Unternehmensstrafrecht: In Zukunft schärfere Regelungen gegen Wirtschaftskriminalität?

„Wir wollen sicherstellen, dass Wirtschaftskriminalität wirksam verfolgt und angemessen geahndet wird“: Vor dem Hintergrund von Dieselaffäre, Fleischskandalen und Cum-Ex-Geschäften hatten sich die Regierungsfraktionen im aktuellen Koalitionsvertrag auf schärfere Sanktionen gegen Unternehmen festgelegt. Dann folgte allerdings ein langer Streit über die konkrete Ausgestaltung des Vorhabens. Im Juni des letzten Jahres beschloss die Bundesregierung schließlich den von der Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz vorgelegten Entwurf des „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“. Ein Jahr nach Vorlage des Regierungsentwurfes folgte dann jedoch das endgültige Aus für das Gesetzesvorhaben. Massive Gegenwehr gegen höhere Strafen für kriminelle Unternehmen aus Kreisen der Wirtschaft und der Union hatten nun doch noch zum Scheitern der Regierungsvorlage geführt.

Einer der Kernpunkte dieser Vorlage bildete ein neues Sanktionsrecht. Für Gesetzesverstöße von Unternehmen wie Betrug, Korruption oder Umweltdelikte konnten und können bislang nur Geldbußen von maximal zehn Millionen Euro verhängt werden. Der Regierungsentwurf sah hingegen für Konzerne mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro Bußbescheide in Höhe von bis zu zehn Prozent ihres Jahresumsatzes vor. Künftig sollten zudem – bei einen Verdacht, dass aus dem Unternehmen heraus Straftaten begangen werden – Staatsanwaltschaften nach dem Legalitätsprinzip gegen Firmen ermitteln. Bisher liegt es hingegen im Ermessen der einzelnen Behörden, ob und wie gegen Delikte von Unternehmen vorgegangen wird.

Obwohl die geplanten Unternehmenssanktionen in dieser Legislatur nun nicht mehr kommen, hält es das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 16. August 2021 für sehr wahrscheinlich, dass sich Unternehmen in naher Zukunft auf schärfere Regelungen einstellen müssen. Zwar tauche ein neues Sanktionsrecht in den Wahlprogrammen von Union und SPD nicht mehr auf. Doch auf Nachfrage würden sich die beiden Parteien dafür grundsätzlich offen zeigen. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sagte gegenüber der Zeitung, dass die Betrügereien von Unternehmen mit Coronatests gerade erst gezeigt hätten, wie sinnvoll solche Regelungen wären.

Nach Angaben des rechtspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jan-Marco Luczak, will die Union Rechtsverstöße in der Wirtschaft „gezielt bekämpfen“, nicht aber Unternehmen „generell kriminalisieren“. „Wir wollen einen Regelungsrahmen“, so Luczak, „der Anreize für Unternehmen schafft, sich rechtstreu zu verhalten und mit den Strafverfolgungsbehörden zu kooperieren“. Dafür sei die Fraktion auch in Zukunft offen und gesprächsbereit.

Die Grünen hingegen halten – wie Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dem Handelsblatt mitteilte – ein Gesetz zu Unternehmenssanktionen weiterhin für erforderlich und wollen Unternehmen bei Rechtsverstößen künftig wirksamer zur Rechenschaft ziehen.

Im Wahlprogramm der FDP tauchen Unternehmenssanktionen dagegen laut Handelsblatt mit keinem Wort auf. Die größte Abschreckungswirkung, Straftaten zu begehen, habe nach Auffassung der Liberalen immer noch die individuelle Haftung. „Gerade vor dem Hintergrund der sehr hohen Belastungen der deutschen Wirtschaft durch die Politik der Großen Koalition und durch Corona sind zusätzliche Belastungen durch ein Unternehmensstrafrecht der falsche Weg“, zitiert das Blatt das Wahlprogramm der FDP.

Der Ökonom Heinz-J. Bontrup kritisierte bereits im letzten Jahr den damals noch aktuellen Regierungsentwurf. In einem Interview mit den „NachDenkSeiten“ sagte er unter anderem, dass in der Vergangenheit unternehmensseitig begangene kriminelle Wirtschaftsdelike eben nicht strafrechtlich verfolgt werden konnten. Diese Delikte unterlagen stattdessen dem Ordnungswidrigkeitengesetz, wo bei der Sanktion nur ein Bußgeld drohte. „Bußgelder schrecken aber kriminelle Unternehmen nicht ab. Im Gegenteil, sie können sich die Geldstrafen ex-ante berechnen und diese dann in ihren Produkten einpreisen, so dass am Ende, fliegen die Unternehmen auf, auch noch der ‚dumme‘ Nachfrager das Bußgeld für die Täterunternehmen bezahlt.“

