Neues aus der Dienstbotengesellschaft – Wilder Streik bei den „Gorillas“

Nach Angaben des Manager-Magazins flossen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als sieben Milliarden Euro in deutsche Start-ups – mehr als die Summe, die im gesamten letzten Jahr erreicht wurde. Investoren haben die Gründerszene in Deutschland kaum jemals so umfangreich mit Wachstumskapital versorgt wie derzeit. Das Volumen der Finanzierungsdeals steigt dabei ebenso rasch an wie die Bewertungen der Jungunternehmen. Deutschland weist inzwischen 23 sogenannter Einhörner („Unicorns“) auf, also Firmen mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar, die nicht an der Börse notiert sind (vgl. Manager Magazin vom 24. Juni 2021).

Eines der bestfinanzierten Start-ups in Deutschland ist „Gorillas“, ein Berliner Lebensmittellieferdienst, der erst im vergangenen Jahr gegründet wurde. Dieser konnte noch im April dieses Jahres 245 Millionen Euro einsammeln und wird mittlerweile mit einer Milliarde Dollar bewertet (vgl. Manager Magazin vom 10. Juni 2021). Das Unternehmen wirbt damit, online bestellte Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs in zehn Minuten per Fahrrad an die Wohnungstür zu liefern – mit einer festen Liefergebühr von lediglich 1,80 Euro. Die Fahrer*innen („Riders“) erhalten dafür einen Stundenlohn von 10,50 Euro. Mittlerweile gibt es das Unternehmen in Berlin, sowie in weiteren 17 deutschen Städten und vier anderen europäischen Ländern. Möglich wurde der rasante Expansionskurs offensichtlich nur, weil „Gorillas“ massiv von den Anti-Corona-Maßnahmen profitierte.

Gar nicht ins Konzept des Managements passen deshalb die Proteste Dutzender Fahrradkuriere, die ab dem 9. Juni in Berlin eine Streikwelle starteten, nachdem einem Mitarbeiter in der Probezeit gekündigt worden war. Dabei wurden mehrere dezentral in der Stadt verteilte Warenlager blockiert. Die im „Gorillas Workers Collective“ organisieren Aktivist*innen wandten sich mit ihrer Aktion gegen prekäre Arbeitsbedingungen und stellten drei Forderungen auf: Der entlassene Kollege sei sofort wieder einzustellen, die sechsmonatige Probezeit abzuschaffen und es dürfe keine Kündigungen ohne vorherige Abmahnungen geben.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum (gesellschafts)politischen Hintergrund des Streiks:

„Das Märchen von der großen Familie: Gorillas hatte sich in den vergangenen Monaten auffallend intensiv um Imagepflege bemüht: Die Arbeitsverhältnisse seien nicht prekär, wie bei anderen Lieferdiensten, sondern sicher. Parallel wird die Start-up-Ideologie hier aggressiv verbreitet, wie man es eben kennt: Man sei wie eine große Familie, alles geschehe auf Augenhöhe, gemeinsam arbeite man an einer Unternehmenskultur, in der sich alle wohl fühlen könnten.“

 

Quelle: Jan Ole Arps/Nelli Tügel: „No more Probezeit“, ak (analyse & kritik) Nr. 672 vom 15. Juni 2021

https://www.akweb.de/bewegung/no-more-probezeit-wilder-streik-bei-lieferdienst-gorillas-in-berlin/

„Viele der Rider leben noch nicht lange in Deutschland und haben die durchregulierten deutschen Arbeitskampfbeziehungen noch nicht verinnerlicht. Manche bringen Erfahrungen mit politischem oder gewerkschaftlichem Widerstand aus anderen Teilen der Welt mit. Dass in Deutschland Streiks, zu denen keine ‚tariffähige‘ Gewerkschaft aufruft, nicht legal sein sollen, leuchtet ihnen nicht ein. (…) Groß ist auch der Kontrast zur Start-up-Rhetorik, die das Gorillas-Management bemüht. In dieser Sprache sind alle Rider und Picker eine ‚Familie‘, eine ‚Community‘ und Teil einer ‚Bewegung‘.“

 

Quelle: Nelli Tügel/Jan Ole Arps: „Riders in ‘nem Sturm“, Der Freitag vom 24. Juni 2021

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/riders-in-2019nem-sturm

„Lieferdienste stehen seit Jahren im Zentrum von Aktionen von gewerkschaftsnahen Gruppen. Bei Amazon versucht die Gewerkschaft Verdi seit vielen Jahren, das Unternehmen mit Streikaktionen in den Einzelhandels-Tarifvertrag zu drängen. Auch gegen Lieferando machen Aktivisten seit Jahren mobil. Jetzt gerät Gorillas als bekanntester der neuen, schnellen Lieferdienste ins Visier. Organisator der Proteste ist offenbar die Gruppe ‚Gorillas Workers Collective‘, die mit der Gastro-Gewerkschaft NGG und der anarchistischen Gewerkschaft FAU kooperiert. (…) Für Gorillas kommen die Proteste zu einem heiklen Zeitpunkt: Nach einer Finanzierung über 245 Millionen Euro im März ist das Unternehmen laut mehreren Berichten erneut dabei, Geld einzusammeln. Diesmal soll es um zwei- bis viermal so viel Geld gehen. Damit will Gründer Sümer das rasante Wachstumstempo des kaum zwei Jahre alten Start-ups aufrechterhalten – und gegen die Konkurrenz ankommen. Zuletzt erhielt der Klon Flink eine ähnlich hohe Finanzierung und Rückendeckung von Rewe. Zudem stehen mehrere große Konkurrenten wie Delivery Hero und Getir aus der Türkei in den Startlöchern für eine Expansion ihrer Lebensmittellieferdienste in Deutschland.“

Christoph Kapalschinski: „Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas“, Handelsblatt vom 10. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/start-up-wilde-streiks-in-berlin-fahrer-gefaehrden-das-image-des-app-supermarkts-gorillas-/27273432.html

„Zum einen sehen wir in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern auch eine schleichende Deregulierung von Arbeitnehmerrechten, die dazu beigetragen haben, dass es überhaupt möglich ist, Mitarbeiter wie die von Lieferdiensten zu ultraprekären Bedingungen anzustellen. Während das Thema Arbeit in Europa ob Schulden- und Coronakrise unter Druck steht, wurde die ‚Flexibilisierung‘ des Arbeitsmarktes hierzulande ein Jahrzehnt früher auf den Weg gebracht. Wir erinnern uns, Deutschland galt einmal als ‚kranker Mann‘ Europas. Daraus folgte: die Agenda 2010.

Zum anderen sehen wir dieser Tage, wie Wirtschaft und Politik sich gleichsam mühen, Frauen für Führungspositionen zu mobilisieren. Das ist gut und überfällig – wird aber im Moment nur für einen Teil der Gesellschaft gedacht: die Besserverdienenden. Ihnen gegenüber steht ein Apparat an Niedriglohnarbeitenden. In Deutschland wird jeder Fünfte Arbeitnehmer diesem Sektor zugerechnet. Darin noch gar nicht berücksichtigt, die schwarz arbeiten. Wenn in Haushalten Arbeiten wie Putzen, Waschen, Einkaufen oder Kinderbetreuung nun wegen hoher Arbeitsbelastungen im Job von zum Beispiel zwei Elternteilen nicht mehr erledigt werden können, werden sie ausgelagert – und zwar zu im Vergleich oft prekären Arbeitsbedingungen.

