Aktuell steht die sogenannte Clan-KriminalitĂ€t (CK) als Teil der organisierten KriminalitĂ€t (OK) verstĂ€rkt im Fokus von Polizei und medialer Ăffentlichkeit. [1] Neben den um ein Vielfaches gröĂeren FlĂ€chenlĂ€ndern Bayern und Nordrhein-Westfalen gilt Berlin als eine Hochburg der OK. UnabhĂ€ngig von ihrer parteipolitischen Provenienz verfolgen die zustĂ€ndigen Innenminister und -senatoren in den Zentren der OK eine âNull-Toleranz-Politikâ vornehmlich gegen arabische Gruppierungen. Vor allem die Boulevardpresse feiert in weiten Teilen das konsequente Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen die âClansâ. Zugleich wehren sich Kritiker*innen gegen die stigmatisierende Pauschalisierung arabischstĂ€mmiger Menschen als kriminelle Bedrohung und die von ihnen als hysterisch erlebte Berichterstattung. âIn den Medien wird unser Stadtteil nur in Blaulicht gebadet gezeigt. Bilder von Polizist*innen, die junge MĂ€nner abfĂŒhren, begleitet von bedrohlicher Musik und alarmistischen Ăberschriften zu KriminalitĂ€t und Gewalt. Die Debatte um die sogenannte Clan-KriminalitĂ€t ist gezeichnet durch Vorurteile und malt ein verzerrtes Bild von Neukölln als Gefahrenzoneâ, heiĂt es beispielsweise in einem Aufruf zu einer Kundgebung, die anlĂ€sslich einer von der Fraktion der AfD initiierten Debatte ĂŒber polizeiliche Razzien Ende Februar 2020 in der Bezirksverordnetenversammlung des Berliner Bezirks stattfand.
Neben den zuletzt intensivierten öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen soll im Folgenden auch der polizeiliche und (populĂ€r-)wissenschaftliche Diskurs zur Rolle und Bedeutung der OK bzw. krimineller âClansâ beleuchtet werden
OK, Clan-KriminalitĂ€t und Mafia â eine BegriffsklĂ€rung
Sogenannte polizeiliche Lagebilder fassen mittels Statistiken und exemplarischer Falldarstellungen die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuellen Erkenntnisse und Entwicklungen in einzelnen Themenfeldern zusammen. Die offizielle Definition organisierter KriminalitĂ€t, die den Erhebungen fĂŒr die Lagebilder im Bund und in den LĂ€ndern zugrunde gelegt wird, wurde im Mai 1990 von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Justiz und Polizei vorgelegt. Organisierte KriminalitĂ€t ist danach âdie von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmĂ€Ăige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf lĂ€ngere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschĂ€ftsĂ€hnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur EinschĂŒchterung geeigneter Mittel oder c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.â
Nach Meinung vieler Rechtswissenschaftler*innen und Praktiker*innen zeichnet sich die Formulierung durch eine mehrfache UnschĂ€rfe aus, die sie fĂŒr eine exakte Abgrenzung organisierter gegenĂŒber nicht organisierter KriminalitĂ€t wertlos macht. Denn zur Bildung einer Gruppe organisierter Krimineller reicht bereits das arbeitsteilige Zusammenwirken von lediglich drei Personen aus. Die durch das Wort âoderâ markierten alternativen Definitionskriterien eröffnen zudem eine Vielzahl von Konstellationen, in denen OK erkennbar sein soll. Bei einer Anhörung im Bundestag im Oktober 1993 spottete denn auch der damalige PrĂ€sident des Bundeskriminalamts, Hans-Ludwig Zachert, ĂŒber diese Definition, die âselbst Eingeweihten nur in glĂŒcklichen Stunden verstĂ€ndlichâ sei. [2] Auch die Kriminolog*innen Klaus von Lampe und Susanne Knickmeier sprechen dem Terminus einen relevanten juristischen und polizeilichen Bedeutungsgehalt ab: âDie Definition dient hauptsĂ€chlich der KlĂ€rung von ZustĂ€ndigkeiten innerhalb der Strafverfolgungsbehörden sowie der Erstellung von Lagebildern. DemgegenĂŒber ist ihre Bedeutung fĂŒr die konkrete Ermittlungsarbeit, aber auch fĂŒr die Gesetzgebung und Rechtsprechung eher gering.â [3] Insofern sei es problematisch, von âderâ OK zu sprechen oder OK ĂŒberhaupt als eine analytische Kategorie zu verstehen.