Streng genommen, meinte Bontrup weiter, würde es auch mit dem neuen Gesetz kein „Unternehmensstrafrecht“ geben. „Strafrecht impliziert neben Geldstrafen immer auch die Möglichkeit einer Haftstrafe. Man kann aber ein Unternehmen, also eine juristische Person, nicht verhaften – allenfalls kann man das Unternehmen zerschlagen oder enteignen, was übrigens im GWB* bei schweren Verstößen gegen den Wettbewerb, mit Ausnahme einer Enteignung, durchaus vorgesehen ist, bis heute realiter aber noch nicht einmal umgesetzt wurde. Und jetzt wird es interessant und entscheidend: Eine Zerschlagung oder Enteignung sieht das neue ‚Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft‘ nicht vor, sondern, wie im GWB, nur eine monetäre Sanktionierung über Bußgelder, die hier dem GWB angelehnt wurden. (…) Glauben Sie mir: Wenn der Gesetzgeber den Unternehmenseigentümern, und um die geht es bei Unternehmen letztlich, mit einer konkreten Zerschlagung oder in ganz schweren Fällen mit einer Wegnahme ihrer Unternehmen (Enteignung ohne Entschädigung) bedrohen würde, dann gäbe es auch keine kriminellen Handlungen mehr. Ein dazu notwendiges, wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich aber die herrschende Politik nicht. Insofern muss man von einem Staatsversagen sprechen (…).“

* Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)

 

Quellen:

Heike Anger: „Betrug, Korruption oder Umweltdelikte: Unternehmenssanktionen werden kommen“, Handelsblatt (Online) vom 16. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/wirtschaftskriminalitaet-betrug-korruption-oder-umweltdelikte-unternehmenssanktionen-werden-kommen/27521226.html

Corinna Budras: „Gesetzesentwurf gekippt: Skandale ohne Folgen“, FAZ (Online) vom 9. Juni 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/koalition-beerdigt-gesetz-zu-unternehmenssanktionen-17381080.html

„Ein wirkliches Unternehmensstrafgesetz zu verabschieden, traut sich die herrschende Politik nicht“, Interview der „NachDenkSeiten: Die kritische Website“ mit Heinz-J. Bontrup vom 3. August 2020

https://www.nachdenkseiten.de/?p=63536

 

Cyberattacken nehmen stark zu

Bereits am 5. August 2021 stellten der Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, und der Präsident von Bitkom*, Achim Berg, bei der Bundespressekonferenz die repräsentative Studie „Wirtschaftsschutz und Cybercrime“ vor.

Die Schäden durch analoge und digitale Angriffe wie Diebstahl, Industriespionage und Sabotage sind demnach aktuell auf 223,5 Milliarden Euro gestiegen. Im Jahr 2019 hatte die Schadenssumme noch bei 102,9 Milliarden Euro gelegen. Bitkom hatte über tausend Unternehmen quer durch alle Branchen im Zeitraum vom 11. Januar bis 9. März 2021 jeweils nach Schäden in den vergangenen zwölf Monaten befragt. Etwa 90 Prozent der Unternehmen gaben an, Opfer von Cyberkriminalität geworden zu sein.

„Der starke Anstieg krimineller Aktivitäten geht vor allem auf Cyberattacken zurück, von denen 86 Prozent der Unternehmen laut der Bitkom-Studie betroffen waren. ‚Kein anderes Angriffsszenario ist so stark gestiegen wie Digitalattacken‘, sagte Berg am Donnerstag bei der gemeinsamen Vorstellung der Ergebnisse mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Berg bezeichnete die Entwicklung als ‚schockierend‘. Hinter den meisten Angriffen steckten immer häufiger Profis, die ‚richtig hohe Schäden verursachen‘. Ein Grund für die massive Zunahme von Cyberattacken ist der Wechsel ins Homeoffice im Zuge der Corona-Pandemie. Die neue Welle der Heimarbeit habe dazu geführt, dass viele Kriminelle vor allem das ‚schwächste Glied der Sicherheitskette‘, den Faktor Mensch, bei ihren Attacken anvisierten, so die Studie. Dabei reicht es, dass ein Mitarbeiter sein Passwort telefonisch weitergibt oder einen infizierten Anhang einer E-Mail anklickt, um den Hackern das Tor zur Unternehmenswelt weit zu öffnen.“ (Handelsblatt vom 5. August 2021)

Nach Angaben der Studie erfolgen viele der Angriffe aus dem Ausland. Die befragten Unternehmen vermuteten mit rund 60 Prozent Osteuropa und Russland als die Region, aus der die meisten Hackerattacken kamen, gefolgt von Deutschland (43 Prozent) und China (30 Prozent). Laut Verfassungsschutz ist auch eine Zunahme von staatlichen Cyberangriffen festzustellen. 84 Prozent der befragten Unternehmen befürchten, dass Cyberattacken weiter zunehmen werden. Besonders bedroht sehen sich Betreiber der kritischen Infrastruktur wie Stromnetzbetreiber oder Telekommunikationsunternehmen.