Das ist eine Entwicklung, die wir bereits vor der Pandemie gesehen haben, die aber während ihres Verlaufs noch deutlicher wurde: Im Grunde arbeiten wir so viel, dass wir uns um die Dinge des Alltags kaum mehr selbst kümmern können. Daraus folgt: die Renaissance der Dienstbotengesellschaft. Das kann man so halten, aber dann gilt es, die Arbeitsbedingungen derer zu achten und zu guten Konditionen zu gestalten, die stattdessen für uns anrücken, unser Privatleben bequemer einzurichten. Der Protest der Gorillas-Fahrer ist insofern zu verstehen. Wir sollten ihn unterstützen.“

Quelle: Katharina Brienne: „Zum Arbeitskampf bei Gorillas: Die Rampe des Aufstiegs ist der Verrat“, Berliner Zeitung vom 15. Juni 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/die-rampe-des-aufstiegs-ist-der-verrat-li.164915

„Von ‚digitaler Sklaverei‘ spricht hingegen die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kiziltepe aus Friedrichshain-Kreuzberg. Schon länger befasst sie sich mit den Arbeitsbedingungen in der Branche. Kiziltepe wirft Unternehmen wie Gorillas vor, Wachstum auf dem Rücken der Beschäftigten zu erzwingen. Gorillas wisse über die App, über die auch der Bestellvorgang abgewickelt wird, immer, wo sich ein Fahrer gerade befindet. Das baue Druck auf, um die Beschäftigten zu drillen. ‚Dass einem Mitarbeiter wegen einer einmaligen Verspätung gekündigt wird, ist rechtlich zwar möglich, wirft aber kein gutes Licht auf das Unternehmen‘, sagte Kiziltepe der Berliner Zeitung. Die SPD-Politikerin hat einen Brief an Gorillas-CEO Sümer geschrieben. Darin fordert sie ihn auf, die Kündigung des Fahrers zurückzunehmen – und die Regeln der betrieblichen Mitbestimmung zu akzeptieren. (…) Kiziltepe spielt damit auf die Vorgeschichte der Eskalation bei Gorillas an. Um einen Betriebsrat zu gründen, haben die Beschäftigten Anfang Juni zunächst einen Wahlvorstand gewählt. Diese Hürde sieht das Gesetz vor. Doch das Management will die Wahl gerichtlich überprüfen lassen. Nicht alle Angestellten, so die Begründung, konnten an der Abstimmung gleichberechtigt teilnehmen. Die Mitarbeiter, die sich im ‚Gorillas Workers Collective‘ organisiert haben, halten dieses Argument für vorgeschoben. Sie verweisen auf Verhinderungsversuche des Unternehmens – und das per se problematische Geschäftsmodell von Gorillas.“

Quelle: Fabian Hartmann: „Streik bei Gorillas: Das steckt hinter dem Aufstand beim Liefer-Giganten“, Berliner Zeitung vom 14. Juni 20021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/streik-bei-gorillas-das-steckt-hinter-dem-aufstand-beim-liefer-giganten-li.164878

„Die Dienstbotifizierung macht vor nichts halt, auch nicht vorm Supermarkt. Lieferdienste wie ‚Gorillas‘ sind der letzte Schrei des Start-up-Irrsinns. (…) Früher haben die Leute Holz gehackt und ihre Butter selbst gemolken. Sie sind vor wilden Tieren um ihr Leben gerannt. Heute sendet ‚Gorillas‘ auf Plakaten einen ‚Gruß an alle, die morgens um 8 h Bio-Gurken aus der Region bestellen‘. (…) Wohin das alles führt, ist eine gute und sogar ernst gemeinte Frage. Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass sich Akademiker:innenpärchen eine sprechende Lautsprecherbox ins Wohnzimmer stellen? Folgt auf ‚Alexa‘ bald ‚Rettich‘, der das leider nicht mitlieferbare Supermarktfeeling ganz bequem ins Eigenheim trägt? Hängen sich Hipster bald Einkaufswagen an die Wand, voll retro?“

Quelle: Adrian Schulz: „Rückkehr zum Planet der Affen“, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Lieferdienste-fuer-Lebensmittel/!5774556/

 

„Die ‚Rider‘, also die Fahrradkuriere, von Gorillas verdienen nur knapp über dem Mindestlohn und sind aufgrund der überambitionierten Lieferzeit und Arbeitsbedingungen wie aus dem Frühkapitalismus nicht gerade ein begehrter Traumjob. In einem funktionierenden Arbeitsmarkt gäbe es gar nicht genügend Interessenten, die sich auf diesen Knochenjob zu diesen Konditionen einlassen würden. Die Corona-Maßnahmen haben jedoch gerade in den Großstädten vor allem in den prekären Jobs gewütet, aus denen Lieferdienste wie Gorillas im letzten Jahr ihr Personal rekrutierten – Aushilfsjobber aus der Gastronomie, oft Migranten, die kaum Deutsch sprechen; nicht umsonst ist Englisch die Betriebssprache bei Gorillas. Auch zahlreiche Studenten sind unter den Mitarbeitern, also größtenteils jüngere Menschen, für die während der Maßnahmen-Krise kein soziales Netz gespannt wurde und die aufgrund ihrer prekären Arbeitsverhältnisse auch nicht von Kurzarbeit oder sonstigen staatlichen Hilfen profitieren konnten. Die Maßnahmen und die Weigerung der Politik, Opfern der Maßnahmen zu helfen, die in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, haben das Geschäftsmodell des Quick-Commerce, so bezeichnen sich diese Dienste, eröffnet.

Finanziert wird die atemberaubende Expansion dieser Unternehmen vornehmlich durch Risikokapital; und hier ist der Begriff ‚Risiko‘ durchaus ernstzunehmen. Nachhaltig ist dieses Geschäftsmodell nämlich nicht. Wenn ein Rider einen Stundenlohn von 10,80 Euro bekommt, muss er sechs Kunden pro Stunde beliefern, um nur seinen Lohn über die Liefergebühren von 1,80 Euro pro Bestellung zu erwirtschaften. Schon das ist nicht möglich. Hinzu kommen indirekte Kosten (z.B. die Sozialabgaben) der Beschäftigten, die Kosten für die Logistik – die lokalen Auslieferungslager sind geschäftsmodell-bedingt natürlich auch in den ‚besseren‘ und somit teuren Stadtteilen untergebracht, in denen die Kundschaft lebt. Und so macht Gorillas – internen Dokumenten zufolge, die das Managermagazin ausgewertet hat – mit jeder Bestellung 1,50 Euro Verlust. Das erinnert an eine klassische Blase, die jedoch in der risikokapitalgetriebenen Internet-Ökonomie schon fast normal ist. Man sammelt einen dreistelligen Millionenbetrag von Investoren ein und expandiert trotz roter Zahlen in einem atemberaubenden Tempo mit dem Ziel, das Unternehmen später für einen Milliardenbetrag an einen multinationalen Konzern zu verkaufen oder selbst an die Börse zu gehen und weitere Milliarden Investorengelder einzusammeln. Real wird zwar Geld verbrannt, was aber nicht interessiert, solange der Unternehmenswert losgelöst von der Realität bewertet wird. Irgendwann platzt die Blase zwar, aber wenn dies innerhalb der Gewinn- und Verlustrechnung eines hochprofitablen Multis wie Amazon oder Google passiert, deren Rücklagen schier unermesslich sind, ist dies nur noch eine Randnotiz.

