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Organisierte KriminalitÀt als Profiteur der Corona-Krise (Teil 2)

Nach Auffassung des Generalstaatsanwalts von Siziliens Hauptstadt Palermo, Lo Voi, nimmt die Organisierte KriminalitĂ€t (OK) nicht nur Italien, sondern ganz Europa ins Visier, um in Zeiten der grassierenden Covid-Pandemie das große GeschĂ€ft zu machen. Die Mafia sei daran interessiert, sich „die Wirtschaft einzuverleiben“, wie es Italiens Antimafia-Staatsanwalt Federico Cafiero De Raho formuliert. Gemeint ist damit unter anderem, dass Organisationen wie die ’Ndrangheta die aktuelle Gelegenheit vor allem dazu nutzen wollen, ihre Gelder zu waschen. Die Mafia will außerdem ihre AktivitĂ€ten in Branchen verstĂ€rken, die vom Corona-Lockdown besonders betroffen sind: im TransportgeschĂ€ft, Großhandel, GaststĂ€ttengewerbe und Tourismus.

In einem Beitrag des Nachrichtensenders n-tv vom 11. April 2020 heißt es dazu:

„Dabei bewegt sie sich gleichzeitig auf drei Ebenen, auf der lokalen, der nationalen und der internationalen. Auf lokaler Ebene bedeutet das, sich als WohltĂ€ter zu stilisieren und GeschĂ€ftsinhabern zum Beispiel ÜberbrĂŒckungskredite zu gewĂ€hren. Angeblich aus reiner NĂ€chstenliebe. Doch irgendwann wird daraus Wucher oder es werden GefĂ€lligkeiten abverlangt. Auf noch niedrigerer Ebene heißt es, denen unter die Arme zu greifen, die normalerweise von Schwarzarbeit leben und jetzt nicht einmal mehr das Geld haben, um Lebensmittel einzukaufen. Wo der Staat zu langsam handelt, sind Cosa Nostra, ’Ndrangheta oder Camorra zur Stelle. Und das stĂ€rkt natĂŒrlich die LoyalitĂ€t der HilfebedĂŒrftigen gegenĂŒber den Mafiosi.“

Generalstaatsanwalt Lo Voi unterstreicht, dass die Mafia erfahrungsgemĂ€ĂŸ bei jeder Krise sofort zur Stelle ist, auch auf internationaler Ebene. Gesetze und Kontrollmaßnahmen mit Blick auf GeldflĂŒsse und Investitionen seien deshalb nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa zu verschĂ€rfen ‒ vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen.

Die Corona-Krise erschwert zugleich den Kampf gegen die OK. So verweist der Staatsanwalt in Kalabrien, Nicola Gratteri, darauf, dass hunderte Prozesse gegen mutmaßliche Mafiosis zum Stillstand gekommen seien. Seit dem Beginn der Pandemie werden in Italien offenbar nur noch die dringendsten Prozesse weitergefĂŒhrt.

Quellen:

Andrea Affaticati: „Einmalige GeldwĂ€sche-Möglichkeit. Mafia wird in ganz Europa einkaufen“, n-tv 11. April 2020

https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-wird-in-ganz-Europa-einkaufen-article21707786.html

 „Mafia will von Corona-Krise profitieren“, n-tv, 1. April 2020
https://www.n-tv.de/panorama/Mafia-will-von-Corona-Krise-profitieren-article21684306.html 

 

 

 

 

 

Organisierte KriminalitÀt als Profiteur der Corona-Krise (Teil 1)

Auch die Organisierte KriminalitÀt (OK) reagiert auf die Corona-Pandemie: Da bestimmte GeschÀftsfelder wie Drogenhandel und Prostitution derzeit nicht funktionieren, orientieren sich organisiert Kriminelle um. Sie versuchen, aus der Krise Profit zu schlagen.

Nach Angaben von Oliver Huth vom Bund Deutscher Kriminalbeamter ziehen beispielsweise die Milliarden-Förderprogramme von Bund und LĂ€ndern das organisierte Verbrechen an: „Wir kennen das aus der Vergangenheit, da haben Kriminelle relativ schnell die entsprechenden GesetzeslĂŒcken erkannt, um dieser Subventionen habhaft zu werden.“ (Tagesschau) Laut NRW-Innenminister Herbert Reul konnten schon zwischen 3.500 bis 4.000 gefĂ€lschte AntrĂ€ge aufgedeckt werden, die „frappierend echt“ wirkten (n-tv). Huth, der beim Landeskriminalamt NRW Ermittlungsgruppen gegen die Organisierte KriminalitĂ€t leitet, geht davon aus, dass Mafiosi in Deutschland mittels Brandstiftung VersicherungsprĂ€mien kassieren (zum Beispiel werden Restaurants, die sich derzeit nicht mehr rechnen, kurzerhand angezĂŒndet). Und auch, dass die OK zum Zwecke der GeldwĂ€sche in akut von Insolvenz bedrohten CafĂ©s und Restaurants investiert (Tagesschau). Als weiteres GeschĂ€ftsmodell nennt Huth die illegale MĂŒllentsorgung. Besitzer seien gerade jetzt froh, leerstehende GebĂ€ude vermieten zu können. „Plötzlich ist die Lagerhalle voll mit Bauschutt und der Mieter verschwindet auf Nimmerwiedersehen.“ (n-tv) Zudem glaubt Huth mit „absoluter Sicherheit“, dass das GeschĂ€ft mit Wucherzinsen und Schutzgelderpressung zunehmen werde. „Egal ob Kriminelle oder unbedarfte BĂŒrger, denen es an Geld fehlt: Sie erhalten Angebote, sich Geld gegen Wahnsinnszinsen zu leihen.“ (n-tv)

Quellen:

Thomas Schmoll: „GeldwĂ€sche-Boom erwartet. Organisierte KriminalitĂ€t feiert gerade“, n-tv 21. April 2020

https://www.n-tv.de/politik/Organisierte-Kriminalitaet-feiert-gerade-article21729569.html

Volkmar Kabisch/Jan Lukas Strozyk/Benedikt Strunz: „Organisierte KriminalitĂ€t: Auf der Suche nach neuen GeschĂ€ften“, NDR 31. MĂ€rz 2020

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/organisierte-kriminalitaet-corona-101.html

Arbeiter*innen in Großbritannien trotzen Antigewerkschaftsgesetzen

 Mit Verweis auf einen aktuellen Artikel in dem linken britischen Magazin Tribune berichtet die junge Welt in ihrer Ausgabe vom 22. April 2020 von mehr als 50 spontanen Streiks, die es in den letzten Wochen in Großbritannien im Zusammenhang mit der Coronakrise gegeben haben soll. Als GrĂŒnde fĂŒr diese Vielzahl an rechtswidrigen Arbeitsniederlegungen werden angefĂŒhrt: fehlende SchutzausrĂŒstung, Angriffe auf Löhne und UrlaubsansprĂŒche sowie allgemein verschlechterte Arbeitsbedingungen. Neben dem Gesundheitswesen seien die Post, Lieferdepots großer Handelsketten und Großbaustellen betroffen.