Die netzpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Anke Domscheit-Berg, kritisierte gegenüber dem Neuen Deutschland, dass die Bundesregierung viel zu wenig tue, um die Risiken zu begrenzen. Sie verdeutlicht das am Beispiel des Landkreises Anhalt-Bitterfeld.

„Dort fand Anfang Juli ein Angriff auf die IT-Systeme der Verwaltung mit einer ‚Ransomeware‘ genannten Schadsoftware statt. Eine schlichte Erpressung. Die Angreifer verschlüsselten die Daten auf den Speichern der Verwaltung und verlangten Geld dafür, damit die Daten wieder entschlüsselt werden. Das Lösegeld wurde nicht gezahlt. Wenige Tage nach dem Angriff musste der Landkreis den Katastrophenfall ausrufen, weil die Verwaltung nicht mehr arbeitsfähig war und viele Dienstleistungen nicht mehr erbringen konnten, auf die Bürger*innen angewiesen sind. Wohngeld, BaföG, Eingliederungshilfen und viele weitere Antragsverfahren mussten neu organisiert und über eine Notinfrastruktur realisiert werden. Zuletzt vermeldete der Landkreis den kleinen Erfolg, dass auch die Zulassung von Kraftfahrzeugen nach mehr als drei Wochen wieder technisch möglich sei. Die Bundeswehr kam mit ihren Cyberabteilungen zum Einsatz, um die 900 Computer der Verwaltung wieder arbeitsfähig zu machen und Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.“ (Neues Deutschland vom 5. August 2021)

Zur Angreifbarkeit der Systeme trage aber auch die Bundesregierung selbst bei. Denn trotz latenter Bedrohung wolle die Regierung weiterhin Sicherheitslücken geheim halten, um sie für Überwachung ausnutzen zu können. Faktisch sei jeder Staatstrojaner eine Schadsoftware, die auch genauso funktioniere und die gleichen Angriffswege nutze.

* Der 1999 gegründete Digitalverband Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V.) vertritt die deutsche Informations- und Telekommunikationsbranche und damit mehr als 2.000 Mitgliedsunternehmen.

Quellen:

„Wirtschaftsschutz 2021“, Studie der Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-08/bitkom-slides-wirtschaftsschutz-cybercrime-05-08-2021.pdf

„Angriffsziel deutsche Wirtschaft: mehr als 220 Milliarden Euro Schaden pro Jahr“, Pressemitteilung Bitkom vom 5. August 2021

https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Angriffsziel-deutsche-Wirtschaft-mehr-als-220-Milliarden-Euro-Schaden-pro-Jahr

Daniel Lücking: „Angriffsziel Heimarbeit“, Neues Deutschland vom 5. August 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155312.cybersicherheit-angriffsziel-heimarbeit.html

Teresa Stiens: „Angriff auf die deutsche Wirtschaft: Cyberkriminalität kostet Unternehmen Milliarden“, Handelsblatt vom 5. August 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/bitkom-studie-angriff-auf-die-deutsche-wirtschaft-cyberkriminalitaet-kostet-unternehmen-milliarden/27483826.html

 

Exzessive Profite von Impfstoffherstellern

Nach einer aktuellen Studie der internationalen NGO The People’s Vaccine Alliance erzielen die großen mRNA-Impfstoffhersteller, darunter BioNTech (Mainz), riesige Profite aus der Covid-19-Pandemie. Die NGO kommt zu dem Schluss, dass die von BioNTech und Pfizer aus dem Verkauf ihres Vakzins gezogenen Einnahmen um rund 24 Milliarden US-Dollar über dem Herstellungspreis liegen.

„Demnach könnte eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins für rund 1,18 US-Dollar produziert werden, eine Dosis des Moderna-Vakzins für 2,85 US-Dollar. Soweit die tatsächlich gezahlten Preise bekannt sind, liegen sie bei Moderna um das 4- bis 13-Fache über den von The People’s Vaccine Alliance geschätzten Produktionskosten, bei BioNTech/Pfizer sogar um das 6- bis 24-Fache. Der niedrigste bekannte Preis für eine Dosis des BioNTech/Pfizer-Vakzins wurde von der Afrikanischen Union (AU) gezahlt; er liegt mit 6,75 US-Dollar pro Dosis beim 6-Fachen der geschätzten Produktionskosten. Den höchsten Preis bezahlte Israel mit 28 US-Dollar pro Dosis. Moderna wiederum soll von Kolumbien 30 US-Dollar pro Impfdosis verlangt haben – das Doppelte dessen, was die US-Regierung zahlte. Südafrika hat sich gezwungen gesehen, ein Angebot von Moderna als unbezahlbar abzulehnen; Berichten zufolge verlangte der Konzern 42 US-Dollar pro Dosis.“ (german-foreign-policy.com vom 4. August 2021)

Nach Einschätzung von The People’s Vaccine Alliance hat dabei die EU die Preise „besonders schlecht verhandelt“ und damit den Impfstoffherstellern besonders hohe Profite beschert. Der Betrag, den die EU über den reinen Herstellungspreis hinaus ausgegeben habe, belaufe sich auf gut 31 Milliarden Euro, 19 Prozent des gesamten EU-Haushalts für das Jahr 2021. Berlin sichere die Profite der Impfstoffhersteller, indem es die zeitweise Aussetzung der Impfstoffpatente weiterhin blockiere. Schwellen- und Entwicklungsländer würden vor allem von China versorgt – mit inzwischen über 570 Millionen Impfdosen.