Die eigentlichen Verlierer sind neben den ausgebeuteten Niedriglöhnern die meist als Familien- oder Kleinbetrieb geführten Konkurrenten aus der Realwirtschaft. Während Dienste wie Amazon fresh eher mit den großen Supermarktketten konkurrieren, sind Gorillas und Co. eine Kampfansage an die kleinen Kioske, Büdchen und Spätis, die in der Großstadt der erste Anlaufpunkt sind, wenn man noch eine kleine Besorgung zu erledigen hat. Hat Amazon den klassischen Einzelhandel in den Städten ruiniert, drohen Gorillas und Co. nun den kleinen Geschäften im großstädtischen Bereich den Boden unter den Füßen wegzureißen.“

 

Jens Berger: „Quick-Commerce – die Rückkehr der Dienstbotengesellschaft“, NachDenkSeiten – Die kritische Website vom 23. Juni 2021

https://www.nachdenkseiten.de/?p=73617

Es folgen Auszüge aus Medienberichten zum Aspekt des „wilden Streiks“:

„Es handelt sich um einen sogenannten wilden Streik, also um einen, der unabhängig von den Gewerkschaften organisiert wurde. Nach derzeitiger Rechtslage sind die Streikenden deshalb nicht vor Kündigungen geschützt. Die Arbeitgeber:innen könnten argumentieren, dass die Arbeiter:innen ihre Seite des Arbeitsvertrags nicht erfüllen. Für Nicht-EU-Bürger:innen hängt der Aufenthaltsstatus ja auch von einer Beschäftigung ab. (…) Wir erleben wilde Streiks insbesondere in Branchen, die von den großen Gewerkschaften nicht abgedeckt werden. Die stark flexibilisierte Online-Ökonomie ist ein Paradebeispiel. Da die Riders kaum eine Möglichkeit haben, legal in Tarifverhandlungen einzutreten, helfen sie sich mit dem Mittel, das ihnen zur Verfügung steht: dem Verweigern ihrer Arbeitskraft. (…) Hierzulande sind Streiks durch Gerichte traditionell stark reglementiert und auch die großen Gewerkschaften haben es sich in ihrer Rolle als Tarifpartner eingerichtet. Die größte wilde Streikwelle gab es in den 1970er Jahren in den Industriebetrieben Westdeutschlands. Interessant ist, dass diese zu überragenden Teilen von Gastarbeiter:innen getragen wurde.

Historisch wurden die Interessen von Gastarbeiter:innen durch die Gewerkschaften nicht oder deutlich schlechter vertreten, sie waren Arbeiter:innen zweiter Klasse. Spannend ist, dass auch bei Gorillas sehr viele migrierte Menschen arbeiten, die sich an den Aktionen beteiligen. Das mag mit den besonders prekären Arbeitsbedingungen von migrierten Menschen zusammenhängen. Oder mit einer politischen Sozialisation außerhalb Deutschlands. (…) In anderen Ländern sind Streiks häufig politischer, ja. Aber wilde Streiks müssen keineswegs revolutionär sein. Die Gorillas-Arbeiter:innen wollen aktuell nichts weiter als leichte Verbesserungen in ihrer prekären Arbeitssituation – sie wollen Reformen. Dennoch wohnt wilden Streiks zumindest ein revolutionäres Moment inne, weil sich Arbeiter:innen an der Basis selbst ermächtigen. Sie vertreten sich ohne Repräsentanzen. Ein wirklich revolutionärer Streik wäre daher vermutlich ein wilder.“

Quelle: Timm Kühn: „Wild bestreikt“, Simon Duncker (Pressesekretariat der unabhängigen Basisgewerkschaft „Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin“ [FAU Berlin] im Interview, taz vom 16. Juni 2021

https://taz.de/Protest-bei-Lieferdienst-Gorillas/!5775031/

„Wilde Streiks sind spontane Arbeitsniederlegungen ohne gewerkschaftlichen Segen. Sie sind genaugenommen illegal und kommen hierzulande so gut wie nie vor. Der letzte wilde Streik fand vergangenen Sommer statt, als vorwiegend rumänische Erntearbeiterinnen und Erntearbeiter beim Spargelhof Ritter in Bornheim gegen vorenthaltene Löhne vorgingen. Und 2017 schrieben sich auffallend viele Air-Berlin-Pilotinnen und -Piloten gleichzeitig krank, was in der Presse – unzutreffenderweise – als wilder Streik bezeichnet wurde. Ende 2014 legten Daimler-Beschäftigte in Bremen spontan die Arbeit nieder, um gegen Werkverträge zu protestieren; zehn Jahre zuvor gab es den letzten großen wilden Streik in Deutschland: Mehrere tausend Arbeiterinnen und Arbeiter bei Opel Bochum versuchten im Oktober 2004, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Blickt man noch weiter zurück, bis in die 1970er Jahren, stößt man auf eine Welle wilder Streiks der sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter gegen ihre Überausbeutung, der bekannteste: Fordstreik in Köln. 1973 war das.

Wilde Streiks sind nicht nur spannend, weil sie eine widerspenstige Ausnahme in den Klassenbeziehungen darstellen – in den 1970ern hätte man von Arbeiterautonomie gesprochen –, sondern auch, weil sie häufig von Arbeiterinnen und Arbeitern gestartet werden, die von den Gewerkschaften nicht gut vertreten werden oder sich nicht gut vertreten fühlen. Wenn sie erfolgreich sind, sind sie eine wichtige Inspiration für andere. Da sie sich außerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen, sind wild Streikende schlecht vor Repressalien oder Schadensersatzforderungen geschützt. Damit ihr Kampf als positives und nicht als abschreckendes Beispiel endet, ist Solidarität besonders wichtig.“

Quelle: Jan Ole Arps: „Wildcat bei ‚Gorillas‘“, junge Welt vom 15. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404536.arbeitskampf-wildcat-bei-gorillas.html

„Zu Streiks können laut deutschem Recht nur Gewerkschaften aufrufen. Weder die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die zunächst auch bei der Betriebsratswahl involviert war, noch Verdi hätten vorab von der Arbeitsniederlegung gewusst oder seien daran beteiligt (…). Die Freie Arbeiter Union (FAU), die vor allem Angestellte der Gig Economy vertritt, wird vom Deutschen Gewerkschaftsbund nicht als rechtmäßige Arbeitnehmervertretung angesehen, sodass auch diese Organisation keine Ermächtigung dazu hat.

Solch ein sogenannter ‚wilder Streik‘ sei eine rechtswidrige Maßnahme, so ein Arbeitsrechtler zu Gründerszene. Solche Proteste habe es in Deutschland seit mehreren Jahren nicht mehr gegeben. Theoretisch gesehen könnte Gorillas daher allen Teilnehmenden fristlos kündigen und sogar Schadensersatz für die ausgefallenen Touren verlangen. Ob das Unicorn diesen Schritt gehen wird, ist aber fraglich. Das würde schließlich kein gutes Licht auf den Lieferdienst werfen, so der Anwalt.“

Sarah Heuberger/Lis Ksienrzyk: „Nach Kündigung eines Kollegen: Gorillas-Fahrer gehen in illegalen Streik“, businessinsider (Nachrichtenportal) vom 11. Juni 2021

https://www.businessinsider.de/gruenderszene/food/gorillas-streik-fahrer-gekuendigt-b/

„Das deutsche Richterrecht habe eine Handvoll Glaubenssätze über Streiks aufgestellt, die ein knöchernes System bilden und Streikende vor Herausforderungen stellen, erklärt Sylvia Bayram von der Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht gegenüber jW. ‚Allzu gerne wird alles, was nicht in das enge Korsett dieses Katechismus passt, für rechtswidrig erklärt.‘ Ein zentraler Glaubenssatz sei, dass Arbeitskämpfe, zu denen nicht eine Gewerkschaft aufruft, ‚auch spontane oder wilde Streiks genannt, als illegal gelten‘.

