren ausgegraben, nach England exportiert und dort zu Knochenmehl verarbeitet worden, bevor sie als Düngemittel auf den Feldern gelandet seien.“ Neueste Forschungsergebnisse zeigen nun, dass die Verwertung der Kriegstoten auf noch makabrere Weise geschah.

Der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien nach 1833 erforderte einen ganz besonderen Stoff: Knochenkohle. „Preis und Nachfrage nach Knochen explodierten förmlich, weil die Fabriken die Knochen zu Knochenkohle verarbeiteten. Die wurde für die Filter benötigt, die zum Einsatz kamen, um den Zucker zu entfärben – nicht nur in Belgien, sondern auch in anderen Teilen Europas. Der Aufwand war gigantisch. Ein Politiker jener Tage bezifferte den Knochenbedarf auf ein Drittel des produzierten Zuckers.“ Die Beschaffung von genügend Nachschub war schwierig, weshalb alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden. In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel heißt es, eine Gruppe von Industriellen habe die Erlaubnis erhalten, das Schlachtfeld von Waterloo auszuheben, um die Gebeine der Gefallenen für die Zuckerproduktion zu nutzen. Wenn es ums Geschäft geht, muss die Pietät eben zurückstehen.

Jean Jaurès sagte zu der vor und in Kriegen angefachten bellizistischen Stimmung und den patriotischen Illusionen auf allen Seiten: „Das Vaterland gehört denen, die nichts anderes haben.“

Eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat, bei aller Empörung über den Aggressor, bei allem Mitgefühl und aller Hilfsbereitschaft für die Opfer, einen eher nüchternen Blick auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Sie spricht sich für einen möglichst baldigen Waffenstillstand aus, mit anschließenden Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts, so schwierig diese auch immer sein mag. Zu hoffen ist, dass die Bewegung für Frieden an Stärke und Einfluss gewinnt – nicht nur in Deutschland.

Renaissance der Atomkraft?

„Vor dem Atommeiler / Vor dem Reaktor /
Steht ein Geigerzähler / Ein nackter Mann davor“ 
(Wolfgang Neuss)

In der Geschichte der Menschheit gibt es wissenschaftlich-technische Innovationen, die höchst widersprüchlich zu bewerten sind. Ohne die Entdeckung ionisierender Strahlung im Jahr 1896 durch den französischen Physiker Henri Becquerel (1852-1908) wäre es beispielsweise nie zur Röntgendiagnostik in der Medizin gekommen. Auch spielen zerstörungsfreie Untersuchungen mittels elektromagnetischer Wellen mittlerweile eine bedeutende Rolle in nicht wenigen anderen Fachgebieten. Die anfangs bedenkenlose Anwendung dieser Technologie  in der Medizin, bevor dann der volle Umfang schädigender Wirkungen von Strahlen auf den menschlichen Organismus erkannt wurde, kostete allerdings nicht wenigen Medizinern und zahlreichen ihrer Patienten das Leben.

Ungeachtet dieses längst bekannten Wissens rief die Entdeckung der Kernspaltung und der daraus möglichen Energieerzeugung mittels Atomreaktoren in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine kaum gebremste Euphorie hervor. Der Weg in die Atomkraft könne der gesamten Menschheit Glück und Wohlstand bescheren – so wurde es damals auch von nicht wenigen Vertretern der sozialistischen Linken verkündet. Nach der ersten kontrollierten Kernspaltung im Jahr 1942 in den USA unternahmen demzufolge zahlreiche Staaten Anstrengungen zur Realisierung eines Atomprogramms. Die erste Inbetriebnahme eines stromerzeugenden Reaktors samt dauerhafter Einspeisung ins Netz erfolgte Anfang der 1950er Jahre in der damaligen Sowjetunion. Nach Angaben der internationalen Atomenergiekommission sind derzeit 440 Reaktoren im Betrieb; hinzukommen noch 53 Reaktoren, die sich noch im Bau befinden. Die Mehrheit von ihnen befindet sich in stationären Kraftwerken. Es gibt jedoch auch einige Reaktoren auf Schiffen, in U-Booten und in Raumfahrzeugen.