Der Verzicht auf eine begriffliche Eingrenzung eröffnet den Strafverfolgungsbehörden vielmehr die Möglichkeit, je nach Interessenlage Delikte willkĂŒrlich als OK zu kategorisieren oder darauf zu verzichten. Damit wird zugleich einer politischen Instrumentalisierung des PhĂ€nomens Vorschub geleistet. Von Lampe empfiehlt deshalb, den Begriff âals analytische Kategorie zu verwerfen und die als âorganisierte KriminalitĂ€tâ etikettierten Erscheinungen jeweils gesondert zu betrachten, ohne sich durch die Annahme eines ĂŒbergeordneten Zusammenhangs, der durch den OK-Begriff suggeriert wird, den Blick auf die Dinge verstellen zu lassenâ. [4]
Ebenso wenig existiert bislang eine bundesweit verbindliche Definition des Begriffs CK. Um diese aber ansatzweise greifbar zu machen, verstĂ€ndigten sich die Bundes- und Landesbehörden auf einzelne Zuordnungskriterien. Laut Bundeslagebericht Organisierte KriminalitĂ€t 2018 ist CK âdie Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, (âŠ) und einem hohen MaĂ an Abschottung der TĂ€ter (…) Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsĂ€tzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnungâ. CK kann dabei einen oder mehrere der folgenden Indikatoren aufweisen: âEine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprĂ€gte Familienstruktur, eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer rĂ€umlichen Konzentration, das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen AnlĂ€ssen oder geringfĂŒgigen RechtsverstöĂen, die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotentialeâ.
Im Lagebild Organisierte KriminalitĂ€t Berlin 2018 heiĂt es ergĂ€nzend:
âDer PhĂ€nomenbereich ist von einer in weiten Teilen der arabischstĂ€mmigen Community bestehenden Parallelgesellschaft geprĂ€gt und geht einher mit einer mangelnden Akzeptanz oder sogar Ablehnung des in Deutschland vorherrschenden Werte- und Normensystems. Vielfach treten die kriminellen Clanmitglieder mit OrdnungsverstöĂen und Straftaten im Bereich der AllgemeinkriminalitĂ€t in Erscheinung, aber auch im Bereich der Organisierten KriminalitĂ€t.â
Kurz gesagt: BKA und LKA Berlin legen den Fokus auf eine bestimmte âSubkulturâ, der arabischen, und der von ihr etablierten âParallelordnungâ, getragen von âClansâ oder âGroĂfamilienâ als feste, geschlossene Gruppe. Bei der Vorstellung des neuen Lagebilds Organisierte KriminalitĂ€t des LKA fĂŒr Berlin im Dezember 2019 fĂŒhrte Innensenator Andreas Geisel (SPD) diesen Punkt weiter aus. Nicht der GroĂteil der arabischen Community sei gemeint, sondern nur die Clan-Familien. Eigentlich gehörten nur Teile der âClansâ zur OK. In diesen GroĂfamilien bis zu 1.000 Personen seien nicht alle kriminell, aber es gebe eine hohe Zahl von auffĂ€lligen Personen. Einige davon seien im Bereich OK unterwegs, andere wĂŒrden âin der zweiten Reihe parkenâ und trĂŒgen Rolex. Das sei nicht kriminell, höhle aber den Rechtsstaat aus. Barbara Slowik, Berlins PolizeiprĂ€sidentin, ergĂ€nzte, CK habe auch damit zu tun, âdass wir gegen ein Dominanzverhalten vorgehen wollenâ. Gemeint seien neben dem âParken in der zweiten Reiheâ auch Hochzeitskorsos. Das sei zwar nicht kriminell, aber da wĂŒrde es âanfangenâ. Auch die GroĂrazzien in Neuköllner Shisha-Bars und GeschĂ€ften seien keine MaĂnahmen gegen OK, sondern gegen nicht akzeptable âRegelverstöĂeâ wie Verletzung des Immissionsschutzes oder Tabakschmuggel. [5]
âDominanzverhaltenâ und âRegelverstöĂeâ: Die PolizeiprĂ€sidentin und der Innensenator betonen zwar unisono, dass es wichtig sei, zwischen CK und OK zu unterscheiden. Offensichtlich steht nicht der wirtschaftliche Schaden, sondern das SicherheitsgefĂŒhl der Bevölkerung im Mittelpunkt des polizeilichen und politischen Vorgehens. Der Lagebericht aus Berlin bestĂ€tigt entsprechend, dass die kriminellen Clanangehörigen mit Ordnungswidrigkeiten und Straftaten in Erscheinung treten, âdie zu einem ĂŒberwiegenden Teil auf den Bereich der Allgemein- und MassenkriminalitĂ€t entfallenâ. Aber auch AktivitĂ€ten unterhalb der Schwelle zur KriminalitĂ€t stellen nach Auffassung der Polizeichefin und des Senators einen Angriff auf den Rechtsstaat dar.