Was Bayram meint, wird deutlich, wenn man in die Vergangenheit blickt. Ende 2015 traten die Mercedes-Arbeiter in Bremen in den ‚wilden‘ Streik. Auch hier explodierte scheinbar wie aus dem Nichts eine Bremer Supernova. Das Ende des immer stärker wuchernden Werkvertragssystems und die Festanstellung der Lohnsklaven zweiter und dritter Klasse wurden gefordert. Die Unternehmensleitung mahnte das ‚wilde‘ Streiken ab. Die IG Metall lehnte es ab, den Arbeitskampf nachträglich zu entkriminalisieren.

‚Nach europäischem Recht – genauer: nach der Europäischen Sozialcharta (ESC) – sind wilde Streiks legal‘, so Rechtsanwalt Benedikt Hopmann im Gespräch mit jW. ‚Denn zu Recht betrachtet das europäische Recht die Koalitionsfreiheit als Ausgangspunkt für Arbeitskämpfe. Und in dieser Logik sind nicht nur Gewerkschaften Koalitionen. Auch Gruppen von Beschäftigten eines Betriebes, die sich – vielleicht sogar spontan – zusammentun, um ihre Interessen zu erstreiken, bilden eine Koalition.‘ Hopmann rät, bei wilden Streiks einen Verhandlungspartner für die Gegenseite unter den Streikenden zu benennen.

Bei Daimler entschied Mercedes letztlich, die Abmahnungen vorzeitig aus den Personalakten zu entfernen. Ein Etappensieg. Ein weiterer Glaubenssatz des deutschen Richterrechts, der im Arbeitskampf bei Gorillas relevant sein könnte, ist das Dogma, dass Arbeitskampfforderungen tariffähig sein müssen.

Zwei der insgesamt drei Forderungen des Gorillas-Streiks lassen sich sicherlich problemlos in einen Tarifvertrag gießen, aber die dritte Forderung, die Rücknahme der Kündigung eines Kollegen, eher nicht. Als tiefere Ursache für den Streik benennen die Gorillas-Beschäftigten das gesamte prekäre, menschenfeindliche System bei Gorillas. Die Kündigung ihres Kollegen Santiago war aber nun einmal der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen nicht alle Forderungen zulässig sein. Allein die Tatsache, dass eine Gruppe von Beschäftigten im Betrieb eine Forderung für streikwürdig hält, legalisiert diese, egal, ob tariffähig oder nicht, wenn gleichzeitig auch tariffähige Forderungen aufgestellt werden.“

Quelle: Lukas Schmolzi: „Falsche Glaubenssätze“, junge Welt vom 22. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404811.wilder-streik-bei-gorillas-falsche-glaubenss%C3%A4tze.html

Weitere Quellen: „Zoff bei Gorillas in Berlin“, Manager Magazin vom 10. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/gorillas-streik-und-blockaden-beim-lebensmittellieferdienst-in-berlin-a-1515500c-4c6d-4b2b-9c89-1bb85823bfe5

„Die größten Gründerdeals des Jahres“, Manager Magazin vom 24. Juni 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/scalable-trade-republic-celonis-die-groessten-gruenderdeals-des-jahres-a-44686e0a-5b2c-490f-b550-56e4a802ab82

Interessant ist auch folgende Online-Diskussion, in der unter anderem Ramazan Bayram von der „Berliner Aktion gegen Arbeitgeberunrecht“ den Kampf der „Riders“ in die allgemeine Situation von Arbeitskämpfen der letzten Monate einordnet:

„Riders Unite – Arbeitskämpfe in der Pandemie“, Teil 15 der Reihe „Corona und linke Kritik(un)fähigkeit“ vom 14. Juni 2021

https://vimeo.com/563308641

Megafusion auf dem Immobilienmarkt: Vonovia übernimmt die Deutsche Wohnen

Vor fünf Jahren gab es einen erfolglosen Versuch zur Übernahme des Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen durch den Branchenersten Vonovia. Jetzt aber stehen die beiden doch vor dem Zusammenschluss. Vonovia hat jüngst dem Konkurrenten Deutsche Wohnen, der etwa 158.000 Wohnungen in seinem Bestand hat, ein Übernahmeangebot in Höhe von rund 18 Milliarden Euro gemacht. Damit wird Vonovia auch in Europa zum mit Abstand führenden Wohnungskonzern.

Insgesamt wächst der Bestand von Vonovia auf künftig rund 570.000 Wohneinheiten und kommt damit auf einen Anteil von etwa 2,5 Prozent am deutschen Mietwohnungsmarkt. Beide Unternehmen sind im größten Aktienindex Dax gelistet und besitzen aktuell allein in Berlin zusammen über 150.000 Wohnungen (von insgesamt etwa 1,6 Millionen Mietwohnungen in der Stadt). Am deutschen Gesamtmarkt haben die Immobilienkonzerne zwar nur einen relativ geringen Marktanteil, in Berlin aber wird der politische Einfluss der „neuen“ Vonovia mit zukünftig fast 10 Prozent der Mietwohnungen weiter steigen. Dass der Deal der beiden Konzerne politisch erwünscht ist, dokumentierten Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD) durch ihre Teilnahme an einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den Vorstandsvorsitzenden der beiden Konzerne. Dort wurde mitgeteilt, dass das Land Berlin im Rahmen des geplanten Zusammenschlusses 20.000 Wohnungen von den beiden Gesellschaften übernehmen kann, um den kommunalen Wohnungsbestand ausbauen zu können.

Was aber ist von der Fusion zu halten? Seit deren Ankündigung am 24. Mai 2021 melden sich zunehmend kritische Stimmen zu Wort, die belegen, dass es sich bei der Übernahme mitnichten um die behauptete Win-Win-Win-Konstellation (Konzerne, Staat, Mieter*innen) handelt, sondern um ein durchschaubares politisches Täuschungsmanöver ohne erkennbare Vorteile für die betroffene Mieterschaft.

 

„Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“

Die Konzernvorstände von Vonovia und Deutsche Wohnen bemühen sich, ihren Deal als positiv für Mieter*innen und öffentliche Hand darzustellen. In ihrem parallel zur Fusion angekündigten „Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen“ kündigen sie deshalb vier Maßnahmen an, die angeblich für eine „soziale und nachhaltige Wohnungspolitik“ stehen sollen (vgl. Pressemitteilung der Deutsche Wohnen vom 24. Mai sowie die Pressekonferenz am 25. Mai 2021). Danach werden in den nächsten drei Jahren reguläre Mieterhöhungen in Berlin insgesamt auf ein Prozent jährlich begrenzt; in den beiden danach folgenden Jahren bis 2026 sollen sie sich im Rahmen der Inflationsrate bewegen. Bei Modernisierungen verpflichten sich die Unternehmen, die Modernisierungsumlage auf maximal zwei Euro pro Quadratmeter zu kappen. Der Neubau soll forciert und der Stadt Berlin sollen 20.000 Wohnungen angeboten werden.