Dass beim Betreiben von Atomreaktoren ionisierende Strahlung freigesetzt wird, die die Gesundheit beteiligter oder auch nur in der Nähe befindlicher Menschen bzw. die ihrer Nachkommenschaft irreparabel schädigt, ist eine längst bekannte Tatsache. Auch, dass durch Schädigung des Erbgutes ihrer Eltern nicht selten noch ungeborene Kinder zu den Strahlenopfern zählen. Seit den ersten Unfällen gelten zwar beim Betreiben von Atomreaktoren strenge Sicherheitsbestimmungen. Ungeachtet dessen fanden zwischen 1940 und 2010 insgesamt 34 als „schwer“ eingestufte Unfälle statt – in den USA, in der Sowjetunion bzw. Russland, in Großbritannien, in Japan, in Kanada, in der Schweiz, in der CSSR, in Frankreich, in Argentinien und in Belgien. Als die schlimmsten dieser Unfälle zählen die Katastrophen von Tschernobyl im Jahr 1986 und die von Fukushima im Jahr 2011.

Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl starben an den Folgen akuter Verstrahlung offiziell etwa 50 Menschen. Etwa 116.000 Einwohner im Bereich von 30 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk herum wurden evakuiert. Die von erhöhter Radioaktivität betroffene Region war jedoch wesentlich größer und erstreckte sich über das Territorium mehrerer Staaten. Die Gesamtzahl der Krebstoten als Folge der Katastrophe ist umstritten und dürfte sich mindestens auf mehrere Tausend belaufen. Bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurden zwischen 100.-150.000 Einwohner aus dem Bereich um das havarierte Atomkraftwerk herum evakuiert. Die Gesamtzahl der Todesopfer als Folge der Katastrophe ist ebenfalls umstritten, dürfte sich aber in jedem Fall auf mehrere Hundert belaufen. Große Teile Japans und des umliegenden Meeresgebietes wiesen damals vorübergehend eine stark erhöhte Radioaktivität auf.

Von Befürwortern der Atomkraft wird nach jedem Reaktorunfall gebetsmühlenartig erklärt, man habe daraus gelernt und werde alle möglichen Anstrengungen unternehmen, dass sich so etwas nicht wiederholen könne. Ausgeblendet wird dabei, dass es eine hundertprozentig sichere Technik nicht gibt und auch theoretisch nicht geben kann. Man kann zwar ein Gefahrenpotential minimieren, aber nie vollständig ausschalten.

Außer der permanenten Gefahr weiterer Reaktorkatastrophen ist in diesem Zusammenhang das ungelöste und theoretisch auch nicht befriedigend lösbare Problem radioaktiver Abfälle (Atommüll) zu erwähnen. Diese entstehen zum Teil bei der bergbaumäßigen Gewinnung von Uran, zum Teil  beim Abriss stillgelegter Atomkraftwerke, in geringerem Umfang auch beim laufenden Betrieb atomarer Anlagen. Diese Abfälle müssen bis zum vollständigen Abklingen auf das Maß natürlicher Radioaktivität sicher gelagert werden. Die voraussichtliche Dauer dieser Lagerung ist sehr unterschiedlich und hängt von der Höhe der anfänglich gemessenen Radioaktivität ab. Derzeit dürfte nach Schätzungen weltweit eine Menge von über einer Million Tonnen radioaktiven Abfalls in diversen Zwischenlagern vor sich hin strahlen. Es gibt derzeit weltweit nur ein zugelassenes Endlager für hochradioaktiven Abfall. Dieses liegt in Finnland und ist für eine eher geringe Menge von strahlendem Müll ausgelegt.

Auch kann nicht oft genug daran erinnert werden: Die erstmalige Anwendung des Energieträgers Atomkraft geschah in Gestalt eines Massenvernichtungsmittels. Zur von den deutschen Nazis angestrebten Entwicklung einer Atombombe kam es zwar glücklicherweise nicht. Die von US-amerikanischen Militärs getätigten Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki töteten aber geschätzt 100.000 Menschen sofort – eine wesentlich größere Anzahl Menschen erlag in den Folgemonaten und -jahren ihren Verbrennungen und Verletzungen infolge radioaktiver Strahlung. Fast alle Toten und Verletzten waren japanische Zivilisten oder aber koreanische Zwangsarbeiter.