Italienische Familien, die der klassischen Mafia zugerechnet werden, spielen dagegen in Berlin laut Lagebericht kaum eine Rolle. Denn anders als die libanesischen und andere âClansâ, als deren Markenzeichen die lautstarke Protzerei mit aufgemotzten Luxuskarossen und anderem Machogehabe gilt, bewegt sich die Mafia weitgehend auĂerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. âKritiker sehen darin die bewusst erklĂ€rte Stille eines kriminellen GeschĂ€fts, das vor allem wegen dieser Ruhe prosperiert. So sei es durchaus politisch gewollt, dass die Mafia in Deutschland strukturell unterschĂ€tzt wird, damit deren Geld auch weiterhin in den deutschen Wirtschaftskreiskauf flieĂt.â [6] Das in der offiziellen OK-Definition zuletzt genannte Kriterium, also die Einflussnahme auf staatliche Institutionen oder die Medien, fehlt bei dem PhĂ€nomen der CK. Es ist hingegen charakteristisch fĂŒr die Mafia in Italien, die bis in die höchsten politischen Kreise hinein vernetzt ist.
WĂ€hrend die âClansâ nach Darstellung von Polizei und Medien die Rechtsordnung und den angeblich von ihnen als schwĂ€chlich erlebten Rechtsstaat verachten, zielt die Mafia nicht primĂ€r auf eine SchwĂ€chung oder gar Vernichtung der herrschenden Staatsordnung. Mafiagruppierungen verstehen sich eher als Wirtschaftsunternehmen, welche die politischen VerhĂ€ltnisse indirekt zu beeinflussen suchen, um die Rahmenbedingungen fĂŒr das eigene (kriminelle) wirtschaftliche Handeln positiv zu gestalten. âIn diesem Sinneâ, schreibt Martin Ludwig Hofmann, âdĂŒrfte sich die Mehrzahl der âEhrenmĂ€nnerâ durchaus als BĂŒrger und Mitglieder des Staates empfinden, dem sie so lange LoyalitĂ€t entgegenbringen, so lange die staatlichen Interessen nicht mit den eigenen kollidieren. Die Mafia-Clans positionieren sich damit selbst âinnerhalbâ des staatlichen GefĂŒges befindlich und knĂŒpfen zur Festigung dieses âInnerhalbâ den Kontakt zu lokalen (und darĂŒber hinaus) Vertretern der Politik und der staatlichen Administration. Dieser Kontakt wiederum scheint oft von beiden Seiten gesucht zu werden, da er nicht nur den Vertretern der Mafia einen Nutzen versprichtâ. [7] Auch Sandro Mattioli vom Verein Mafianeindanke, nach eigenen Angaben die wichtigste Antimafia-Organisation hierzulande, bestĂ€tigt, dass die italienische Mafia in Deutschland âmöglichst unter dem Radarâ agiert und sich im legalen Wirtschaftsleben etabliert hat, etwa im Baugewerbe oder in der Gastronomie. [8]
Die durchlĂ€ssige Grenze zwischen Mafia-Organisationen und staatlichen Institutionen sowie dem regulĂ€ren Wirtschaftsleben ist sicherlich ein entscheidender Grund dafĂŒr, dass der Staat im Gegensatz zum entschlossenen Durchgreifen gegen vornehmlich arabischstĂ€mmige âClansâ kaum Interesse zeigt, die italienische Mafia effektiv zu verfolgen. So moniert Mafianeindanke, dass der Berliner Senat kein Personal bereitstellt, um in der Hauptstadt gegen die âNdrangheta als eine der global bedeutendsten kriminellen Organisationen vorzugehen. Auch kritisiert der Verein die Ergebnisse des aktuellen Bundeslageberichts zur OK. Laut BKA wurde 2018 gegen 124 Mitglieder der âNdrangheta in Deutschland ermittelt, wĂ€hrend nach Informationen der Bundesregierung von mindestens 800 bis 1.000 Mitglieder der kalabrischen Mafia auszugehen ist. Der weitaus gröĂte Teil der Mafiosi in Deutschland bleibt danach also unbehelligt. [9]
DefizitÀre Forschung