Bürgermeister Müller sprach auf der Pressekonferenz mit Blick auf die angekündigte Begrenzung von Mieterhöhungen von einer „ganz wichtigen sozialpolitischen Aussage“, die für Berlin „von herausragender Bedeutung“ sei. Damit werde deutlich, dass sowohl Politik und Immobilienkonzerne leistbare Mieten wollen. Vonovia-Chef Rolf Buch gefiel sich sogar in der Pose eines Mieterschützers und behauptete, dass „mit privatrechtlichen Erklärungen ein Mietendeckel umgesetzt worden“ sei.

Bürgermeister Müller verschwieg, dass Vonovia dann ab 2027 ohne jede Einschränkung durch diese Vereinbarung Mieten erhöhen darf und dass die Selbstverpflichtung von Vonovia und Deutsche Wohnen nur für Berlin gilt. Der Wohnungsbestand von Vonovia verteilt sich aber vor allem im restlichen Bundesgebiet mit dem Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen. Auch fallen die Mietnebenkosten nicht unter die Beschränkungen. Dabei weisen Mieterinitiativen immer wieder darauf hin, dass das Geschäftsmodell der Vonovia unter anderem darauf gründet, überhöhte und undurchsichtige Betriebskostenabrechnungen zu verschicken.

Der Berliner Tagesspiegel schrieb dazu. „Dass darin ein ‚System‘ liege, mutmaßten 28 regionale Mietervereine, Landesverbände des Mieterbundes sowie ‚kritische Aktionäre‘ in einem offenen Brief an den Vorstand der Aktiengesellschaft Ende Februar“. Denn Vonovia setzt verstärkt auf „Insourcing“, also auf die Erledigung von Dienstleistungen durch eigene Tochterunternehmen. Diese, so wurde schon vor Jahren vermutet, stellten ihrer Muttergesellschaft überhöhte Rechnungen, die im Rahmen der Betriebskostenabrechnung von Mieter*innen bezahlt werden müssten. Über Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge landeten die Gewinne dann bei der Vonovia.

„Die Vonovia verdiene daran gut“, heißt es im Tagesspiegel weiter. „Die operativen Gewinne aus konzerninternen Kostenumlagen hätten bei ‚weit über 100 Millionen Euro im Jahr‘ gelegen.“ Während Vonovia illegale Machenschaften dieser Art zurückweist, bleiben die Zweifel an der Korrektheit der Abrechnungen, die das Unternehmen ausstellt. Sollte tatsächlich „ein System aufgeblähter Betriebskosten“ existieren, so Ralf Hoffrogge, Aktivist der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, wäre das ein Fall für den Staatsanwalt. Er resümiert: „Steht hier wie im Fall Wirecard ein Dax-Konzern über dem Gesetz? Oder ist das ‚System Vonovia‘ ganz legale Ausbeutung? So oder so: der Vonovia-Deal würde dazu führen, dass bald 150.000 Haushalte mehr ihre Betriebskosten an die Vonovia zahlen.“

Dass der versprochene „Zukunfts- und Sozialpakt“ weitgehend heiße Luft sei, kommentierte auch der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild. Die versprochene Kappung von Mieterhöhungen sei nicht auf das einzelne Mietverhältnis bezogen, sondern betreffe die durchschnittlichen Mieterhöhungen des gesamten Wohnungsbestandes der Vonovia. Die jährlich vorgenommenen Mietsteigerungen nach § 558 BGB („Anpassungen“ an die ortsübliche Vergleichsmieten) lagen laut Vonovia-Geschäftsbericht sogar unter einem Prozent. Ein Hinweis darauf, so Wild, dass die ortsüblichen Vergleichsmieten vielerorts schon erreicht oder überschritten waren.

Auch die Beschränkung der Mieterhöhung nach Modernisierungen auf zwei Euro pro Quadratmeter im Monat sei – anders als Deutsche Wohnen und Vonovia glauben machen wollten – überwiegend keine über das Gesetz hinausgehende Schutzregelung. Denn bei Ausgangsmieten unterhalb von sieben Euro pro Quadratmeter ist die Steigerung nach BGB bereits auf zwei Euro begrenzt. Und die Durchschnittsmiete bei der Deutschen Wohnen liege sowieso unter sieben Euro pro Quadratmeter. Da außerdem die Neuvertragsmieten als ein wesentlicher Mietentreiber von Vonovia generell ausgespart werden, bleibt zu ergänzen, schreiben die „Zusagen“ des Unternehmens also allenfalls den Status quo fest.

Der Ankauf von 20.000 Wohnungen durch das Land Berlin sei ebenfalls kein Geschenk, so Wild. Berlin werde pro Wohnung deutlich mehr zahlen müssen als Vonovia jetzt für die Wohnungen der Deutsche Wohnen finanziere. Der Verkauf an Berlin refinanziere damit zum Teil die Fusion.

 

Rekommunalisierung als teures Geschäft

Von den Wohnungen, die den landeseigenen Wohnungsunternehmen angeboten werden sollen, stammen offenbar 12.000 aus dem Bestand der Deutsche Wohnen. Diese gehören zum „nichtstrategischen Portfolio“ des Konzerns, sollten also langfristig sowieso verkauft werden. „So machte das Wort von der ‚Resterampe‘ die Runde. Ein Teil der Wohnungen ist zudem wohl asbestverseucht. Für die jahrelange Praxis, die Bestände verwahrlosen zu lassen, wird die Deutsche Wohnen nun sogar noch belohnt“, kommentierte die taz diesen Vorgang in der Ausgabe vom 4. Juni 2021.

Aus offensichtlich politischen Gründen will Bürgermeister Müller in Großsiedlungen und Quartieren mit sozialen Problemen Wohnungen kaufen. Die liegen zum Teil wohl nicht zufällig in Bezirken mit SPD-Bürgermeistern, die dadurch Rückenwind bekommen sollen. Nach Angaben des Manager Magazins werden die Kosten für den Ankauf vermutlich zwischen satten drei und fünf Milliarden Euro liegen, wie das Blatt „aus den laufenden Verhandlungen“ erfahren haben will. (Manager Magazin vom 25. Mai 2021)

Ralf Hoffrogge schreibt dazu: „Von Großsiedlungen ist die Rede – es sind wahrscheinlich jene Bestände des Sozialen Wohnungsbaus gemeint, die der Senat vor kaum 15 Jahren zu Niedrigpreisen verschleuderte. Seitdem wurde in diese Betonburgen der 1976er und 1970er Jahre wenig bis gar nichts investiert und jetzt soll Berlin sie für ein Vielfaches der einstigen Verkaufssumme zurücknehmen. (…) Jedoch ist die Existenz börsennotierter Immobilienkonzerne kein Naturgesetz. Vor 15 Jahren gab es sie noch nicht, und die Mieten waren erschwinglich. Immobilien-AGs sind ein Produkt der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der De-regulierung der Finanzmärkte – zwei tragische Fehlentwicklungen, für die die Sozialdemokratie in Bund und Ländern die Weichen stellte. Statt ihre Fehler zu korrigieren, werden die Sünden von einst mit dem Vonovia-Deal verewigt.“

Besonders pikant an dem Wohnungsdeal ist also, dass die Privatisierungswelle von Wohnungsbeständen aus Bundes- und Landeseigentum in den 2000er Jahren erst den Wachstumskurs von Vonovia und Deutsche Wohnen ermöglichte. Viele der Wohnungen des Vorgängerunternehmens von Vonovia, der Deutschen Annington, waren einst Eisenbahner-, Werks- oder Genossenschaftswohnungen, die aufgekauft wurden. Die Privatisierung von zwei Berliner Wohnungsunternehmen, der GEHAG* und der GSW**, bildete dagegen den Grundstein für das heutige Portfolio der Deutsche Wohnen. Die rot-rote Koalitionsregierung in Berlin hatte die GSW mit ihren 66.000 Wohnungen schon im Jahr 2004 für lächerlich geringe 400 Millionen Euro an ein Konsortium von internationalen Fondsgesellschaften verkauft.*** Im Jahr 2013 erfolgte dann die Übernahme der ehemals landeseigenen GSW durch die Deutsche Wohnen.