Die Streiks sind illegal, da legale Urabstimmungen per Briefwahl erfolgen mĂŒssen. Diese sind aber zurzeit nicht möglich, weil die zu ihrer AusfĂŒhrung gesetzlich vorgeschriebenen Organisationen („balloting organisations“) wegen der Corona-Pandemie nicht arbeitsfĂ€hig sind. Arbeitsrechtsexperte Gregor Gall betont in seinem Tribune-Beitrag, dass deshalb derzeit keine rechtmĂ€ĂŸigen Streiks bzw. Arbeitskampfmaßnahmen in Großbritannien realisierbar seien.

In der jungen welt beschreibt Christian Bunke die zu den illegalen Streiks fĂŒhrenden unzumutbaren Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Branchen:

„Bei der Post entzĂŒnden sich die Spontanstreiks rund um die großen Zentraldepots. So wurde in Kent wegen mangelnder Desinfektionsmittel gestreikt. In Warrington legten die Postler die Arbeit nieder, weil sich ein Kollege mit SARS-CoV-2 infiziert hatte, die Leitung aber weiterarbeiten ließ, als sei nichts geschehen (…). Im Gesundheitswesen sorgt die UnfĂ€higkeit der Regierung zunehmend fĂŒr Unmut. So stecken 400.000 Einheiten von Schutzkleidung derzeit auf einem Flughafen in der TĂŒrkei fest. Die englische Gesundheitsbehörde ‚Public Health England‘ hat die BeschĂ€ftigten angewiesen, die AusrĂŒstung mehrfach zu verwenden, wenn nicht genĂŒgend vorhanden ist. Mehr als 50 im Gesundheitsbereich TĂ€tige sind inzwischen an der Lungenkrankheit Covid-19 verstorben (
). Nun zirkuliert laut dem in der Baubranche sehr bekannten Aktivisten Dave Smith ‚auf allen großen Baustellen‘ ein Video, das die Arbeitsbedingungen anprangert. Hunderte Bauarbeiter wĂŒrden in den kommenden Wochen sterben, weil diese zur Arbeit auf sogenannten nicht essentiellen Baustellen gezwungen wĂŒrden, heißt es in dem von der Londoner Aktivistengruppe ‚Reel News‘ produzierten Kurzfilm. Von ‚individuellen Beschwerden‘ ĂŒber die ZustĂ€nde wird in dem Video abgeraten, weil dies schnell den Job kosten könne. Wichtig sei es, sich mit anderen zusammenzutun und Forderungen kollektiv vorzutragen. Diese Methode habe an manchen Orten bereits zu Baustellenschließungen gefĂŒhrt.“

Quellen:

Christian Bunke: „Streiks in Großbritannien“, junge welt, 22. April 2020

https://www.jungewelt.de/artikel/376922.gro%C3%9Fbritannien-streiks-in-gro%C3%9Fbritannien.html?sstr=streiks 

Gregor Gall: „Right Now in the UK, Strikes Are Effectively Illegal“, Tribune, 16. April 2020

https://www.tribunemag.co.uk/2020/04/right-now-in-the-uk-strikes-are-effectively-illegal

Zwischen Medienhype, staatlicher Repression und realer Bedrohung ‒ „Clans“ im Visier von Politik und Öffentlichkeit

Aktuell steht die sogenannte Clan-KriminalitĂ€t (CK) als Teil der organisierten KriminalitĂ€t (OK) verstĂ€rkt im Fokus von Polizei und medialer Öffentlichkeit. [1] Neben den um ein Vielfaches grĂ¶ĂŸeren FlĂ€chenlĂ€ndern Bayern und Nordrhein-Westfalen gilt Berlin als eine Hochburg der OK. UnabhĂ€ngig von ihrer parteipolitischen Provenienz verfolgen die zustĂ€ndigen Innenminister und -senatoren in den Zentren der OK eine „Null-Toleranz-Politik“ vornehmlich gegen arabische Gruppierungen. Vor allem die Boulevardpresse feiert in weiten Teilen das konsequente Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden gegen die „Clans“. Zugleich wehren sich Kritiker*innen gegen die stigmatisierende Pauschalisierung arabischstĂ€mmiger Menschen als kriminelle Bedrohung und die von ihnen als hysterisch erlebte Berichterstattung. „In den Medien wird unser Stadtteil nur in Blaulicht gebadet gezeigt. Bilder von Polizist*innen, die junge MĂ€nner abfĂŒhren, begleitet von bedrohlicher Musik und alarmistischen Überschriften zu KriminalitĂ€t und Gewalt. Die Debatte um die sogenannte Clan-KriminalitĂ€t ist gezeichnet durch Vorurteile und malt ein verzerrtes Bild von Neukölln als Gefahrenzone“, heißt es beispielsweise in einem Aufruf zu einer Kundgebung, die anlĂ€sslich einer von der Fraktion der AfD initiierten Debatte ĂŒber polizeiliche Razzien Ende Februar 2020 in der Bezirksverordnetenversammlung des Berliner Bezirks stattfand.

Neben den zuletzt intensivierten öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen soll im Folgenden auch der polizeiliche und (populĂ€r-)wissenschaftliche Diskurs zur Rolle und Bedeutung der OK bzw. krimineller „Clans“ beleuchtet werden

 

OK, Clan-KriminalitĂ€t und Mafia – eine BegriffsklĂ€rung

Sogenannte polizeiliche Lagebilder fassen mittels Statistiken und exemplarischer Falldarstellungen die zu einem bestimmten Zeitpunkt aktuellen Erkenntnisse und Entwicklungen in einzelnen Themenfeldern zusammen. Die offizielle Definition organisierter KriminalitĂ€t, die den Erhebungen fĂŒr die Lagebilder im Bund und in den LĂ€ndern zugrunde gelegt wird, wurde im Mai 1990 von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Justiz und Polizei vorgelegt. Organisierte KriminalitĂ€t ist danach „die von Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmĂ€ĂŸige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als zwei Beteiligte auf lĂ€ngere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig a) unter Verwendung gewerblicher oder geschĂ€ftsĂ€hnlicher Strukturen, b) unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur EinschĂŒchterung geeigneter Mittel oder c) unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken.“