Im Februar 2018 erschien eine wissenschaftliche EinschĂ€tzung der OK-Forschungslandschaft in Deutschland. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Forscher*innen stellten eine ausgeprĂ€gte Diskrepanz zwischen der relativ groĂen Zahl âeinschlĂ€gigerâ Veröffentlichungen und dem vergleichsweise geringen Umfang empirischer Forschung fest. Die bisherige Forschung sei âinsulĂ€râ, die wenigen Untersuchungen bauten also nicht aufeinander auf und könnten nur begrenzt den Erkenntnisstand erweitern. [11] Ein wesentliches Forschungsproblem besteht offensichtlich in dem schwierigen Datenzugang der Kriminolog*innen, denn diese seien nahezu ausschlieĂlich auf Ermittlungsergebnisse von Polizei- und Justizbehörden angewiesen. Die exekutiven Organe, die sich praktisch mit der OK auseinandersetzen, bieten jedoch nicht die fĂŒr die wissenschaftliche Reflektion nötige Distanz zum Untersuchungsobjekt. Zudem stellen Polizei und Staatsanwaltschaften ihre zum Teil geheimen Ermittlungsergebnisse nur ungern Externen zur VerfĂŒgung. Die âBeobachtungsferneâ der Kriminologie fĂŒhrt deshalb naturgemÀà zu unbefriedigenden empirischen Forschungsergebnissen.
Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in erster Linie im Bereich der Rechtswissenschaften erfolgt, die notwendige interdisziplinĂ€re Kooperation von Kriminologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft aber offensichtlich nur rudimentĂ€r stattfindet. Soziologische Leerstellen, wie die Frage nach der tatsĂ€chlichen Lebenswirklichkeit (krimineller) Milieus jenseits von Klischeevorstellungen ĂŒber sogenannte Clans oder GroĂfamilien, werden deshalb durch sensationslĂŒsterne TV-Reportagen oder reiĂerisch aufgemachte Presseartikel ausgefĂŒllt, bei denen nicht selten die Tendenz zu einer Ethnisierung der KriminalitĂ€t auszumachen ist.
Daneben bewegen sich an der Schnittstelle von Forschung und polizeilicher Arbeit Fachorgane wie etwa die âKriminalistik: UnabhĂ€ngige Zeitschrift fĂŒr die kriminalistische Wissenschaft und Praxisâ, die ein wichtiges Forum fĂŒr die polizeiliche Diskussion um OK darstellt. Im Editorial des Heftes 5/2019, dessen Schwerpunkt der CK gewidmet ist, beschwört der Chefredakteur âdas immense Gefahrenpotential krimineller arabischer Clansâ und betont, dass es âallerhöchste Zeitâ wird, âkonsequent gegen Clans unter Einsatz aller rechtlichen Möglichkeitenâ vorzugehen. [12] Auch Magazine wie dieses prĂ€gen den Diskurs um OK und CK neben populĂ€rwissenschaftlichen Monografien und vor allem der Boulevardpresse entscheidend mit.
Wie reagiert die Politik
Einen Eindruck von der herrschenden âNull-Toleranz-Politikâ zur BekĂ€mpfung von OK und Clan-KriminalitĂ€t vermittelt das Vorgehen der nordrhein-westfĂ€lischen Landesregierung. Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte wiederholt in der Ăffentlichkeit, dass der eingeschlagene Weg, regelmĂ€Ăig Razzien durchzufĂŒhren, fortgesetzt und sogar intensiviert werden soll (so zum Beispiel am 23. Dezember 2019 im Radiosender WDR 5). Zur bisher gröĂten Razzia Anfang 2019 rĂŒckten ĂŒber 1.300 Beamte von Polizei sowie Zoll- und Ordnungsamt aus und durchsuchten Shisha-Bars, WettbĂŒros und Teestuben im Ruhrgebiet. Diese GroĂaktion bildete den Auftakt zu der mittlerweile viel zitierten âStrategie der 1.000 Nadelsticheâ gegen âClansâ in Nordrhein-Westfalen. Passend dazu schlug im Herbst letzten Jahres eine von der NRW-Regierung eingesetzte Kommission vor, Polizei und Justiz mit deutlich mehr Befugnissen auszustatten. Sowohl die personellen wie die technischen und rechtlichen Möglichkeiten sollten erweitert und den beteiligten Behörden dadurch eine bessere Zusammenarbeit ermöglicht werden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Zoll- und Steuerfahndung, AuslĂ€nder- und OrdnungsĂ€mter).