Bei diesen beiden Atombombenabwürfen blieb es dann zwar angesichts des weltweiten Entsetzens bis heute. Die Menschheit schrammte aber mehrmals haarscharf an einem Atomkrieg vorbei. Die von wirtschaftlich und politisch führenden Mächten angelegten Atombombenarsenale erwiesen sich dann auch noch als tickende Zeitbomben. Russische Generäle setzten in den 1990er Jahren mehrfach Hilferufe ab: Infolge neoliberaler Sparorgien stünden ihnen nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung, die aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Arsenale zu warten. Wenig bekannt ist auch, dass im Februar 1992 in unmittelbarer Nähe der russischen Hoheitsgewässer ein US-amerikanisches Atom-U-Boot mit einem russischen Atom-U-Boot kollidierte – beide Kriegsschiffe überstanden zum Glück den Zusammenstoß. Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch an die Beinahe-Katastrophe beim Untergang des russischen Atom-U-Bootes K-141 „Kursk“. Das raketenbestückte Kriegsschiff havarierte im August 2000 bei einem Manöver im Nordpolarmeer und sank. Da Russland sich mit den anderen Anrainerstaaten nicht zeitnah auf effektive Rettungsmaßnahmen einigen konnte, kamen alle 118 Seeleute ums Leben. Das Wrack mit den Reaktoren wurde dann zwar im Oktober 2001 geborgen. Bei anderen gesunkenen Atom-U-Booten gelang dies allerdings nicht; ihre Wacks liegen noch immer auf dem Grund verschiedener Ozeane und strahlen bis in alle Ewigkeit weiter. Und dass sich in der kriegsgeschüttelten Ukraine jetzt russische und ukrainische Truppen auf dem Gelände des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja gegenseitig beschießen, lässt für unser aller Zukunft Schlimmes vermuten.

Von Befürwortern der Atomkraft wird häufig auf das Beispiel Frankreich verwiesen. Unser Nachbarland betreibt derzeit 56 Atomreaktoren, bezieht aus diesen 72 Prozent der produzierten Energie und versorgt zudem mehrere Nachbarländer mit vergleichsweise billigem Strom. Wenig thematisiert wird in diesem Zusammenhang, dass diese vergleichsweise niedrigen Preise auf versteckter oder auch ganz offener staatlicher Subventionierung beruhen, die angebliche Effizienz der Atomkraft also eine Mogelpackung ist. Beispielsweise wurden die nicht unbeträchtlichen Entwicklungskosten, welche den Bau von Reaktoren überhaupt erst ermöglichten, in der Zeit des Kalten Krieges vom Militär, also letztlich vom damaligen Steuerzahler getragen.

Ebenso verhält es sich bei den derzeit überhaupt noch nicht abschätzbaren Entsorgungskosten für strahlenden Müll – diese werden langfristig gesehen entweder in Gestalt staatlicher Subventionierung oder in Gestalt irreparabler Umweltschäden bei der Bevölkerung hängen bleiben. Frankreichs Atomprogramm funktioniert zudem auf Grundlage von Uran-Importen aus repressiv regierten Billiglohnländern, welche zum Teil nur aufgrund der permanenten Anwesenheit französischer Truppen funktionieren. Als Beispiel sei hier der nordafrikanische Wüstenstaat Niger genannt – dieser zählt zu den weltweit zehn ärmsten Ländern, ist aber der fünftgrößte Exporteur von Uranerz. Über die Umweltstandards in solchen Ländern muss hier nichts geschrieben werden – sie sind bekanntermaßen äußerst niedrig. Beim Bergbaugebiet im Norden von Niger liegt die Belastung durch ionisierende Strahlung nachweislich wesentlich über dem Normalwert, die Sterblichkeitsrate deutlich über dem Landesdurchschnitt.

In den letzten Jahren musste ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke aufgrund technischer Schäden und Wartungsmängel abgeschaltet werden – dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass der französische Staatpräsident Macron von einer „Renaissance der Atomkraft“ schwadronierte. Die Kosten der plötzlich erforderlichen Investitionen in einen hochgradig gefährlichen Industriezweig werden dann wieder einmal vom Steuerzahler zu tragen sein. Ähnliches wird sich dann wohl auch in Deutschland abspielen – falls die Befürworter der Energiegewinnung aus Atomkraft sich angesichts des Wirtschaftskrieges mit Russland tatsächlich durchsetzen. Künftige Generationen dürften eine solche „Energiewende“ mit Sicherheit als verbrecherisch einschätzen.