Nach Meinung vieler Rechtswissenschaftler*innen und Praktiker*innen zeichnet sich die Formulierung durch eine mehrfache UnschĂ€rfe aus, die sie fĂŒr eine exakte Abgrenzung organisierter gegenĂŒber nicht organisierter KriminalitĂ€t wertlos macht. Denn zur Bildung einer Gruppe organisierter Krimineller reicht bereits das arbeitsteilige Zusammenwirken von lediglich drei Personen aus. Die durch das Wort „oder“ markierten alternativen Definitionskriterien eröffnen zudem eine Vielzahl von Konstellationen, in denen OK erkennbar sein soll. Bei einer Anhörung im Bundestag im Oktober 1993 spottete denn auch der damalige PrĂ€sident des Bundeskriminalamts, Hans-Ludwig Zachert, ĂŒber diese Definition, die „selbst Eingeweihten nur in glĂŒcklichen Stunden verstĂ€ndlich“ sei. [2] Auch die Kriminolog*innen Klaus von Lampe und Susanne Knickmeier sprechen dem Terminus einen relevanten juristischen und polizeilichen Bedeutungsgehalt ab: „Die Definition dient hauptsĂ€chlich der KlĂ€rung von ZustĂ€ndigkeiten innerhalb der Strafverfolgungsbehörden sowie der Erstellung von Lagebildern. DemgegenĂŒber ist ihre Bedeutung fĂŒr die konkrete Ermittlungsarbeit, aber auch fĂŒr die Gesetzgebung und Rechtsprechung eher gering.“ [3] Insofern sei es problematisch, von „der“ OK zu sprechen oder OK ĂŒberhaupt als eine analytische Kategorie zu verstehen.

Der Verzicht auf eine begriffliche Eingrenzung eröffnet den Strafverfolgungsbehörden vielmehr die Möglichkeit, je nach Interessenlage Delikte willkĂŒrlich als OK zu kategorisieren oder darauf zu verzichten. Damit wird zugleich einer politischen Instrumentalisierung des PhĂ€nomens Vorschub geleistet. Von Lampe empfiehlt deshalb, den Begriff „als analytische Kategorie zu verwerfen und die als ‚organisierte KriminalitĂ€t‘ etikettierten Erscheinungen jeweils gesondert zu betrachten, ohne sich durch die Annahme eines ĂŒbergeordneten Zusammenhangs, der durch den OK-Begriff suggeriert wird, den Blick auf die Dinge verstellen zu lassen“. [4]

Ebenso wenig existiert bislang eine bundesweit verbindliche Definition des Begriffs CK. Um diese aber ansatzweise greifbar zu machen, verstĂ€ndigten sich die Bundes- und Landesbehörden auf einzelne Zuordnungskriterien. Laut Bundeslagebericht Organisierte KriminalitĂ€t 2018 ist CK „die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, (
) und einem hohen Maß an Abschottung der TĂ€ter (…) Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsĂ€tzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung“.  CK kann dabei einen oder mehrere der folgenden Indikatoren aufweisen: „Eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprĂ€gte Familienstruktur, eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer rĂ€umlichen Konzentration, das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen AnlĂ€ssen oder geringfĂŒgigen RechtsverstĂ¶ĂŸen, die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotentiale“.

Im Lagebild Organisierte KriminalitĂ€t Berlin 2018 heißt es ergĂ€nzend:

„Der PhĂ€nomenbereich ist von einer in weiten Teilen der arabischstĂ€mmigen Community bestehenden Parallelgesellschaft geprĂ€gt und geht einher mit einer mangelnden Akzeptanz oder sogar Ablehnung des in Deutschland vorherrschenden Werte- und Normensystems. Vielfach treten die kriminellen Clanmitglieder mit OrdnungsverstĂ¶ĂŸen und Straftaten im Bereich der AllgemeinkriminalitĂ€t in Erscheinung, aber auch im Bereich der Organisierten KriminalitĂ€t.“

Kurz gesagt: BKA und LKA Berlin legen den Fokus auf eine bestimmte „Subkultur“, der arabischen, und der von ihr etablierten „Parallelordnung“, getragen von „Clans“ oder „Großfamilien“ als feste, geschlossene Gruppe. Bei der Vorstellung des neuen Lagebilds Organisierte KriminalitĂ€t des LKA fĂŒr Berlin im Dezember 2019 fĂŒhrte Innensenator Andreas Geisel (SPD) diesen Punkt weiter aus. Nicht der Großteil der arabischen Community sei gemeint, sondern nur die Clan-Familien. Eigentlich gehörten nur Teile der „Clans“ zur OK. In diesen Großfamilien bis zu 1.000 Personen seien nicht alle kriminell, aber es gebe eine hohe Zahl von auffĂ€lligen Personen. Einige davon seien im Bereich OK unterwegs, andere wĂŒrden „in der zweiten Reihe parken“ und trĂŒgen Rolex. Das sei nicht kriminell, höhle aber den Rechtsstaat aus. Barbara Slowik, Berlins PolizeiprĂ€sidentin, ergĂ€nzte, CK habe auch damit zu tun, „dass wir gegen ein Dominanzverhalten vorgehen wollen“. Gemeint seien neben dem „Parken in der zweiten Reihe“ auch Hochzeitskorsos. Das sei zwar nicht kriminell, aber da wĂŒrde es „anfangen“. Auch die Großrazzien in Neuköllner Shisha-Bars und GeschĂ€ften seien keine Maßnahmen gegen OK, sondern gegen nicht akzeptable „RegelverstĂ¶ĂŸe“ wie Verletzung des Immissionsschutzes oder Tabakschmuggel. [5]

„Dominanzverhalten“ und „RegelverstĂ¶ĂŸe“: Die PolizeiprĂ€sidentin und der Innensenator betonen zwar unisono, dass es wichtig sei, zwischen CK und OK zu unterscheiden. Offensichtlich steht nicht der wirtschaftliche Schaden, sondern das SicherheitsgefĂŒhl der Bevölkerung im Mittelpunkt des polizeilichen und politischen Vorgehens. Der Lagebericht aus Berlin bestĂ€tigt entsprechend, dass die kriminellen Clanangehörigen mit Ordnungswidrigkeiten und Straftaten in Erscheinung treten, „die zu einem ĂŒberwiegenden Teil auf den Bereich der Allgemein- und MassenkriminalitĂ€t entfallen“. Aber auch AktivitĂ€ten unterhalb der Schwelle zur KriminalitĂ€t stellen nach Auffassung der Polizeichefin und des Senators einen Angriff auf den Rechtsstaat dar.

Italienische Familien, die der klassischen Mafia zugerechnet werden, spielen dagegen in Berlin laut Lagebericht kaum eine Rolle. Denn anders als die libanesischen und andere „Clans“, als deren Markenzeichen die lautstarke Protzerei mit aufgemotzten Luxuskarossen und anderem Machogehabe gilt, bewegt sich die Mafia weitgehend außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. „Kritiker sehen darin die bewusst erklĂ€rte Stille eines kriminellen GeschĂ€fts, das vor allem wegen dieser Ruhe prosperiert. So sei es durchaus politisch gewollt, dass die Mafia in Deutschland strukturell unterschĂ€tzt wird, damit deren Geld auch weiterhin in den deutschen Wirtschaftskreiskauf fließt.“ [6] Das in der offiziellen OK-Definition zuletzt genannte Kriterium, also die Einflussnahme auf staatliche Institutionen oder die Medien, fehlt bei dem PhĂ€nomen der CK. Es ist hingegen charakteristisch fĂŒr die Mafia in Italien, die bis in die höchsten politischen Kreise hinein vernetzt ist.