In NRW gibt es laut LKA rund 100 kriminelle Familienclans, die sich lokal auf Essen, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen konzentrieren. 36 Prozent der TatverdĂ€chtigen, so heiĂt es weiter, seien deutsche StaatsbĂŒrger, die man nicht abschieben könne. âGegen diejenigen StraftĂ€ter, die keine deutschen StaatsbĂŒrger sind, mĂŒssen die auslĂ€nderrechtlichen MaĂnahmen allerdings konsequent ausgeschöpft werdenâ, forderte die Kommission. (General-Anzeiger Bonn vom 23. September 2020) Mitte 2020 wird deshalb in Essen im Rahmen der neuen Sicherheitskooperation Ruhr gegen CK eine behördenĂŒbergreifende Dienststelle ihre Arbeit aufnehmen, in der MaĂnahmen gebĂŒndelt und koordiniert werden sollen. (vgl. General-Anzeiger Bonn vom 12. Januar 2020)
BegrĂŒndet wird das rabiate Durchgreifen vor allem mit einem angeblich von der Ăffentlichkeit als Bedrohung empfundenes Auftreten krimineller Familienclans. Denen werden laut aktuellem Lagebild zur OK in NRW Straftaten wie eine âvermeintliche Besetzung des öffentlichen Raumsâ, âhĂ€ufig fehlenden Respekt gegenĂŒber der Polizei und Rettungsdienstenâ sowie ein âaggressives Auftreten im Rahmen von sogenannten âTumultlagenââ vorgeworfen. Zudem sei die Etablierung einer Parallelgesellschaft und -justiz (mit claninternen Streitschlichtern) feststellbar. Dieser Entwicklung soll durch einen âmaximalen Kontroll- und Verfolgungsdruckâ entgegengewirkt werden.
Teile der Medien assistierten der staatlichen Repressionsstrategie, als Anfang Februar im Rahmen einer Razzia in Bottrop, Recklinghausen und anderen Orten insgesamt 20 Shisha-Bars und CafĂ©s von Polizei und Zoll kontrolliert worden waren. âNRW: NĂ€chster Schlag gegen Clans im Ruhrgebietâ titelte etwa das Onlineportal DerWesten.de (Funke Mediengruppe). Das MissverhĂ€ltnis von GroĂaufgebot an eingesetztem Personal und Ermittlungsergebnis wird am Ende des Artikels deutlich. Ein âverbotenes Messerâ, unverzollter Shisha-Tabak und 39 PĂ€ckchen Tabletten, âdie noch ĂŒberprĂŒft werden mĂŒssenâ, wurden konfisziert.
Im Juli 2018 beschlagnahmte die Polizei in Berlin bei einer aus dem Libanon eingewanderten Familie vorlĂ€ufig 77 Immobilien im Gesamtwert von rund 9,3 Millionen Euro. Dieses von Boulevard-BlĂ€ttern als groĂen Schlag gegen die Clan-KriminalitĂ€t gefeierte polizeiliche Vorgehen entspricht der Erkenntnis, dass die GeldwĂ€schebekĂ€mpfung die wichtigste, aber auch kontrollintensivste Komponente bei der BekĂ€mpfung der OK darstellt. So richtig aber der Ansatzpunkt ist, mit MaĂnahmen gegen die SekundĂ€rkriminalitĂ€t auch implizit die PrimĂ€rkriminalitĂ€t einzudĂ€mmen, so verhalten agiert der Staat letztlich auf diesem Feld. âEin perfider Grund fĂŒr die Nonchalance ist: Die deutsche Wirtschaft profitiert von dem schmutzigen Geld. Der Immobilienboom beschert dem Bausektor gĂŒldene Zeitenâ, kommentierte die SĂŒddeutsche Zeitung am 27. Oktober 2019.
