Im  Krieg verlieren auch die Sieger

Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern GAZPROM fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.
Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untätige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klären, ob führende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre später, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag für den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die Geschäfte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurück – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon häufig für Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum größten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig übernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben für die beiden Bundesländer trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle Geschäfte zu Lasten der öffentlichen Hand einfädelten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich während der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die Vorgänge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafür sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das Düsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das Geschäftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor über sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den Geschäften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt hätten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen Geschäften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten Steuerschäden belaufen sich ebenfalls auf hohe Millionenbeträge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlässig aufgeklärt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurückhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker übt sich die Justiz tatsächlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit Gefängnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. Während aber bislang vier Täter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spätestens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurückzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die Täter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wäre. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwändiges Verfahren handele, gäbe es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro müssen letztlich viele hochkomplexe Aktiengeschäfte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt für die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, für die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, Rückstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die Steuerrückforderungen übernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-Geschäften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwärtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und Schlüsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwähnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 übernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frühere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklärt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von Grünen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der früheren WestLB aufklären.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche Leerverkaufsgeschäfte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen Wirtschaftsprüfer und in enger Kooperation mit den zuständigen Behörden würden alle in Frage kommenden Geschäftsvorgänge in dem Zeitraum untersucht. Nach der Ankündigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (…) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-Geschäften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-Geschäfte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurückgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdächtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch für die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit Milliardenbeträgen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der Prioritätenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

Aufsichtsräte wissen von nichts

Zu den auffallend zurückhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und Verwaltungsräte der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit Landräten, Oberbürgermeistern und Sparkassenvorständen, sind keinerlei Versuche bekannt, die Aufklärung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen Geschäften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und späterer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als Aufkäufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen über Cum-Ex-Geschäfte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezügliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse über missbräuchliches Verhalten der Landesbank vorliegen würden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz Dürr, ebenfalls recht dürftig: „Während meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht über das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frühere Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschäftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „Wirtschaftsgrößen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. Verwaltungsräten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-Geschäfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hätten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen Geschäfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„Natürlich haben wir Cum-Ex-Geschäfte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (…) Die Cum-Ex-Geschäfte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen Geschäften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese räumen mit naiven Annahmen auf, der Staat würde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkämpften Geschäftsfeldern wie die privaten Banken und müssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die Führungskräfte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe Gehälter und Boni.

Die bizarre Geschäftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprünglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ Geschäftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr Auslandsgeschäft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen Gründen per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die Geschäftsführungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu führen. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten Geschäftspolitik noch nie einschränken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante Geschäfte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund geführt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und Verwaltungsräte, zur Aufklärung über die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lässt auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darüber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht für das „marktübliche“ internationale Investmentgeschäft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen Träger) fähig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hält ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Schäden in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-Affäre“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne Täter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu früh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html