WĂ€hrend die „Clans“ nach Darstellung von Polizei und Medien die Rechtsordnung und den angeblich von ihnen als schwĂ€chlich erlebten Rechtsstaat verachten, zielt die Mafia nicht primĂ€r auf eine SchwĂ€chung oder gar Vernichtung der herrschenden Staatsordnung. Mafiagruppierungen verstehen sich eher als Wirtschaftsunternehmen, welche die politischen VerhĂ€ltnisse indirekt zu beeinflussen suchen, um die Rahmenbedingungen fĂŒr das eigene (kriminelle) wirtschaftliche Handeln positiv zu gestalten. „In diesem Sinne“, schreibt Martin Ludwig Hofmann, „dĂŒrfte sich die Mehrzahl der ‚EhrenmĂ€nner‘ durchaus als BĂŒrger und Mitglieder des Staates empfinden, dem sie so lange LoyalitĂ€t entgegenbringen, so lange die staatlichen Interessen nicht mit den eigenen kollidieren. Die Mafia-Clans positionieren sich damit selbst ‚innerhalb‘ des staatlichen GefĂŒges befindlich und knĂŒpfen zur Festigung dieses ‚Innerhalb‘ den Kontakt zu lokalen (und darĂŒber hinaus) Vertretern der Politik und der staatlichen Administration. Dieser Kontakt wiederum scheint oft von beiden Seiten gesucht zu werden, da er nicht nur den Vertretern der Mafia einen Nutzen verspricht“. [7] Auch Sandro Mattioli vom Verein Mafianeindanke, nach eigenen Angaben die wichtigste Antimafia-Organisation hierzulande, bestĂ€tigt, dass die italienische Mafia in Deutschland „möglichst unter dem Radar“ agiert und sich im legalen Wirtschaftsleben etabliert hat, etwa im Baugewerbe oder in der Gastronomie. [8]

Die durchlĂ€ssige Grenze zwischen Mafia-Organisationen und staatlichen Institutionen sowie dem regulĂ€ren Wirtschaftsleben ist sicherlich ein entscheidender Grund dafĂŒr, dass der Staat im Gegensatz zum entschlossenen Durchgreifen gegen vornehmlich arabischstĂ€mmige „Clans“ kaum Interesse zeigt, die italienische Mafia effektiv zu verfolgen. So moniert Mafianeindanke, dass der Berliner Senat kein Personal bereitstellt, um in der Hauptstadt gegen die ‘Ndrangheta als eine der global bedeutendsten kriminellen Organisationen vorzugehen. Auch kritisiert der Verein die Ergebnisse des aktuellen Bundeslageberichts zur OK. Laut BKA wurde 2018 gegen 124 Mitglieder der ‘Ndrangheta in Deutschland ermittelt, wĂ€hrend nach Informationen der Bundesregierung von mindestens 800 bis 1.000 Mitglieder der kalabrischen Mafia auszugehen ist. Der weitaus grĂ¶ĂŸte Teil der Mafiosi in Deutschland bleibt danach also unbehelligt. [9]

 

DefizitÀre Forschung

Im Februar 2018 erschien eine wissenschaftliche EinschĂ€tzung der OK-Forschungslandschaft in Deutschland. Das Ergebnis war niederschmetternd: Die Forscher*innen stellten eine ausgeprĂ€gte Diskrepanz zwischen der relativ großen Zahl „einschlĂ€giger“ Veröffentlichungen und dem vergleichsweise geringen Umfang empirischer Forschung fest. Die bisherige Forschung sei „insulĂ€r“, die wenigen Untersuchungen bauten also nicht aufeinander auf und könnten nur begrenzt den Erkenntnisstand erweitern. [11] Ein wesentliches Forschungsproblem besteht offensichtlich in dem schwierigen Datenzugang der Kriminolog*innen, denn diese seien nahezu ausschließlich auf Ermittlungsergebnisse von Polizei- und Justizbehörden angewiesen. Die exekutiven Organe, die sich praktisch mit der OK auseinandersetzen, bieten jedoch nicht die fĂŒr die wissenschaftliche Reflektion nötige Distanz zum Untersuchungsobjekt. Zudem stellen Polizei und Staatsanwaltschaften ihre zum Teil geheimen Ermittlungsergebnisse nur ungern Externen zur VerfĂŒgung. Die „Beobachtungsferne“ der Kriminologie fĂŒhrt deshalb naturgemĂ€ĂŸ zu unbefriedigenden empirischen Forschungsergebnissen.

Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Bearbeitung des Themas in erster Linie im Bereich der Rechtswissenschaften erfolgt, die notwendige interdisziplinĂ€re Kooperation von Kriminologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Rechtswissenschaft aber offensichtlich nur rudimentĂ€r stattfindet. Soziologische Leerstellen, wie die Frage nach der tatsĂ€chlichen Lebenswirklichkeit (krimineller) Milieus jenseits von Klischeevorstellungen ĂŒber sogenannte Clans oder Großfamilien, werden deshalb durch sensationslĂŒsterne TV-Reportagen oder reißerisch aufgemachte Presseartikel ausgefĂŒllt, bei denen nicht selten die Tendenz zu einer Ethnisierung der KriminalitĂ€t auszumachen ist.

Daneben bewegen sich an der Schnittstelle von Forschung und polizeilicher Arbeit Fachorgane wie etwa die „Kriminalistik: UnabhĂ€ngige Zeitschrift fĂŒr die kriminalistische Wissenschaft und Praxis“, die ein wichtiges Forum fĂŒr die polizeiliche Diskussion um OK darstellt. Im Editorial des Heftes 5/2019, dessen Schwerpunkt der CK gewidmet ist, beschwört der Chefredakteur „das immense Gefahrenpotential krimineller arabischer Clans“ und betont, dass es „allerhöchste Zeit“ wird, „konsequent gegen Clans unter Einsatz aller rechtlichen Möglichkeiten“ vorzugehen. [12] Auch Magazine wie dieses prĂ€gen den Diskurs um OK und CK neben populĂ€rwissenschaftlichen Monografien und vor allem der Boulevardpresse entscheidend mit.