In The People’s Vaccine Alliance haben sich etwa 70 internationale NGOs, darunter Oxfam und Amnesty International, zusammengeschlossen.

Quelle:

„Die Pandemieprofiteure“, Bericht des Online-Nachrichtenportals „Informationen zur Deutschen Außenpolitik“ (german-foreign-policy.com) vom 4. August 2021

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8678/

Weitere Informationen:

„Vaccine monopolies make cost of vaccinating the world against COVID at least 5 times more expensive than it could be“, Presseinformation von Oxfam International vom 29. Juli 2021

https://www.oxfam.org/en/press-releases/vaccine-monopolies-make-cost-vaccinating-world-against-covid-least-5-times-more

 

 

 

Mindestfallzahlen in den Krankenhäusern: Kritik an Schließung von Frühchenstationen

Das Anfang 2020 gegründete „Bündnis Klinikrettung“ kämpft gegen den massenhaften und flächendeckenden Abbau von Krankenhäusern. In einem aktuellen Aufruf heißt es:

„In Deutschland schließen seit Jahren fast monatlich Krankenhäuser. Kommunale Kliniken machen dicht, weil ihnen das Geld ausgeht, private Kliniken werden geschlossen, weil sie aus Sicht der Eigentümer nicht genügend Rendite erbringen. Der Bund fördert solche Schließungen sogar mit 500 Millionen Euro jährlich! Diese Entwicklung muss umgehend gestoppt werden. Krankenhäuser retten Leben. Wir brauchen sie in Krisenzeiten und im Alltag.“

Medienberichte belegen die Relevanz dieser Forderung. Am 25. Mai 2021 informierte etwa der NDR darüber, dass die Versorgung von Frühgeborenen in Mecklenburg-Vorpommern von 2024 an eingeschränkt werden soll. Der Hintergrund: In sogenannten Perinatalzentren können kranke Babys und Frühchen unabhängig von Größe, Alter und Gewicht behandelt werden. Das höchste Beschlussgremium im deutschen Gesundheitswesen, der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), entschied aber Ende des letzten Jahres, die Mindestanzahl für die Behandlung von Frühgeborenen unter 1.250 Gramm hochzusetzen: von 14 Fällen pro Jahr auf 25. Offensichtlich mit dramatischen Folgen für Mecklenburg-Vorpommern (MV). Denn die neue Mindestmenge von 25 Fällen, so der NDR, erreichten dort nur die Kliniken in Schwerin und Rostock, Greifswald und Neubrandenburg dagegen nicht.

Der Bundesverband „Das Frühgeborene Kind e.V.“ betont dagegen die positiven Effekte einer Mindestmenge. In einer Stellungnahme vom Dezember 2020 heißt es: „Es gibt Behandlungen, bei denen die Qualität des Ergebnisses von der Anzahl der Patienten pro Jahr und Krankenhaus abhängt. Im Bezug auf die stationäre Versorgung von Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1250 Gramm ist ein solcher Zusammenhang bereits seit Jahren nachweislich belegt. Ausreichende Erfahrung im Umgang mit derart unreifen Kindern wirkt sich existenziell auf die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens aus.“

Die Süddeutsche Zeitung erläuterte bereits Ende 2020 den Hintergrund des Konflikts – mit der gleichen Stoßrichtung. Die Versorgung von Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250 Gramm sei in den vergangenen Jahren besonders umstritten gewesen. Für diese extrem unreifen Frühgeborenen hätte die Mindestmenge in Deutschland seit 2010 bei nur 14 Fällen pro Jahr und Klinik gelegen. Der G-BA habe den Wert zwar noch im selben Jahr auf 30 Fälle pro Klinik erhöht. Zahlreiche Studien hätten aber schon damals belegt, dass es in Kliniken mit mehr Erfahrung zu weniger Todesfällen und Behinderungen bei den Frühgeborenen gekommen sei. Doch hätten mehrere Kliniken gegen die Erhöhung der Mindestmenge geklagt.