 

Literatur:

 .ausgestrahlt, gemeinsam gegen Atomenergie

www.ausgestrahlt.de

 

Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und „Sozialbetrug“ im Vergleich

Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar für viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen Gerichtssälen von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe würden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, müssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschärft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von Armutskriminalität zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-Gespräch erläuterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kämen Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-Betrügern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit würde in beiden Fällen geschädigt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffällig. [4]

Wissenschaftlich unterfüttert wird diese – nicht unbedingt überraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen für beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von Vergünstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen Beträge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit für eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der für beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„Für die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (…) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhängt werden; bei höheren Hinterziehungsbeträgen soll es dann zu Bewährungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € übersteigt, sollten regelmäßig Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden. Für den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren Schadensbeträgen mit wesentlich härteren Strafen geahndet. Beaucamp führt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf Bewährung führen, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Landgericht Osnabrück verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschätzte Schäden von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 Einzelfälle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht für den deutschen Staat nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jährlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als Sozialleistungsempfänger. Viele Menschen mit Leistungsansprüchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine Anträge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrügen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschränkt. In Fällen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gäbe es keine „natürliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, Anwälte und Banken für ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten würden. Für Steuerhinterziehung im größeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrückt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (Ankündigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins Gefängnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

Vorschläge für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. März 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454

Aggressiver Lobbyismus des Fahrtenvermittlers Uber

Die am 10. Juli 2022 veröffentlichten Uber-Files zeigen, wie der global agierende US-Fahrdienstleister versuchte, Politik und Öffentlichkeit mit dubiosen Methoden zu beeinflussen. Das Ziel bestand darin, sich Zugang zu den europäischen Märkten zu verschaffen und etwa in Deutschland das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. Unterstützt wurde der Konzern dabei von Politik, Wissenschaft und Medien.

Die Informationen basieren auf internen Dokumenten des Unternehmens, die dem britischen Guardian zugespielt und von rund 40 Medien weltweit ausgewertet wurden. In Deutschland beteiligten sich daran WDR, NDR und Süddeutsche Zeitung (SZ). Laut SZ vom 11. Juli 2022 stammt das Material (rund 124.000 E-Mails, Textnachrichten und Analysen) von einem ehemaligen Uber-Manager, der von 2014 bis 2016 für das Unternehmen als Cheflobbyist in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gearbeitet hatte. Belegt werden vor allem die Lobbypraktiken des US-Konzerns in der Zeit von 2013 bis 2017, als Uber weltweit aggressiv expandierte. Ab 2014 wollte sich Uber auch in Deutschland verstärkt etablieren. Allerdings wehrte sich die Taxibranche massiv gegen die Pläne des Konzerns. Es kam zu mehreren Gerichtsurteilen, die Uber-Dienste verboten: „Das Dumme nur: Deutsche Gerichte sehen in Uber nicht nur ein digitales Start-up, das lediglich eine App zur Verfügung stellt, sondern vielmehr einen Fahrdienst, der deshalb, ebenso wie Taxis, eine Lizenz benötige und dafür auch örtliche Niederlassungen gründen müsste. Infolge wäre der US-Konzern in Deutschland damit voll steuerpflichtig.“ (Tagesschau.de vom 10. Juli 2022)

Das Geschäftsmodell von Uber besteht darin, über eine App und gegen satte Provisionen Fahrdienste zu vermitteln, das heißt ohne einen eigenen Fuhrpark Mitfahrgelegenheiten via Smartphone zu ermöglichen – und damit das Taximonopol zu brechen. Der Konzern, der 2009 in San Francisco gegründet wurde und im letzten Jahr 17 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte, steht damit in direkter Konkurrenz zum regulierten deutschen Taxi-Markt. Deshalb tat sich bislang auch die öffentliche Meinung mit der Dienstleistung des US-Unternehmens eher schwer.