 

Wie reagiert die Politik

Einen Eindruck von der herrschenden „Null-Toleranz-Politik“ zur BekĂ€mpfung von OK und Clan-KriminalitĂ€t vermittelt das Vorgehen der nordrhein-westfĂ€lischen Landesregierung. Innenminister Herbert Reul (CDU) betonte wiederholt in der Öffentlichkeit, dass der eingeschlagene Weg, regelmĂ€ĂŸig Razzien durchzufĂŒhren, fortgesetzt und sogar intensiviert werden soll (so zum Beispiel am 23. Dezember 2019 im Radiosender WDR 5). Zur bisher grĂ¶ĂŸten Razzia Anfang 2019 rĂŒckten ĂŒber 1.300 Beamte von Polizei sowie Zoll- und Ordnungsamt aus und durchsuchten Shisha-Bars, WettbĂŒros und Teestuben im Ruhrgebiet. Diese Großaktion bildete den Auftakt zu der mittlerweile viel zitierten „Strategie der 1.000 Nadelstiche“ gegen „Clans“ in Nordrhein-Westfalen. Passend dazu schlug im Herbst letzten Jahres eine von der NRW-Regierung eingesetzte Kommission vor, Polizei und Justiz mit deutlich mehr Befugnissen auszustatten. Sowohl die personellen wie die technischen und rechtlichen Möglichkeiten sollten erweitert und den beteiligten Behörden dadurch eine bessere Zusammenarbeit ermöglicht werden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Zoll- und Steuerfahndung, AuslĂ€nder- und OrdnungsĂ€mter).

In NRW gibt es laut LKA rund 100 kriminelle Familienclans, die sich lokal auf Essen, Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen konzentrieren. 36 Prozent der TatverdĂ€chtigen, so heißt es weiter, seien deutsche StaatsbĂŒrger, die man nicht abschieben könne. „Gegen diejenigen StraftĂ€ter, die keine deutschen StaatsbĂŒrger sind, mĂŒssen die auslĂ€nderrechtlichen Maßnahmen allerdings konsequent ausgeschöpft werden“, forderte die Kommission. (General-Anzeiger Bonn vom 23. September 2020) Mitte 2020 wird deshalb in Essen im Rahmen der neuen Sicherheitskooperation Ruhr gegen CK eine behördenĂŒbergreifende Dienststelle ihre Arbeit aufnehmen, in der Maßnahmen gebĂŒndelt und koordiniert werden sollen. (vgl. General-Anzeiger Bonn vom 12. Januar 2020)

BegrĂŒndet wird das rabiate Durchgreifen vor allem mit einem angeblich von der Öffentlichkeit als Bedrohung empfundenes Auftreten krimineller Familienclans. Denen werden laut aktuellem Lagebild zur OK in NRW Straftaten wie eine „vermeintliche Besetzung des öffentlichen Raums“, „hĂ€ufig fehlenden Respekt gegenĂŒber der Polizei und Rettungsdiensten“ sowie ein „aggressives Auftreten im Rahmen von sogenannten ‚Tumultlagen‘“ vorgeworfen. Zudem sei die Etablierung einer Parallelgesellschaft und -justiz (mit claninternen Streitschlichtern) feststellbar. Dieser Entwicklung soll durch einen „maximalen Kontroll- und Verfolgungsdruck“ entgegengewirkt werden.

Teile der Medien assistierten der staatlichen Repressionsstrategie, als Anfang Februar im Rahmen einer Razzia in Bottrop, Recklinghausen und anderen Orten insgesamt 20 Shisha-Bars und CafĂ©s von Polizei und Zoll kontrolliert worden waren. „NRW: NĂ€chster Schlag gegen Clans im Ruhrgebiet“ titelte etwa das Onlineportal DerWesten.de (Funke Mediengruppe). Das MissverhĂ€ltnis von Großaufgebot an eingesetztem Personal und Ermittlungsergebnis wird am Ende des Artikels deutlich. Ein „verbotenes Messer“, unverzollter Shisha-Tabak und 39 PĂ€ckchen Tabletten, „die noch ĂŒberprĂŒft werden mĂŒssen“, wurden konfisziert.

Im Juli 2018 beschlagnahmte die Polizei in Berlin bei einer aus dem Libanon eingewanderten Familie vorlĂ€ufig 77 Immobilien im Gesamtwert von rund 9,3 Millionen Euro. Dieses von Boulevard-BlĂ€ttern als großen Schlag gegen die Clan-KriminalitĂ€t gefeierte polizeiliche Vorgehen entspricht der Erkenntnis, dass die GeldwĂ€schebekĂ€mpfung die wichtigste, aber auch kontrollintensivste Komponente bei der BekĂ€mpfung der OK darstellt. So richtig aber der Ansatzpunkt ist, mit Maßnahmen gegen die SekundĂ€rkriminalitĂ€t auch implizit die PrimĂ€rkriminalitĂ€t einzudĂ€mmen, so verhalten agiert der Staat letztlich auf diesem Feld. „Ein perfider Grund fĂŒr die Nonchalance ist: Die deutsche Wirtschaft profitiert von dem schmutzigen Geld. Der Immobilienboom beschert dem Bausektor gĂŒldene Zeiten“, kommentierte die SĂŒddeutsche Zeitung am 27. Oktober 2019.

Notare und Makler werden in Deutschland offenkundig nicht kontrolliert, obwohl sie bei ImmobiliengeschĂ€ften eine entscheidende Rolle spielen. Michael Findeisen von der BĂŒrgerbewegung Finanzwende etwa kritisiert die Situation in Berlin. „Da gab es frĂŒher einen Wirtschaftssenator von den Linken, jetzt ist es eine grĂŒne Senatorin. Beide Parteien erklĂ€ren sich ja immer als Schild und Speer im Kampf gegen GeldwĂ€sche. Das ist halt ernĂŒchternd. Da sitzen wirklich auf fĂŒnf Planstellen, da sind ein bis zwei immer krank, Leute rum, die zigtausende Gewerbeunternehmen, die unter das GeldwĂ€schegesetz fallen, durch PrĂŒfungen, Vor-Ort-PrĂŒfungen prĂŒfen sollen.“ [13] Aus politischen GrĂŒnden (auch illegale Investitionen sind Investitionen) und wegen der StĂ€rke der Finanzlobby weicht der Staat offenbar davor zurĂŒck, die Vermögensabschöpfung aus kriminellen GeschĂ€ften in den Griff zu bekommen.