„Das Bundessozialgericht gab den Klägern recht, allerdings mit einer gewagten Begründung: So sei der Grenzwert von 30 willkürlich, weil ebenso gut 25 oder 50 festgelegt werden könnte. Allerdings gelten solche Grenzen beispielsweise auch für Laborwerte in der Medizin, für die Schwelle zum Übergewicht und für jedes Tempolimit, ohne dass deren Sinn in Frage gestellt würde. Vor wenigen Wochen hatte eine große Analyse von mehr als 50.000 Geburten in Deutschland gezeigt, dass eine Klinik mindestens 50 bis 60 der absoluten Leichtgewichte jährlich behandeln sollte, damit die Aussichten für die Kinder optimal wären. Jedes Jahr würden sich 25 bis 40 Todesfälle unter den Frühchen auf diese Weise verhindern lassen.“

Dr. Sven Armbrust, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Neubrandenburg, hält im NDR-Beitrag vom  vergangenen Mai vehement dagegen und kritisiert die höhere Mindestmenge. „Stattdessen müssen wir sagen, welche Kriterien brauchen wir, um zu definieren, ob das eine gute oder eine schlechte Qualität ist. Und wenn man Kliniken hat, die schlechte Qualität liefern, dann müssen sie die verbessern oder es muss Konsequenzen haben.“ Stationen aber auf Basis von Mindestmengen zu schließen halte er für den falschen Weg.

Im Juni 2021 wurde schließlich das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung” im Bundestag beschlossen (gültig ab 20. Juli 2021) und damit die Mindestmengenregelungen im Krankenhaus juristisch festgezurrt. Ausnahmen sind jedoch – als Kompromisslösung – im Einvernehmen mit den Krankenkassen möglich. Werden solche Absprachen mit den Krankenkassen getroffen, können spezielle Versorgungsleistungen und Behandlungen in dünn besiedelten Regionen weiterhin angeboten werden, obwohl bundesweite Mindestzahlen nicht erfüllt werden. Der gesundheitspolitische Sprecher der Fraktion und Landesvorsitzender der Partei Die Linke in MV, Torsten Koplin, merkt aber an, dass die Entscheider in den Krankenkassen alle außerhalb des Bundeslandes sitzen. MV habe denen gegenüber kein Entscheidungs- oder Weisungsrecht (vgl. Nordkurier vom 17. Juni 2021).

Quellen:

Werner Bartens: „Mehr Erfahrung für die Kleinsten“, Süddeutsche Zeitung vom 19. Dezember 2020

https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/fruehgeborene-mindestmengen-krankenhaeuser-1.5152772

Bündnis Klinikrettung: „Gemeingut Krankenhaus retten: Worum geht es?“

https://www.gemeingut.org/krankenhausschliessungen/#1604497252438-cba0189f-848c

Louisa Maria Carius: „Frühchenstationen in Mecklenburg-Vorpommern vor dem Aus?“, NDR-Nordmagazin vom 26. Mai 2021

https://www.ndr.de/nachrichten/mecklenburg-vorpommern/Fruehchenstationen-in-MV-vor-dem-Aus,neonatologie102.html

„G-BA beschließt neue Mindestmenge für Frühgeborene unter 1250 Gramm“, Stellungnahme (vom 21. Dezember 2020) des Bundesverbands „Das frühgeborene Kind“ e.V. zum neuen Mindestmengen-Beschluss vom 17. Dezember 2020

https://www.fruehgeborene.de/news/stellungnahme-zum-neuen-mindestmengen-beschluss-vom-17122020

Christoph Schoenwiese: „Linke in MV begrüßt Kompromiss bei Frühchenstationen – mit einem Aber“, Nordkurier vom 17. Juni 2021

https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/linke-in-mv-begruesst-kompromiss-bei-fruehchenstationen-mit-einem-aber

 

Commerzbank kündigt Konto eines linken Verlags

Die Commerzbank hat das Geschäftskonto der Mediengruppe Neuer Weg GmbH, in deren Druckerei Publikationen verschiedener linker Gruppen und Initiativen gedruckt werden, gekündigt. Das berichtet der Verlag in einer Mitteilung vom 21. Juli 2021. Über den Grund der Kündigung äußerte sich die Bank offensichtlich nicht. „Die Geschäftsbeziehung des Verlag Neuer Weg mit der Commerzbank verlief über Jahrzehnte ohne jede Beanstandung. Die Kündigung des Kontos erfolgte lediglich mit Verweis auf ihre Allgemeinen Geschäftsbedingungen, wonach sie jederzeit die gesamte Geschäftsverbindung oder einzelne Geschäftsbeziehungen ohne Angabe von Gründen kündigen kann“, heißt es dazu vom Verlag.

Ebenso sei das Privatkonto des Geschäftsführers Uwe Pahsticker und das der „Internationalismusverantwortlichen“ der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands), Monika Gärtner-Engel, gekündigt worden. Wenige Wochen zuvor habe die Bank auch das Konto von Stefan Engel, Autor im Verlag Neuer Weg und ehemaliger Parteivorsitzender der MLPD, gekündigt.