Hinzu kommt, dass die landeseigenen Wohnungsgesellschaften den Kauf der Wohnungsbestände von Vonovia und Deutsche Wohnen durch Kreditaufnahme stemmen sollen, denn der Einsatz von Steuergeldern ist nach Angaben des Senats tabu. Im Ergebnis hätten die Gesellschaften damit ihre schon vorhandene Überschuldung massiv ausgeweitet – damit würden alle Planungen für eine Ausweitung des öffentlichen Wohnungsbaus Makulatur (vgl. Gerhardt). „Ein düsteres Szenario: der öffentliche Wohnungsbau gelähmt, der Neubau in Händen eines Dax-Konzerns, der Hochpreisiges nach Marktlage errichtet.“ (Hoffrogge)

 

Konzentrationsprozess auf dem deutschen Wohnungsmarkt

Knut Unger, Mieteraktivist und Kenner der Geschäftspraktiken von Vonovia, illustriert, wie sich der Expansionkurs des Konzerns regional auswirkt. Es wäre nicht nur dessen starker Einfluss auf lokale Wohnungsmärkte spürbar – wie etwa in Dresden oder Dortmund. Das Geschäftsmodell basiert auch auf dem Angebot wohnungsnaher Dienstleistungen. „Wettbewerbshüter können sich aber auch über die Rolle des neuen Großkonzerns auf den Beschaffungs- und Dienstleistungsmärkten sorgen. Die Vonovia kontrolliert jetzt schon die größte Bauhandwerkerorganisation Deutschlands und schickt sich an, der größte Wohnungsbaudeveloper zu werden. Sie kontrolliert ein gigantisches Datennetz, baut sich als Energieversorger auf und versucht, eine führende Rolle bei der Entwicklung klimaneutraler Wohnquartiere zu spielen. Nach dieser Fusion, so viel ist sicher, wird Wohnungspolitik endgültig nicht mehr ohne Einflussnahme von Rolf Buch stattfinden.“

Das Handelsblatt erkennt einen allgemeinen Fusionstrend und eine wachsende konfrontative Haltung der Wohnungswirtschaft gegen staatliche Maßnahmen. Laut Finanzkreisen müssten die Wettbewerber überlegen, ob sie nicht wegen der extremen Zunahme der Kostenführerschaft von Vonovia ebenfalls fusionieren sollten. Noch mehr Unternehmen würden sich zukünftig zusammenschließen, um robuster gegenüber Mietpreisregulierungen und anderen Eingriffen zu werden, wie ein Vertreter des Instituts der deutschen Wirtschaft zitiert wird.

Vor diesem Hintergrund scheint die öffentliche Hand zu akzeptieren, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung der Mieten im privaten Bereich schwindet. Der im Rahmen der Pressekonferenz im Mai zelebrierte Schulterschluss zwischen (sozialdemokratischer) Politik und Kapital soll als Beginn einer neuen Ära verstanden werden, die entgegen Enteignungsforderungen für Kooperation statt Konfrontation steht. Müller und Kollatz, so Hoffrogge, würden Vonovia mit ihrem Deal staatliche Ordnungsmacht zugestehen und Wohnungspolitik nur noch im Konsens mit den Konzernen gestalten wollen – was in eine „Privatisierung der Mietenpolitik“ münde.

 

Umgehung der Grunderwerbssteuer

Die Kapitalkonzentration wird auch durch die sogenannten Share Deals beim Aufkauf von Unternehmen gefördert. Immobilientransaktionen unterliegen zwar grundsätzlich der Grunderwerbssteuer. Bislang wurde ein Eigentümerwechsel bei Grundstücken nur von der Steuer erfasst, wenn mindestens 95 Prozent der Anteile innerhalb von fünf Jahren in eine andere Hand übergingen. Der Rest wurde in einer zwischengeschalteten Gesellschaft geparkt – nach fünf Jahren konnten dann die Anteile steuerfrei vereinigt werden. Deshalb wurden bei Käufen oftmals nur 94,9 Prozent an den neuen Eigentümer direkt übertragen. Eine vom Bundestag und Bundesrat beschlossene Neuregelung tritt am 1. Juli 2021 in Kraft.

Eigentlich soll diese Neuregelung die Umgehung der Grunderwerbsteuer beim Immobilienkauf, also den „Missbrauch“ der Share Deals, erschweren. Deshalb wurde die Beteiligungsschwelle auf 90 Prozent gesenkt und die Frist auf zehn Jahre verlängert. Allerdings sind börsennotierte Unternehmen wie Vonovia ab Juli von der Grunderwerbssteuer ausgenommen, das heißt die Regelung greift nicht, wenn die Anteile an der Börse verkauft werden: „So könnte Vonovia mit der geplanten Übernahme der Deutsche Wohnen einer beispiellosen Serie die Krone aufsetzen. Das Unternehmen kaufte allein zwischen 2016 und 2018 durch Share Deals rund 47.000 Wohnungen in Deutschland.“ (junge Welt vom 14. Juni 2021). Auch die FAZ kritisiert, dass das Finanzamt bei dem Megadeal das Nachsehen haben dürfte:

„Ein Immobilienkonzern übernimmt einen anderen, aber die Grunderwerbssteuer spielt dabei offenbar keine Rolle. (…) Zwar ist gerade die Grunderwerbsteuer verschärft worden, aber in diesem Fall dürfte der Fiskus gleichwohl leer ausgehen. ‚Union und SPD haben den Aktionären von Vonovia, Deutsche Wohnen und Blackrock mit ihrer verkorksten Reform der Share Deals ein Millionen-Geschenk auf Kosten der Steuerzahler gemacht‘, kritisierte die Grünen-Finanzpolitikerin Lisa Paus kurz nach Bekanntwerden der Pläne. Nach ihrer überschlägigen Rechnung geht es um eine Steuerzahlung oder besser Nichtsteuerzahlung in der Größenordnung von einer Milliarde Euro. Dahinter stehen folgende Zahlen: eine Übernahme von 18 Milliarden Euro und eine Grunderwerbsteuer von zumeist 5 bis zu 6,5 Prozent. Das Aufkommen steht den Ländern zu (…) Die Abgeordnete Paus vermutet, dass der angekündigte Zeitpunkt der Fusion der Immobilienriesen im August kein Zufall ist, da dann das neue Gesetz in Kraft ist.“

Selbstverständlich, so die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen, müssten die landeseigenen Immobilienunternehmen als Käufer der 20.000 Wohnungen die Grunderwerbssteuer bezahlen (vgl. junge Welt vom 14. Juni 2021). Fazit: Die Share Deals sind ein weiteres Beispiel dafür, wie der Staat Konzerne wie Vonovia und Co auf ihrem Wachstumskurs nach Kräften unterstützt, während das eigene Potential geschwächt wird, dem absoluten Mangel an Wohnungen als wesentliche Ursache für die Missstände an den angespannten Wohnungsmärkten beizukommen.