 

Schluss

Von „Clans“ verĂŒbte KriminalitĂ€t in Deutschland ist nichts Neues. Sie wird dabei schon seit vielen Jahren als „importierte KriminalitĂ€t“ vornehmlich libanesischer oder auch tĂŒrkisch-kurdischer Herkunft thematisiert und skandalisiert. [14] Diese Variante der OK gilt insofern als PhĂ€nomen, das gleichsam von außen einen ansonsten „gesunden“ Rechtsstaat attackiert und gefĂ€hrdet. OK und WirtschaftskriminalitĂ€t generell sind aber aus der gesellschaftlichen Mitte erwachsen. Unbestritten ist ein wichtiger Grund fĂŒr kriminelles Verhalten von sogenannten Clans die bewusst unterbliebene Integrationspolitik gegenĂŒber arabischen Menschen, die als BĂŒrgerkriegsflĂŒchtlinge seit Ende der 1970er Jahre in die Bundesrepublik einreisten.  Mafia-Gruppen bleiben dagegen weitgehend unbehelligt, da sie zumeist unauffĂ€llig agieren und keine Provokation der Mehrheitsbevölkerung darstellen, somit auch nicht nach offizieller Lesart den „Rechtsfrieden“ bedrohen. Aber auch Deutsche ohne Migrationshintergrund sind wirtschaftskriminell – und verursachen damit das Gros des wirtschaftlichen Schadens. Sie verfĂŒgen jedoch ĂŒber wirksamere Verschleierungsmöglichkeiten als diejenigen, die pauschal den „Clans“ zugerechnet werden und sichtbarer Teil des öffentlichen Lebens sind. Dieser Teil der Wirklichkeit wird weitgehend verdrĂ€ngt, da sich viele Menschen von Delikten wie Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung in Millionenhöhe zudem nicht direkt betroffen fĂŒhlen.

Deshalb sind ĂŒbersteigerte Bedrohungsszenarien populĂ€rwissenschaftlicher Art Ă€rgerlich. „Unterdessen ist lĂ€ngst der soziale Frieden in Gefahr. Deshalb ist es an der Zeit, sich ehrlich zu machen, gegenĂŒber Kriminellen, die unseren Wohlstand – mittelbar aber auch unsere Freiheit – bedrohen“, warnt zum Beispiel der Journalist Olaf Sundermeyer in seinem Buch „Bandenland“ mit Blick auf die CK. [15] „Clans verhalten sich in ihrer deutschen Umgebung wie die StĂ€mme in der WĂŒste: Alles, was außerhalb der Clans liegt, ist Feindeslands und frei zu erobern“, ergĂ€nzt der Migrationsforscher Ralph Ghadban. [16] Nicht OK und CK aber stellen eine fundamentale Bedrohung fĂŒr die Gesellschaft dar, vielmehr das – „mafiöse“ – Zusammenspiel von kriminellen und gesellschaftlichen Eliten.

Eine besonders zynische Note erhĂ€lt die alarmierende und effekthascherische Darstellung der CK schließlich vor dem Hintergrund der Morde an Menschen mit migrantischem Hintergrund. AnlĂ€sslich der Bekanntgabe seiner Kandidatur fĂŒr den CDU-Vorsitz verknĂŒpfte Friedrich Merz die BekĂ€mpfung von Rechtsradikalismus mit einem hĂ€rteren Vorgehen gegen „Clans“ in sogenannten Problemvierteln. Ganz im Sinne des Bundesinnenministers Horst Seehofer, der schon im Herbst 2018 vor dem Hintergrund der rassistischen Demonstrationen in Chemnitz die Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnete.

Äußerungen wie diese trugen und tragen dazu bei, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das Rechtsradikale zusĂ€tzlich motiviert, in die Offensive zu gehen. Seit 2010 wurden beispielsweise im Berliner Bezirk Neukölln immer wieder Wohnungen, CafĂ©s und Autos beschĂ€digt oder sogar angezĂŒndet. Auch erhielten Menschen, die sich gegen rechts engagieren, wiederholt Morddrohungen. Bewohner*innen des Kiezes sprechen seitdem von einem durch die AnschlĂ€ge erzeugten „Klima der Angst“. Das Verhalten der Polizei trug dabei nicht zur Bildung eines SicherheitsgefĂŒhls bei. Denn Anschlagswarnungen wurden nicht ernst genommen, manche glauben sogar an eine Verwicklung von Beamten in die Taten. Der Verfolgungsdruck muss also verstĂ€rkt werden – dort, wo gesellschaftlich integrierte BĂŒrger*innen ihre wirtschaftskriminellen GeschĂ€fte abwickeln und Nazi-Banden ganze Stadtbezirke in Angst versetzen.

 

Anmerkungen:

[1] Kritiker*innen lehnen die Begriffe „Clan“ oder „arabische Großfamilien“ aus guten GrĂŒnden als politische Kampfbegriffe ab.

[2] Zitiert nach Klaus von Lampe: „Geschichte und Bedeutung des Begriffs ‚organisierte KriminalitĂ€t‘“, in: Meropi Tzanetakis/Heino Stöver (Hrsg.), Drogen, Darknet und Organisierte KriminalitĂ€t. Herausforderungen fĂŒr Politik, Justiz und Drogenhilfe, Baden-Baden, 2019, Seite 37

[3] Klaus von Lampe/Susanne Knickmeier: Organisierte KriminalitÀt: Die aktuelle Forschung in Deutschland, Berlin, Februar 2018, Seite 8

[4] von Lampe, 2019, Seite 38

[5] Vgl. Susanne Memarnia: „Organisierte KriminalitĂ€t in Berlin: Zweite-Reihe-Parken ist nicht OK“, taz vom 11. Dezember 2019

[6] Olaf Sundermeyer: Bandenland. Deutschland im Visier von organisierten Kriminellen, MĂŒnchen, 2017, Seite 15

[7] Martin Ludwig Hofmann: Monopole der Gewalt. Mafiose Macht, staatliche SouverÀnitÀt und die Wiederkehr normativer Theorie, Bielefeld, 2003, Seite 96f.

[8] Peter Podjavorsek: „Organisierte KriminalitĂ€t. Warum sich die Politik so schwertut“, Deutschlandfunk Kultur – Zeitfragen, 17. Februar 2020

[9] Vgl. Text vom 24. September 2019 unter https://mafianeindanke.de/category/mafia-de/ndrangheta-de/

[10] von Lampe/Knickmeier, Seite 73

[11] Vgl. Peter Podjavorsek

[12] Bernd Fuchs: „Editorial“, in: Kriminalistik 5/2019, Seite 274

[13] Vgl. Peter Podjavorsek

[14] Vgl. Markus Henninger: „‚Importierte KriminalitĂ€t‘ und deren Etablierung“, in: Kriminalistik 12/2019, S. 282-296; Nachdruck aus dem Jahr 2002)

[15] Olaf Sundermeyer, Seite 13

[16] Ralph Ghadban: Arabische Clans. Die unterschÀtzte Gefahr, Berlin, 2020, Seite 183

 

Joachim Maiworm
lebt und arbeitet in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Eine kĂŒrzere Fassung seines Artikels ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

Anhang

Offizielle Kennzahlen der OK und der Clan-KriminalitÀt
(am Beispiel des Bundes und Berlins)

 

 

 

 

 

„Clan-KriminalitĂ€t“ und die Medien

Die Ethnisierung sozialer Probleme ist ein gerne gebrauchtes Ablenkungsmittel, um SĂŒndenböcke fĂŒr sie benennen zu können. Nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten bedienen sich dieses Mittels. Auch in der „bĂŒrgerlichen Mitte“, bei ihren Parteien und Medien gibt es eine Tendenz, weniger nach den sozialen und ökonomischen Ursachen von KriminalitĂ€t zu fragen, als die ethnische Herkunft der TĂ€ter zum Thema zu machen.