Nach Auffassung des Verlags reihen sich diese Angriffe „in eine Rechtsentwicklung der Gesellschaft ein, siehe die Nichtzulassung der DKP zu den Bundestagswahlen, Einschränkungen beim Versammlungsrecht usw.“.* Es sei geradezu lächerlich, „wenn die Commerzbank auf ihrer Homepage ihr Logo jetzt in Regenbogenfarben erscheinen lässt und behauptet ‚Wir bekennen Farbe für Vielfalt‘. Die Vielfalt gilt offensichtlich nur für höchstprofitbringende Geschäftskunden und nicht für Marxisten-Leninisten“.

In der Vergangenheit wurden bereits Geschäfts- und Privatkonten der MLPD bzw. einzelner ihrer Mitglieder von Banken gekündigt, so im Jahr 2009 durch die Deutsche Bank – ebenfalls ohne Nennung von Gründen.

* Die Nichtzulassung der DKP zur Bundestagswahl ist inzwischen aufgehoben worden.

Quellen:

„Kündigung unseres Geschäftskontos durch die Commerzbank“, Mitteilung der Mediengruppe Neuer Weg GmbH vom 21. Juli 2021

https://www.rf-news.de/2021/kw30/210721-mnw_erklaerung-zu-kontenkuendigung-durch-commerzbank.pdf

Luise Strothmann: „Marxisten müssen neue Bank suchen“, taz vom 20.11.2009

https://taz.de/Deusche-Bank-kuendigt-Konto/!5152150/

 

 

 

Finanzskandal im Vatikan

Am 27. Juli 2021 begann in Rom ein außergewöhnlicher Strafprozess um den Verlust von Kirchengeldern. Denn mit Giovanni Angelo Becciu, einem 73-jährigen Sarden, steht zum ersten Mal in der Geschichte ein Kardinal vor einem vatikanischen Gericht. Zehn weitere Personen sind angeklagt, Kirchengelder in dreistelliger Millionenhöhe veruntreut zu haben. Es soll dabei laut Anklage nicht nur zu massiven finanziellen Verlusten gekommen sein, sondern auch zu schweren Delikten wie Unterschlagung, Amtsmissbrauch, Geldwäsche, Korruption, Betrug und Erpressung.

„Becciu war von 2011 bis 2018 Substitut im Staatssekretariat des Vatikan, also Stellvertreter des Chefs in der Verwaltungszentrale der Weltkirche. Dort war er hauptsächlich zuständig für Investitionen. In seine Amtszeit fiel der Erwerb einer Luxusimmobilie im schicken Londoner Stadtteil Chelsea – für mehrere Hundert Millionen Euro. Im ehemaligen Lager des Kaufhauses Harrods an der Sloane Avenue sollten Wohnungen für sehr reiche Kunden gebaut werden. In den Deal waren Trader und Broker verwickelt, die für ihre Vermittlung hohe Kommissionen erhielten. Im Fall von Raffaele Mincione, der das Geschäft eingefädelt hatte, sollen es 40 Millionen Euro gewesen sein.“ (Süddeutsche Zeitung vom 25. Juli 2021)

Am 4. Juli 2021 schrieb die FAZ, dass ein erheblicher Teil der rund 350 Millionen Euro, die das vatikanische Staatssekretariat für den Erwerb des ehemaligen Lagerhauses bezahlt haben soll, aus dem Fonds des sogenannten Peterspfennigs stamme. Dabei handelt es sich um eine Kollekte, die einmal pro Jahr während einer Sonntagsmesse in den katholischen Kirchen weltweit erhoben wird. Nach Darstellung des Vatikan ist der Peterpfennig der „bezeichnendste Ausdruck der Teilhabe aller Gläubigen an den wohltätigen Initiativen des Bischofs von Rom für die Weltkirche“.

Beobachter sind gespannt, ob der angeklagte Kardinal während des Prozesses andere hohe Würdenträger durch belastende Aussagen in die Enge treibt. „Becciu war jahrelang so mächtig in der vatikanischen Verwaltung, dass er alles weiß, er kennt auch alle Geheimnisse“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Becciu drohen im Falle eines Schuldspruchs bis zu fünf Jahre Haft.

Quellen:

Matthias Rüb: „Wenn der Vatikan einen Kardinal anklagt“, FAZ (Online) vom 4. Juli 2021

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/finanzskandal-der-kirche-wenn-der-vatikan-einen-kardinal-anklagt-17421476.html?service=printPreview

Oliver Meiler: „Deal mit dem Peterspfennig“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 25. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/vatikan-immobiliendeal-prozess-kardinal-angelo-becciu-1.5362791

Marco Ansaldo/Andreas Englisch/Eveleyn Finger: „Ein Prozess, wie ihn Rom noch nicht erlebt hat“, Die Zeit (Online) vom 22. Juli 2021

https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/vatikanstaat-strafprozess-kirchengelder-spenden-investments-millionenhoehe-betrug/komplettansicht

„Der Peterspfennig heute“, Vatikanisches Presseamt

https://www.vatican.va/roman_curia/secretariat_state/obolo_spietro/documents/actual_ge.html

Weitere Informationen:

„Mammutprozess startet am 27. Juli“, Domradio.de vom 19. Juli 2021

https://www.domradio.de/themen/vatikan/2021-07-19/mammutprozess-startet-am-27-juli-vatikan-erhebt-anklage-wegen-finanzskandal-um-londoner-immobilie

„Vatikan blickt auf schwieriges Wirtschaftsjahr zurück“, Vatican News vom 24. Juli 2021

https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2021-07/vatikan-wirtschaft-jahresabschluss-guerrero-bilanz-corona.html

Autobauer Tesla – umweltrechtliche Zulassung wahrscheinlich

Nach Einschätzung von Brandenburgs Wirtschaftsminister Jörg Steinbach (SPD) spricht gegenwärtig nichts gegen eine umweltrechtliche Zulassung für die Fabrik des US-Elektroautoherstellers Tesla in Grünheide bei Berlin. Er hoffe auf einen Produktionsstart im vierten Quartal 2021, wenn „nichts Unvorhergesehenes“ mehr passiere, wie unter anderem der Berliner Tagesspiegel am 18. Juli berichtete. Weil Tesla einen neuen Antrag auf Zulassung – unter Einschluss einer Batteriefabrik – stellte, hat sich das vom Land Brandenburg durchgeführte Genehmigungsverfahren verzögert. Ursprünglich sollte die Produktion der vom Hersteller selbst als „Gigafactory“ bezeichneten ersten Fertigungsanlage in der EU im Juli aufgenommen werden. Tesla plant in Grünheide die Produktion von 500.000 Elektroautos pro Jahr.

Das Unternehmen, so Minister Steinbach, habe im bisherigen Antragsverfahren gezeigt, dass alles dafür getan werde, um Genehmigungshindernisse auszuräumen. Die Bauarbeiten des US-Elektroautoherstellers in Grünheide liefen in Teilabschnitten auf Basis vorläufiger Zulassungen weiter und seien schon weit fortgeschritten. Auch könnten bestimmte Anlagen weiterhin getestet werden, obwohl die Gesamtgenehmigung des Landesumweltamtes für die Fabrik nach wie vor fehle. Wann darüber entschieden werde, sei offen.

Der Naturschutzbund (Nabu) und die Grüne Liga Brandenburg sehen das Projekt kritisch und haben mehrfach versucht, vorzeitige Genehmigungen vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zu Fall zu bringen. Die Umweltverbände hatten sich gegen Tests von Anlagen in den Bereichen Lackiererei, Gießerei und Karosseriebau sowie den Einbau von Tanks für die Abwasserreinigung und die Betankungsanlage gewandt (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021).

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Die Umweltschützer verweisen auf ein Störfallgutachten, sie halten damit eine positive Prognose für die Genehmigung nicht mehr für möglich. Damit fehlt aus ihrer Sicht eine der wichtigen Voraussetzungen für die vorzeitige Zulassung. Der Landesgeschäftsführer der Grünen Liga Brandenburg, Michael Ganschow, sieht die Gefahr, ‚dass der Standort im Wasserschutzgebiet im Verfahren nicht notwendig Berücksichtigung findet‘. Er kritisiert auch, es gebe zahlreiche geschwärzte Stellen im Antrag von Tesla, mit denen die Frage der Gefahr unklar sei.“

Das Magazin Sozialismus.de beschreibt dagegen die Unzufriedenheit des Managements von Tesla mit der deutschen Bürokratie:

„In einem Brandbrief an die Öffentlichkeit drückte Tesla sein Unverständnis darüber aus, dass Projekte, die sich positiv auf die Energiewende auswirken und einen Beitrag zur Klimaneutralität leisten, nicht vorrangig genehmigt werden. ‚Tesla Brandenburg hat hautnah erfahren, dass Hindernisse im deutschen Genehmigungsrecht die notwendige industrielle Transformation und damit die Verkehrs- und Energiewende verlangsamen.‘ Die deutschen Genehmigungsverfahren müssten den verfolgten Zielen der Klimapolitik angepasst werden, sie hinkten dem Ziel hinterher und seien im Grunde die gleichen wie für ein Kohlekraftwerk. Diesen hinterherhinkenden Genehmigungsverfahren ist es nach Tesla auch zu verdanken, dass nach 16 Monaten immer noch keine Hauptgenehmigung für das Werk in Brandenburg vorliege und Tesla auf eigenen Risiko handele, mit der Gefahr, dass letztendlich auch alles wieder zurückgebaut werden müsse.“

Trotz aller Kritik im politischen Spektrum an Tesla ist die Angst des US-Konzerns vor einem möglichen Rückbau der Anlage unbegründet. Schließlich tritt keine der im Brandenburger Landtag vertretenen Parteien, auch die oppositionelle Linke nicht, prinzipiell gegen den Bau der Autofabrik auf.