Einen Eindruck vom rabiaten Auftreten des Unternehmensgründers Travis Kalanick vermittelte die SZ am 11. Juli 2022:

„Dass dieser Expansion bisweilen nationale Arbeitsschutzgesetze oder Beförderungsbestimmungen entgegenstanden, störte Kalanick offenbar nicht. Gespräche mit Politikern bezeichnete er als ‚Zeitverschwendung‘, demonstrierenden Taxifahrern hielt er entgegen, Roboter würden bald ihren Platz einnehmen. Kaum hatte das Unternehmen einen Markt betreten, sollten die Behörden dort die Regeln im Sinne Ubers ändern. Das Manager Magazin verglich Kalanick einmal mit einem Cowboy, der die Schwingtüren zum Saloon eintritt, sich den Weg zum Tresen freischießt – und dort zuvorkommend bedient werden will.“

Wie aber konnte Uber über Jahre hinweg Politiker, Wissenschaftler und Medien für sich einspannen, um die öffentliche Meinung und die Gesetze in seinem Sinne zu beeinflussen?

Die Politik:

Laut SZ setzte sich der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt für Uber ein. Zwischen 2014 und 2017 traf er sich mindestens vier Mal mit Kalanick, drei der Zusammenkünfte waren bisher nicht öffentlich bekannt. „Dabei soll es auch zu einer geheimen Absprache gekommen sein, die Uber das Geschäft erleichtert haben soll“, schreibt das Handelsblatt am 10. Juli 2022. „Als Finanzminister habe Macron sich ‚selbstverständlich mit zahlreichen Unternehmen ausgetauscht‘, erklärte ein Sprecher des Präsidenten. Dabei sei es auch darum gegangen, bestimmte administrative oder regulatorische Sperren aufzuheben.“ Auf EU-Ebene war die Niederländerin Neelie Kroes, bis Ende 2014 als EU-Kommissarin für die digitale Agenda verantwortlich, behilflich. Sie soll sich bei Politikern ihres Landes für Uber stark gemacht haben. Nach ihrem Ausscheiden in Brüssel und nach Ablauf einer Karenzzeit übernahm sie einen gut bezahlten Job als Beraterin bei dem US-Unternehmen (vgl. Spiegel vom 10. Juli 2022).

FDP-Politiker Otto Fricke stellte den Kontakt zu deutschen Politikern her, zum Beispiel zum damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und zur Staatssekretärin Dorothee Bär (beide CSU). Laut SZ sei es das Ziel gewesen, das Personenbeförderungsgesetz zu ändern. In dieser Zeit, zwischen 2014 und 2016, war Fricke für eine Beratungsfirma als Lobbyist tätig. Bereits von 2002 bis 2013 gewählter Bundestagsabgeordneter, stieg er dann ab 2017 wieder in die Politik ein und kam erneut in den Bundestag.

Die Wissenschaft:

Laut Uber-Files fand der Konzern über Fricke auch Kontakt zu Justus Haucap, Professor für Wirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf – einem „Überzeugungstäter, der im Taximonopol ohnehin ein Problem sah“ (SZ vom 11. Juli 2022). Dieser verfasste 2015 für 44.000 Euro eine Studie zu den angeblich positiven Wirkungen der Marktöffnung für die Verbraucher und platzierte laut SZ einen „flankierenden“ Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für weitere 4.000 Euro. Die Studie wurde vor Erscheinen offensichtlich von Uber noch einmal gegengelesen und in Absprache mit Haucap abgeändert.

Die Medien:

Die Uber-Files enthüllen, dass „die Berater des Unternehmens von Beginn an auch einige der mächtigsten Medienkonzerne Deutschlands auf dem Zettel hatten: Axel Springer, Hubert Burda Media, Pro Sieben Sat 1“. (SZ vom 12. Juli 2022) Tagesschau.de beschrieb am 11. Juli das strategische Vorgehen Ubers:

„Um in Deutschland besser angenommen zu werden, hoffte Uber auch auf Unterstützung von Medienunternehmen. Der Springer-Konzern bot Hilfe an und investierte in das Start-up. Vor allem für den damaligen ‚Bild‘-Chef Diekmann interessierte sich Uber. (…) Man wollte sich am liebsten mit der größten deutschen Boulevardzeitung zusammentun, um den Zutritt zum deutschen Markt zu erleichtern. ‚Wir brauchen jemanden wie Kai Diekmann, der Türen für uns öffnet‘, schrieben die Uber-Manager damals. Und in einer anderen E-Mail: ‚Kai Diekmann ist der beste Weg, auch um zu Merkel zu kommen.‘ Diekmann galt bei Uber als einer der mächtigsten Medienmacher. (…) Offen für Unterstützungsleistungen zeigte sich laut den Uber Files Axel Springer. Der Konzern beteiligte sich Anfang 2016 mit einem kleinen Investment am US-Unternehmen. ‚Für uns ist der Wert die Unterstützung und der Einfluss des Verlags in Berlin und Brüssel‘, hielten Uber-Manager dazu intern fest. (…) E-Mails zeigen auch, wie hilfsbereit Springer-Manager für Uber waren. Sie wollten zum Beispiel dabei helfen, den Uber-Chef Travis Kalanick mit hochrangigen Politikern zusammenzubringen. ‚Bitte teilen Sie uns mit, welche Politiker Travis in dem Zusammenhang treffen möchte (…)‘. (…) Über Springers Uber-Beteiligung erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls lange nichts, erst im April 2017 wurde sie bekannt, als Diekmann ‚Bild‘ verließ und in ein Beratergremium von Uber wechselte – das ‚Policy Advisory Board‘, wie Uber es nennt.

Diekmann ließ mitteilen, er habe dabei geholfen, für Axel Springer bei den relevanten Technologieunternehmen Türen zu öffnen und wichtige Kontakte herzustellen. ‚Es ging darum, den ‚Spirit‘ zu verstehen‘. Einen Interessenkonflikt zwischen seinen Gesprächen und Treffen mit Tech-Unternehmen wie Uber und seinen Aufgaben bei ‚Bild‘ habe es nie gegeben.“

 

Quellen:

Nina Bovensiepen u.a.: „Über Uber“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf u.a.: „Wer schreibt, der bleibt“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum/Jan Diesteldorf: „Bitte recht Uber-freundlich“, SZ vom 12. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum u.a.: „Deutsche Lobbyisten im Dienste eines US-Konzerns“, Tagesschau.de vom 10. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-105.html

Petra Blum u.a.: „Wie Uber deutsche Medien umwarb“, Tagesschau.de vom 11. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-107.html

„Datenlecks decken schmutzige Lobbyarbeit des Fahrdienstleisters Uber auf“, Der Spiegel (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/uber-datenlecks-decken-schmutzige-lobbyarbeit-des-fahrdienstleisters-auf-a-c1cae170-ce5c-44a0-90b4-58b0d66416ad

 

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse über die undurchsichtigen Geschäfte der Adler Group, ehemals einer der größten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation über die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerät. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansässigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp über vier Euro.

Für Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende März 2022, als die Wirtschaftsprüfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat für den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist für Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die Prüfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß Geschäfte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte über unseriöse Geschäftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen würde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische Leerverkäufer Fraser Perring, der bereits zur Aufklärung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil über die Adler Group gefällt hatte („eine Brutstätte für Betrug, Täuschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plündere das Unternehmen zulasten der Aktionäre aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das Geschäftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fälschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplündern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte künstlich aufblähe, sich dann günstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschütten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jüngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch Wertzuwächse ihrer „assets“. Besonders Geschäfte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begründen, aus denen Gewinne – ohne Liquiditätszuflüsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nüchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hätte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. Tatsächlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten für die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – für DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fünf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden für die Aktionäre seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hätte die Höhe der Ausschüttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemäß der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, würde es zum einen ermöglichten, leichter an günstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschütten. [2] Für die Mieter:innen eine beängstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten üppigen zukünftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestätigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring über die Geschäftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die Aufklärung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen läuft hinterher und stützt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden Leerverkäufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell führt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte für Rechnungslegungsverstöße vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und Beschäftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen Verstößen kann sie Geschäfts- und Wohnräume durchsuchen und Gegenstände beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in Düsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties für 350 Millionen Euro übernehmen. Deshalb verkaufte Adler das Düsseldorfer Grundstück für 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen Geschäftsführer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genügend Kapital, um die ADO zu übernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rückgängig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. Für Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hätte das Unternehmen ins Verderben führen können. Rückzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hätten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fällige Anleihen zurückzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug für den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe abzustreiten – als wäre nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert über die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-Aktionäre bestätigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das Verhältnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur Bonitätsprüfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „Betrugsvorwürfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen Geschäfte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/