Im seit den 1980er Jahren beliebt gewordenen Begriff „AuslĂ€nderkriminalitĂ€t“ kam diese Tendenz zum Ausdruck. Er suggerierte, dass es unter den „auslĂ€ndischen“ Bewohnerinnen und Bewohnern der Bundesrepublik eine besondere AffinitĂ€t zu kriminellen Handlungen gebe oder dass es zumindest aussagekrĂ€ftig sei, ihr normabweichendes Verhalten pauschal mit dem der Allgemeinheit statistisch zu vergleichen. Dabei wurden unter „AuslĂ€nder“ völlig disparate Gruppen zusammengefasst – von seit langem im Land lebenden Migranten ĂŒber Asylbewerber bis hin zu vorĂŒbergehend Eingereisten. Die stets ĂŒberproportional wirkenden Zahlen zur „AuslĂ€nderkriminalitĂ€t“ tĂ€uschten auch deshalb, weil Altersstruktur, Geschlechterverteilung und Schichtzugehörigkeit der „AuslĂ€nder“ sich von der Mehrheitsgesellschaft erheblich unterschieden. Diese Merkmale sind es aber, die in erster Linie fĂŒr die KriminalitĂ€tsbelastung bestimmend sind.

Die Rolle der Presse in diesem Zusammenhang haben wir an der Fachhochschule Frankfurt a. M. in den 1990er Jahren bei einem deutsch-französischen Forschungsprojekt exemplarisch untersucht. Ergebnis war, dass nicht nur Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot, sondern regelmĂ€ĂŸig auch KriminalitĂ€t mit der Zuwanderung und Anwesenheit von „Fremdethnischen“ in Verbindung gebracht wurde. Die Position einer Zeitung im politischen Spektrum entschied dabei ĂŒber den Grad der Stigmatisierung dieser Gruppen *).

Inzwischen ist in der Bundesrepublik kaum noch von hier lebenden „AuslĂ€ndern“ die Rede, sondern mehr von Menschen „mit Migrationshintergrund“. Das trĂ€gt der Tatsache der realen Einwanderung Rechnung. Der Begriff „AuslĂ€nderkriminalitĂ€t“ kam daher aus der Mode. Aber nach wie vor berichten die Medien – entgegen einer vom Presserat gesetzten Regel – gerne mehr oder weniger offen ĂŒber die ethnische Zugehörigkeit von TatverdĂ€chtigen, Angeklagten und Verurteilten. Es reicht ja oft schon der nicht deutsch klingende Vorname.

Seit einiger Zeit erscheinen nun in Zeitungen und Zeitschriften groß aufgemachte Artikel ĂŒber die KriminalitĂ€t bestimmter „Clans“. Gemeint sind damit nicht etwa betrĂŒgerische Machenschaften von Cliquen der Manager-Elite, wie beispielsweise bei den Cum/Ex-GeschĂ€ften. Auch nicht die GeschĂ€fte der italienischen Mafia, die es geschafft hat, in Deutschland RĂŒckzugsrĂ€ume einzurichten und weitgehend unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. Es geht vielmehr um aus dem Nahen Osten zugewanderte Großfamilien, von denen etliche Mitglieder Straftaten begehen, die dem Bereich der Organisierten KriminalitĂ€t zugerechnet werden können. Ihr Treiben sei – angeblich auch aus RĂŒcksicht auf den sonst eventuell erhobenen Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit – lange Zeit nicht genĂŒgend von Polizei und Gerichten verfolgt worden.

Umso sensationeller gestalten sich die Berichte ĂŒber neuerdings verstĂ€rkt stattfindende Polizeirazzien in diesem Milieu. Man kann den Eindruck gewinnen, dass an die Stelle des diskriminierenden Begriffs „AuslĂ€nderkriminalitĂ€t“ der scheinbar objektive der „Clan-KriminalitĂ€t“ getreten ist. Dieser kann aber eine Ă€hnliche Funktion erfĂŒllen: Er lĂ€sst organisiertes Verbrechen als ein „uns fremdes“ Problem von kulturell Fremden erscheinen.

Dass es bei der „Clan-KriminalitĂ€t“ keineswegs nur um TatbestĂ€nde geht, die nicht geleugnet werden können und sollen, zeigt eine Passage aus einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dort stand ĂŒber den MinisterprĂ€sidenten von NRW und Aspiranten auf den CDU-Vorsitz Armin Laschet zu lesen: „Laschet gilt als Muslimversteher, doch ins Innenministerium hat er sich den harten Hund Herbert Reul geholt, der einen Kreuzzug gegen kriminelle Clans fĂŒhrt“ (16. Februar 2020). Was hat das eine denn mit dem anderen zu tun? Und welche Assoziationen sollen hier mit dem Wort „Kreuzzug“ geweckt werden?

Nach den rassistischen Morden in Hanau hat die Rapperin Ebow, eine Deutsche kurdischer Herkunft, in einem Interview im Spiegel ĂŒber den TĂ€ter und die Tat gesagt: „Bevor sein Bekennerschreiben analysiert wurde, waren erst mal Clans in Verdacht. ZunĂ€chst wurde von ‚Shisha-Morden‘ gesprochen, genauso wie die Mordtaten des NSU anfangs ‚Döner-Morde‘ genannt wurden“ (Spiegel online, 24. Februar 2020). Diese versuchte TĂ€ter-Opfer-Umkehr gehört zur nicht nur bei deutschen Behörden, sondern auch bei grĂ¶ĂŸeren Teilen der deutschen Bevölkerung zu beobachtenden strukturellen Rechtsblindheit.

Dazu passt, dass Friedrich Merz, Mitbewerber fĂŒr den CDU-Vorsitz, auf die Frage nach seinen Konzepten zur BekĂ€mpfung der Gefahr von Rechts geantwortet hat, dass er „Themen wie Clan-KriminalitĂ€t und schĂ€rfere Grenzkontrollen stĂ€rker in den Fokus stellen wolle“ (Spiegel online, 25. Februar 2020).

In einem Artikel von Sanem Kleff und Benno Plassmann in der taz vom 27. Januar 2020 heißt es: „Razzien bei ‚Clans‘ vermitteln ein rassistisch geprĂ€gtes Bild von organisierter KriminalitĂ€t. DemokratiegefĂ€hrdend aber sind ganz andere Strukturen.“ Sowieso betreffe „der weitaus grĂ¶ĂŸte Teil bekannter FĂ€lle Gruppierungen, die von Deutschen dominiert waren.“ Der Lagebericht Organisierte KriminalitĂ€t des Bundeskriminalamts fĂŒr 2018 melde „6.483 TatverdĂ€chtige, von denen nur 7,2 Prozent als ‚Zuwanderer‘ erfasst wurden… Diese Gruppe TatverdĂ€chtiger wurde vom BKA erstmals gesondert erfasst, wobei als Symbol zur Kennzeichnung der Gruppe ausgerechnet das Piktogramm eines ĂŒberfĂŒllten FlĂŒchtlingsboots gewĂ€hlt wurde.“

Wenn es schon die Zahlen nicht hergeben, muss es wenigstens die Symbolik tun.