Quellen:

„Wirtschaftsminister sieht Chance für Genehmigung von Tesla-Fabrik“, Tagesspiegel vom 18. Juli 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/gigafabrik-in-gruenheide-brandenburger-wirtschaftsminister-sieht-chance-fuer-genehmigung-vontesla-fabrik/27431654.html

„Minister: Aktuell keine Gründe gegen Genehmigung für Tesla“, Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2021

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/auto-gruenheide-mark-minister-aktuell-keine-gruende-gegen-genehmigung-fuer-tesla-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210718-99-423934

Tomas Morgenstern: „Tesla darf weiterbauen“, Neues Deutschland vom 15. Juli 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154501.tesla-tesla-darf-weiterbauen.html?sstr=tesla16.7.21

Ulrich Bochum: „Teslas Gigafactory“, Sozialismus.de, Heft 6/2021, Seite 42

https://www.sozialismus.de/vorherige_hefte_archiv/sozialismus/2021/heft_nr_6_juni_2021/

 

Massiver Widerstand der Industrie gegen neuen Hochwasserschutzplan

Vor dem Hintergrund der aktuellen Hochwasserkatastrophe hat das BMI (Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat) nach Angaben des Handelsblatt „ein bislang wenig beachtetes Vorhaben abgeschlossen, das in diesen Tagen enorme Bedeutung erlangt: den bundesweiten Raumordnungsplan für den Hochwasserschutz“. Bereits 2018 wurde im Koalitionsvertrag von Union und SPD angekündigt, einen entsprechenden Vorsorgeplan „zum Schutz der Menschen und Umwelt entlang unserer Gewässer“ zu entwickeln. „Mit ihm“, schreibt das Handelsblatt, „sollen sich Katastrophen wie dieser Tage möglichst nicht mehr wiederholen und überall dieselben Standards gelten“. 

Danach sollen Straßen- und Bahnnetze sowie kritische Infrastrukturen wie Strom und Mobilfunk besser vor Hochwasser geschützt werden. Vor allem in „Risikogebieten außerhalb von Überschwemmungsgebieten“ soll gar nicht erst geplant oder gebaut werden, wie es in dem Plan heißt, der offenbar dem Handelsblatt vorliegt. Neben den eigentlichen Überflutungs- und Überschwemmungsgebieten gelten zukünftig auch angrenzende Flächen als schutzwürdig, da sie „statistisch ein zunehmendes Schadenspotenzial“ aufweisen.

„Was dieser Tage angesichts der schrecklichen Bilder aus dem Rheinland und der zahlreichen Toten einleuchtend klingt“, fährt die Zeitung fort, „wurde bisher allerdings bekämpft: von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, aber auch und vor allem von der Industrie“. Das Blatt verweist auf eine Stellungnahme des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vom 28. Mai 2021. Danach hätte der Bundesraumordnungsplan, wenn er in der aktuellen Fassung verabschiedet würde, massive negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das Fortbestehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland.

„Als nicht erforderlich und zielführend angesehen und daher abgelehnt“, bewertet der VCI (Verband der Chemischen Industrie) die staatlichen Pläne. Mit der EU-Hochwasserrichtlinie, dem Wasserhaushaltsgesetz, dem Raumordnungs-, dem Bau- und dem Bodenschutzrecht sowie wasserrechtlichen Anforderungen gäbe es genügend Regeln zum Hochwasserschutz.

Der Lobbyverband Wirtschaftsvereinigung Stahl verwies Ende Juni in einem Brief an den zuständigen Innenstaatssekretär darauf, dass Anlagenbetreiber seit vielen Jahren Hochwasserschutz beachteten. Viele Unternehmen der stahl- und metallverarbeitenden Branche seien an historischen Standorten an Flüssen über Jahrzehnte gewachsen. Der Schutzplan wirke wie eine „Zulassungssperre“ und komme einem „Neubau- und Änderungsverbot“ gleich.

Auch die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hält nichts von einer Bundesregelung. Das Handelsblatt   zitiert aus einer Stellungnahme des NRW-Wirtschaftsministeriums vom vergangenen Mai. Danach komme schon heute dem Hochwasserschutz im Land eine sehr hohe Bedeutung zu. Für den Bundesplan bestehe „keine ausreichende Veranlassung“, auch gebe es „keinen Mehrwert“. Mit den neuen Vorgaben müssten dagegen mehr als ein Drittel der Bauleitpläne angepasst werden, weil die Regeln auch „für die großflächigen Risikogebiete und die Einzugsgebiete der Gewässer, das heißt letztlich flächendeckend Wirkungen“ entfalten würden.

Quelle:

Daniel Delhaes: „‚Nicht erforderlich und zielführend‘: Wie die Industrie den neuen Hochwasserschutzplan bekämpfte“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2021

https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/naturkatastrophen-nicht-erforderlich-und-zielfuehrend-wie-die-industrie-den-neuen-hochwasserschutzplan-bekaempfte/27437096.html?ticket=ST-10165452-Y1fmZc17ViPiuBevI3As-ap4