* GEHAG („Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft“)

** GSW („Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin“)

***Carl Waßmuth weist darauf hin, dass die bei den Verkäufen seinerzeit erzielten Preise deutlich unter dem damaligen Marktwert lagen und ganz offiziell von Notverkäufen zur Haushaltssanierung gesprochen wurde. Seit 2000 wurden in ganz Deutschland rund 900.000 Wohnungen privatisiert, die zuvor dem Bund, den Ländern oder den Kommunen gehört hatten – und später den Kern von Konzernen wie Vonovia und Deutsche Wohnen bildeten. (Wasmuth)

 

Quellen:

„Deutschlands geschliffenster Betonkopf“, Manager Magazin (Online) vom 25. Mai 2021

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/vonovia-uebernimmt-deutsche-wohnen-rolf-buch-deutschlands-geschliffenster-betonkopf-a-e4efdb84-256e-4275-9911-d8f1de5c9591

„Fusion Vonovia/Deutsche Wohnen – Neuer Druck auf Miethöhen durch 18 Mrd. Euro Kaufpreis.
Zukunfts- und Sozialpakt ist mehr Blendwerk als Mieterschutz“, Pressemitteilung des Berliner Mietervereins Nr. 30/21 vom 25. Mai 2021

https://www.berliner-mieterverein.de/presse/pressearchiv/fusion-vonovia-deutsche-wohnen-neuer-druck-auf-miethoehen-durch-18-mrd-euro-kaufpreis-zukunfts-und-sozialpakt-ist-mehr-blendwerk-als-mieterschutz-pm2130.htm?hilite=%27vonovia%27

Sebastian Gerhardt: „Ein wohlkalkulierter Coup“, Rosa Luxemburg Stiftung, 26. Mai 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44371/ein-wohlkalkulierter-coup?cHash=83a5053f775af62b200ca93e9ed2936c

Carsten Herz: „Wie die Großfusion von Vonovia und Deutscher Wohnen den Wohnungsmarkt verändert“, Handelsblatt (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/immobilienmarkt-wie-die-grossfusion-von-vonovia-und-deutscher-wohnen-den-wohnungsmarkt-veraendert/27223480.html&nlayer=Newsticker_1985586?ticket=ST-4113886-pwz2gzM2gAw2n6Aq0hEu-ap6

Ralf Hoffrogge: „Die falsche Richtung: Warum der Vonovia-Deal den Konzernen mehr nützt als den Mieterinnen und Mietern“, Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen, 4. Mai 2021

https://www.dwenteignen.de/2021/06/die-falsche-richtung/

Johannes Hub: „Staat wird geplündert“, junge Welt vom 14. Juni 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/404300.fusionen-auf-wohnungsmarkt-staat-wird-gepl%C3%BCndert.html

Pressekonferenz des Regierenden Bürgermeisters von Berlin mit Vonovia und Deutsche Wohnen vom 25. Mai 2021

https://www.youtube.com/watch?v=fVCBFziuKSs

Uwe Rada: „Land will 20.000 Wohnungen kaufen: Grobes Foul der SPD im Wahlkampf“, taz vom 4. Juni 2021

https://taz.de/Land-will-20000-Wohnungen-kaufen/!5772780/

Manfred Schäfers: „Warum Vonovia wohl keine Grunderwerbssteuer zahlt“, FAZ (Online) vom 26. Mai 2021

https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vonovia-und-die-grunderwerbsteuer-geschaeft-am-fiskus-vorbei-17359417.html

Ralf Schönball: „Nach Verkündung von Milliarden-Deal: Mieter protestieren gegen Vonovia“, Tagesspiegel (Online) vom 28. Mai 2021

https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-verkuendung-von-milliarden-deal-mieter-protestieren-gegen-vonovia/27229094.html

Knut Unger: „Die Fusion (der Täuscher): Vonovias «Zukunfts- und Sozialpakt Wohnen» im Faktencheck, Rosa-Luxemburg-Stiftung, 2. Juni 2021

https://www.rosalux.de/news/id/44404/die-fusion-der-taeuscher?cHash=cce80b690eab78cf093cd6a08c55e102

Carl Waßmuth: „Öffentlicher Geldsegen für Immobilienhaie“, MieterEcho 414, Februar 2021, Seite 18

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2020/me-single/article/oeffentlicher-geldsegen-fuer-immobilienhaie/

Einen satirischen Blick auf die angekündigte Fusion bietet ein Beitrag des ZDF-Magazins „Frontal 21“ vom 1. Juni 2021:

https://www.zdf.de/politik/frontal-21/satire-toll-vonovia-deutsche-wohnen-spd-mietendeckel-100.html

 

 

Zerschlagung von BlackRock gefordert

Gerhard Schick, Geschäftsführer der Organisation Finanzwende und ehemals finanzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, stellte Anfang Juni in einem Gastkommentar für das Handelsblatt fest, dass der weltweit mächtigste Finanzdienstleister in mehrere Einzelteile aufgeteilt werden solle, um nicht noch mehr Einfluss zu erhalten. Wie Schick anmerkt, verwaltet BlackRock derzeit etwa neun Billionen US-Dollar – mehr als das Doppelte des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Deutschlands. Sein starkes Wachstum verdankt der Konzern besonders seinem Geschäft mit passiven Exchange Traded Funds (ETF)*, aber auch den aktiv gemanagten Fonds in Höhe von fast zwei Billionen US-Dollar. Daneben ist BlackRock der größte Anteilseigner zahlreicher Aktiengesellschaften. Als Hauptaktionär übt er weltweit einen entscheidenden Einfluss auf deren Geschäftspolitik aus.

„An die Stelle der Marktwirtschaft tritt Machtwirtschaft“, bringt es Schick auf den Punkt. Das zeige sich darin, dass bei gleichzeitigem Besitz von Anteilen eigentlich konkurrierender Unternehmen der Wettbewerb leide, wie es seit langem von Wissenschaftler*innen und Kartellbehörden kritisieren würde. Aber es komme noch schlimmer: „Nehmen wir beispielsweise Blackrocks Datenanalysesystem Aladdin. Das System kommt bei zahlreichen Unternehmen und Zentralbanken zum Einsatz; es hilft bei der Verwaltung von gut zehn Prozent der globalen Vermögenswerte, das sind mehr als 20 Billionen Dollar. Hier trifft also ein relevanter Anteil der weltweiten Investoren seine Entscheidungen mithilfe eines gemeinsamen Systems. Tendenziell begünstigt diese Verflechtung riskantes Herdenverhalten – und erhöht damit Risiken, die die Finanzstabilität gefährden. Außerdem steigert Aladdin nach dem Motto ‚Wissen ist Macht‘ Blackrocks Position in der weltweiten Finanzwirtschaft.“

Auch erwähnt Schick BlackRocks enge Kontakte in die Politik. So beabsichtige etwa Friedrich Merz (CDU), „langjähriger Deutschland-Statthalter des Konzerns“, in der nächsten Bundesregierung „Superminister für Wirtschaft und Finanzen“ zu werden. Obwohl BlackRock eine Marktmacht erzeuge, die kein Staat mehr kontrollieren könne, werde, so Schick, selten von dem Konzern gesprochen, wenn im politischen Raum von der Macht der US-Konzerne die Rede sei.