Notare und Makler werden in Deutschland offenkundig nicht kontrolliert, obwohl sie bei ImmobiliengeschĂ€ften eine entscheidende Rolle spielen. Michael Findeisen von der BĂŒrgerbewegung Finanzwende etwa kritisiert die Situation in Berlin. âDa gab es frĂŒher einen Wirtschaftssenator von den Linken, jetzt ist es eine grĂŒne Senatorin. Beide Parteien erklĂ€ren sich ja immer als Schild und Speer im Kampf gegen GeldwĂ€sche. Das ist halt ernĂŒchternd. Da sitzen wirklich auf fĂŒnf Planstellen, da sind ein bis zwei immer krank, Leute rum, die zigtausende Gewerbeunternehmen, die unter das GeldwĂ€schegesetz fallen, durch PrĂŒfungen, Vor-Ort-PrĂŒfungen prĂŒfen sollen.â [13] Aus politischen GrĂŒnden (auch illegale Investitionen sind Investitionen) und wegen der StĂ€rke der Finanzlobby weicht der Staat offenbar davor zurĂŒck, die Vermögensabschöpfung aus kriminellen GeschĂ€ften in den Griff zu bekommen.
Schluss
Von âClansâ verĂŒbte KriminalitĂ€t in Deutschland ist nichts Neues. Sie wird dabei schon seit vielen Jahren als âimportierte KriminalitĂ€tâ vornehmlich libanesischer oder auch tĂŒrkisch-kurdischer Herkunft thematisiert und skandalisiert. [14] Diese Variante der OK gilt insofern als PhĂ€nomen, das gleichsam von auĂen einen ansonsten âgesundenâ Rechtsstaat attackiert und gefĂ€hrdet. OK und WirtschaftskriminalitĂ€t generell sind aber aus der gesellschaftlichen Mitte erwachsen. Unbestritten ist ein wichtiger Grund fĂŒr kriminelles Verhalten von sogenannten Clans die bewusst unterbliebene Integrationspolitik gegenĂŒber arabischen Menschen, die als BĂŒrgerkriegsflĂŒchtlinge seit Ende der 1970er Jahre in die Bundesrepublik einreisten. Mafia-Gruppen bleiben dagegen weitgehend unbehelligt, da sie zumeist unauffĂ€llig agieren und keine Provokation der Mehrheitsbevölkerung darstellen, somit auch nicht nach offizieller Lesart den âRechtsfriedenâ bedrohen. Aber auch Deutsche ohne Migrationshintergrund sind wirtschaftskriminell â und verursachen damit das Gros des wirtschaftlichen Schadens. Sie verfĂŒgen jedoch ĂŒber wirksamere Verschleierungsmöglichkeiten als diejenigen, die pauschal den âClansâ zugerechnet werden und sichtbarer Teil des öffentlichen Lebens sind. Dieser Teil der Wirklichkeit wird weitgehend verdrĂ€ngt, da sich viele Menschen von Delikten wie Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zudem nicht direkt betroffen fĂŒhlen.
Deshalb sind ĂŒbersteigerte Bedrohungsszenarien populĂ€rwissenschaftlicher Art Ă€rgerlich. âUnterdessen ist lĂ€ngst der soziale Frieden in Gefahr. Deshalb ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen, gegenĂŒber Kriminellen, die unseren Wohlstand â mittelbar aber auch unsere Freiheit â bedrohenâ, warnt zum Beispiel der Journalist Olaf Sundermeyer in seinem Buch âBandenlandâ mit Blick auf die CK. [15] âClans verhalten sich in ihrer deutschen Umgebung wie die StĂ€mme in der WĂŒste: Alles, was auĂerhalb der Clans liegt, ist Feindeslands und frei zu erobernâ, ergĂ€nzt der Migrationsforscher Ralph Ghadban. [16] Nicht OK und CK aber stellen eine fundamentale Bedrohung fĂŒr die Gesellschaft dar, vielmehr das â âmafiöseâ â Zusammenspiel von kriminellen und gesellschaftlichen Eliten.