Was soll seiner Meinung nach „zur Stärkung der Marktwirtschaft und zur Schwächung der Machtwirtschaft“ geschehen? „Es geht nicht ohne eine Aufteilung, sprich Zerschlagung des Konzerns in mehrere Teilbereiche. Nur so können Interessenkonflikte vermieden und Macht beschränkt werden. (…) Außerdem braucht es mehr Transparenz bei der Ausübung von Stimmrechten und der Einflussnahme bei Unternehmen. Generell benötigen wir bei Schattenbanken, zu denen Blackrock zählt, endlich eine der Bankenregulierung vergleichbare Begrenzung der Kreditfinanzierung (Leverage), Mindestvorgaben für die Liquidität und einen von den Unternehmen zu finanzierenden Notfallfonds, damit nicht wieder der Staat mit Milliardenspritzen als Retter einspringen muss.“

Überdies sollten Interessenkonflikte unterbunden werden: Die öffentliche Hand dürfe nicht länger BlackRock als Berater bei Aufträgen engagieren, an denen der Konzern wie im Fall Griechenland eigene Interessen habe. Bei den Großbanken hätte man gesehen, zu welchen Kosten es für die Gesellschaft kommt, wenn Marktmacht und Erpressungspotenzial erst in einer Finanzkrise zum Thema werden. Denn für Bankenrettungen mussten in der Weltfinanzkrise Milliarden an Steuergeldern ausgegeben werden, weil versäumt worden sei, den Aufstieg von Lehman Brothers und Co. zu systemrelevanten Megainstituten mit Bilanzsummen in Billionenhöhe rechtzeitig zu verhindern. „Daraus“, so Schick, „müssen wir beim Aufstieg von Blackrock Konsequenzen ziehen – und die wirtschaftliche Macht des Konzerns rechtzeitig brechen“.

Schicks Beschreibung der Bedeutung von BlackRock ist jedoch nicht ganz neu. Dass von BlackRock nur selten die Rede sei, wenn es über die Macht von US-Konzernen im politischen Bereich geht, darf bezweifelt werden. So fand im September 2020 an der Freien Universität Berlin ein „BlackRock-Tribunal“ statt, bei dem der Konzern öffentlichkeitswirksam „an den Pranger“ gestellt wurde. Folgendes symbolisches Urteil wurde gefällt: „Das Unternehmen Blackrock mit dem juristischen Sitz in der US-amerikanischen Finanzoase Wilmington/Delaware und dem operativen Hauptsitz in New York wird aufgelöst. Das betrifft auch alle Tochtergesellschaften in den USA und im Ausland.“ (vgl. „BIG-Nachricht“ vom 4. Oktober 2020)

In jüngster Vergangenheit wurde immer wieder über die Rolle der neuen, weltweit agierenden Kapitalakteure berichtet, sowohl in politisch links orientierten Medien wie auch in der bürgerlichen Presse. Deshalb folgen am Schluss einige Lektüreempfehlungen.

* Ein ETF („Exchange Traded Fund”) ist ein börsengehandelter Indexfonds, der die Wertentwicklung eines Index, zum Beispiel des Dax, abbildet.

Quelle:

Gerhard Schick: „Die Macht brechen: Blackrock muss zerschlagen werden“ (Gastkommentar), Handelsblatt (Online) vom 1. Juni 2021

https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-macht-brechen-blackrock-muss-zerschlagen-werden/27242516.html?nlayer=Aktuelle%20Gastbeitr%C3%A4ge_26175654

 

Empfohlene Lektüre für den Einstieg in das Thema:

Werner Rügemer: „BlackRock-Kapitalismus. Das neue transatlantische Finanzkapital“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 10/2016, Seite 70-83

https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/oktober/blackrock-kapitalismus

Harald Schumann/Elisa Simantke: „BlackRock – Ein Geldkonzern auf dem Weg zur globalen Weltherrschaft“, in: Tagesspiegel vom 8. Mai 2018

https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/blackrock-ein-geldkonzern-auf-dem-weg-zur-globalen-vorherrschaft/21246966.html

Über den Einfluss BlackRocks auf den deutschen Wohnungsmarkt:

Arbeitsausschuss Immobilien-Aktiengesellschaften der Berliner MieterGemeinschaft (Hg.), „Den Aktionären verpflichtet. Immobilien-AGs – Umverteilungsmaschinerie und neue Macht auf den Wohnungsmärkten“, Berlin, Januar 2019 (Kapitel V: „Wem gehören eigentlich die börsennotierten Immo-AGs?“), Seite 16-19

https://www.bmgev.de/

Dr. Oetker – Stütze des NS-Staats

In einer Artikelserie widmet sich der Blog „The Lower Class Magazine“, betrieben von einem unabhängigen Medienkollektiv, traditionsreichen deutschen Familienunternehmen: „Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.“

Am 9. März schrieb die Autorin Nelli Tügel darüber, wie die Bielefelder Unternehmerfamilie Oetker, deren Firma heute als eines der größten deutschen Traditionsunternehmen gilt, vom Nationalsozialismus profitierte. August Oetker gründete das Pudding-Imperium im Jahr 1891. Auf ihn folgte sein Sohn Rudolf an der Spitze des Konzerns. Nach dessen Tod im Jahr 1916 wurde Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, Geschäftsführer. Er war ein glühender Nazi, ebenso wie seine Ehefrau Mitglied der NSDAP und gehörte ab 1941 der Waffen-SS an.

Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker übernahm 1944 die Konzernleitung – und verhinderte fortan jede Aufklärung über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus. Auch er, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi, Mitglied der NSDAP und ab 1942 der Waffen-SS. Nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende konnte er im Jahr 1947 seine Tätigkeit fortsetzen. Erst 2009, sieben Jahre nach dessen Tod, beauftragte die Oetker-Familie den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, den Historiker Andreas Wirsching, mit einer Studie zu diesem Thema. Im Jahr 2013 wurden die Ergebnisse publiziert.

In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung der Studie stellte Wirsching fest, dass zwischen Oetker und dem NS-Regime kein Blatt Papier gepasst hätte. Es habe keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gegeben. „Bemerkenswert ist dabei“, schreibt Nelli Tügel, „dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching ‚ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten‘. Wie viele andere habe er sich ‚von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance‘.“

So profitierte Oetker ab 1933 mehrfach von sogenannten Arisierungen, war daneben an verschiedenen Firmen beteiligt, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausbeuteten. Im Jahr 1937 wurde Oetker als eines der ersten Unternehmen als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.

Wie Tügel feststellt, gab die Familie die Studie des Historikers Wirsching erst in Auftrag, als es für ernsthafte Entschädigungszahlungen längst zu spät war. Am Schluss ihres Artikels resümiert die Journalistin: „Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre ‚Aufarbeitung‘ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.“

Anmerkung: In weiteren Teilen der Serie geht es um die Familie Quandt/Klatten, das Schaeffler-Imperium, die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG und die Unternehmerfamilie Reimann. 

 

Quelle:

Nelli Tügel: „[Deutschlands brutalste Familienclans V]: Oetker: Backpulver, Pudding, Waffen-SS und Zwangsarbeit“, The Lower Class Magazine, 9. März 2021

https://lowerclassmag.com/2021/03/09/deutschlands-brutalste-familienclans-v-oetker-backpulver-pudding-waffen-ss-und-zwangsarbeit/