Eine besonders zynische Note erhĂ€lt die alarmierende und effekthascherische Darstellung der CK schlieĂlich vor dem Hintergrund der Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund. AnlĂ€sslich der Bekanntgabe seiner Kandidatur fĂŒr den CDU-Vorsitz verknĂŒpfte Friedrich Merz die BekĂ€mpfung von Rechtsradikalismus mit einem hĂ€rteren Vorgehen gegen âClansâ in sogenannten Problemvierteln. Ganz im Sinne des Bundesinnenministers Horst Seehofer, der schon im Herbst 2018 vor dem Hintergrund der rassistischen Demonstrationen in Chemnitz die Migration als âMutter aller Problemeâ bezeichnete.
ĂuĂerungen wie diese trugen und tragen dazu bei, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das Rechtsradikale zusĂ€tzlich motiviert, in die Offensive zu gehen. Seit 2010 wurden beispielsweise im Berliner Bezirk Neukölln immer wieder Wohnungen, CafĂ©s und Autos beschĂ€digt oder sogar angezĂŒndet. Auch erhielten Menschen, die sich gegen rechts engagieren, wiederholt Morddrohungen. Bewohner*innen des Kiezes sprechen seitdem von einem durch die AnschlĂ€ge erzeugten âKlima der Angstâ. Das Verhalten der Polizei trug dabei nicht zur Bildung eines SicherheitsgefĂŒhls bei. Denn Anschlagswarnungen wurden nicht ernst genommen, manche glauben sogar an eine Verwicklung von Beamten in die Taten. Der Verfolgungsdruck muss also verstĂ€rkt werden â dort, wo gesellschaftlich integrierte BĂŒrger*innen ihre wirtschaftskriminellen GeschĂ€fte abwickeln und Nazi-Banden ganze Stadtbezirke in Angst versetzen.
Anmerkungen:
[1] Kritiker*innen lehnen die Begriffe âClanâ oder âarabische GroĂfamilienâ aus guten GrĂŒnden als politische Kampfbegriffe ab.
[2] Zitiert nach Klaus von Lampe: âGeschichte und Bedeutung des Begriffs âorganisierte KriminalitĂ€tââ, in: Meropi Tzanetakis/Heino Stöver (Hrsg.), Drogen, Darknet und Organisierte KriminalitĂ€t. Herausforderungen fĂŒr Politik, Justiz und Drogenhilfe, Baden-Baden, 2019, Seite 37
[3] Klaus von Lampe/Susanne Knickmeier: Organisierte KriminalitÀt: Die aktuelle Forschung in Deutschland, Berlin, Februar 2018, Seite 8
[4] von Lampe, 2019, Seite 38
[5] Vgl. Susanne Memarnia: âOrganisierte KriminalitĂ€t in Berlin: Zweite-Reihe-Parken ist nicht OKâ, taz vom 11. Dezember 2019
[6] Olaf Sundermeyer: Bandenland. Deutschland im Visier von organisierten Kriminellen, MĂŒnchen, 2017, Seite 15
[7] Martin Ludwig Hofmann: Monopole der Gewalt. Mafiose Macht, staatliche SouverÀnitÀt und die Wiederkehr normativer Theorie, Bielefeld, 2003, Seite 96f.
[8] Peter Podjavorsek: âOrganisierte KriminalitĂ€t. Warum sich die Politik so schwertutâ, Deutschlandfunk Kultur â Zeitfragen, 17. Februar 2020
[9] Vgl. Text vom 24. September 2019 unter https://mafianeindanke.de/category/mafia-de/ndrangheta-de/
[10] von Lampe/Knickmeier, Seite 73
[11] Vgl. Peter Podjavorsek
[12] Bernd Fuchs: âEditorialâ, in: Kriminalistik 5/2019, Seite 274
[13] Vgl. Peter Podjavorsek
[14] Vgl. Markus Henninger: ââImportierte KriminalitĂ€tâ und deren Etablierungâ, in: Kriminalistik 12/2019, S. 282-296; Nachdruck aus dem Jahr 2002)
[15] Olaf Sundermeyer, Seite 13
[16] Ralph Ghadban: Arabische Clans. Die unterschÀtzte Gefahr, Berlin, 2020, Seite 183
Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Eine kĂŒrzere Fassung seines Artikels ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.
Anhang
Offizielle Kennzahlen der OK und der Clan-KriminalitÀt
(am Beispiel des Bundes und Berlins)
Â