In einem Beitrag zum Thema „Clan-KriminalitĂ€t“ in der Zeitschrift Ossietzky  gibt Ulla Jelpke den Rat, man solle auch einmal ĂŒber deutsche Familienclans sprechen, die „durch Kolonialkriege, Kriegsproduktion und durch die Ausbeutung von Zwangsarbeit reich wurden. Sprechen wir beispielsweise einmal ĂŒber den Hohenzollern-Clan, der die Dreistigkeit besitzt, nun seine aufgrund seiner Kollaboration mit den Nazis enteigneten Schlösser zurĂŒckzufordern“ (Heft 4, 22. Februar 2020).

*) Vgl. Reiner Diederich / Lothar Kupp: Das Bild des Fremden in der Presse von Marseille und Frankfurt a. M., Forschungsbericht, Fachbereich Sozialarbeit der Fachhochschule Frankfurt am Main, 2000

Reiner Diederich
war bis 2006 Professor fĂŒr Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

 

Clan-KriminalitÀt in Vergangenheit und Gegenwart

In den Medien taucht in jĂŒngster Zeit vermehrt der Begriff „Clan-KriminalitĂ€t“ auf. Gemeint sind zumeist Strukturen der Organisierten KriminalitĂ€t, die sich personell aus Angehörigen ethnischer Minderheiten zusammensetzen. Diese kriminellen Strukturen gelten als extrem patriarchal organisiert und auf Grundlage eines anachronistischen Wertesystem handelnd. Das Eindringen von verdeckten Ermittlern in solche in sich abgeschotteten Clans gilt nach Auffassung von Kriminologen als außerordentlich schwierig.

Die Ursachen fĂŒr das Auftreten von Clan-KriminalitĂ€t in Deutschland werden zumeist in der seit den 1980er Jahren andauernden Migration aus dem nahöstlichen Raum ausgemacht. Im Zusammenhang mit Straftaten, die diesen kriminellen Clans zugeschrieben werden oder die nachweislich von ihnen verĂŒbt wurden, skandieren rechtsradikale Propagandisten mit ermĂŒdender RegelmĂ€ĂŸigkeit Parolen wie „Grenzen dicht!“, „Deutschland den Deutschen!“ und seit einiger Zeit auch „Merkel muss weg!“. Ist die Clan-KriminalitĂ€t in den entwickelten kapitalistischen Zentren aber tatsĂ€chlich ein Produkt der Globalisierung unserer Neuzeit – so wie sie sie von rechten Denkfabriken gern dargestellt wird? TatsĂ€chlich ist nur der Begriff neu, nicht aber das PhĂ€nomen selbst.

Wanderungen grĂ¶ĂŸerer Menschengruppen hat es schon immer gegeben. Organisiertes Verbrechen gibt es, seit Gesetze zur Regulierung wirtschaftlicher AktivitĂ€ten erlassen und durchgesetzt werden. Und Gruppen von Migrant*innen, zumal dann, wenn diese bewusst ausgegrenzt und diskriminiert werden, neigen naturgemĂ€ĂŸ dazu, in sich geschlossene Wirtschaftseinheiten auf der Basis ethnischer Herkunft oder religiösem Bekenntnis ihrer Akteure zu schaffen. In solchen Strukturen herrschen dann andere Regularien und Moralvorstellungen als in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Bei den von kriminellen Clans des 19. Jahrhunderts verĂŒbten Straftaten handelte es sich ĂŒbrigens zum großen Teil um ArmutskriminalitĂ€t. Nur selten schafften die AnfĂŒhrer solcher Clans den Sprung in die große GeschĂ€ftswelt. So etwas wurde dann erst im frĂŒhen 20. Jahrhundert möglich.

Gehen wir aber einmal zurĂŒck in das 19. Jahrhundert und greifen uns als Beispiel die USA heraus: heute eine kapitalistische Großmacht, damals ein aufstrebendes Entwicklungsland, welches gerade die einengenden ZwĂ€nge der britischen Kolonialherrschaft abgeschĂŒttelt hatte. Bekanntlich besteht die Bevölkerung der USA fast ausschließlich aus Migrant*innen und deren Nachkommen; der Anteil indigener Bevölkerungsgruppen ist extrem gering. Die USA gilt in ihrem SelbstverstĂ€ndnis als kultureller Schmelztiegel – danach nahmen die meisten nicht englischsprachigen Einwanderer*innen relativ schnell Sprache und Kultur der Bevölkerungsmehrheit an. Es lohnt sich allerdings, dieses SelbstverstĂ€ndnis kritisch zu hinterfragen.

Noch bei der ersten VolkszĂ€hlung des Jahres 1790 gaben etwa 80 Prozent der Bevölkerung des neugegrĂŒndeten Staates zur Frage ihrer nationalen Herkunft England, Schottland, Wales und Nordirland an. Zwar stammten schon damals grĂ¶ĂŸere Bevölkerungsgruppen aus Deutschland, Irland, den Niederlanden, Frankreich und Schweden. Die ganz großen MigrationsschĂŒbe aus nicht-englischsprachigen LĂ€ndern kamen jedoch erst danach ĂŒber den Großen Teich. Und diese Migrant*innen wurden von den bereits ansĂ€ssigen und integrierten Bevölkerungsgruppen keineswegs immer willkommen geheißen.

Die Ursachen fĂŒr die großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts waren in etwa dieselben, wie in unserer Gegenwart auch: Kriege, Hungersnöte, Massenarbeitslosigkeit, ausufernde staatliche Repression… Allein in den 1840er Jahren flĂŒchteten beispielsweise wegen einer Hungerkatastrophe etwa zwei Millionen Menschen aus dem britisch beherrschten Irland; etwa eine Million der Irininnen und Iren, die im Land geblieben waren, verhungerte. Mehrere Millionen Menschen verließen etwas spĂ€ter das von Wirtschaftskrisen und heftigen sozialen Unruhen geschĂŒttelte Königreich Italien. Allein von 1906 bis 1910 ließen sich etwa zwei Millionen Italiener in den USA nieder. Die Ankömmlinge aus diesen ĂŒberwiegend katholischen LĂ€ndern bildeten fĂŒr lange Zeit Parallelgesellschaften in den protestantisch dominierten USA. Die Mafia-Netzwerke, welche ihre Wurzeln in der italienischen Einwanderung hatten, sind legendĂ€r und bilden bis in unsere Gegenwart hinein den historischen Hintergrund fĂŒr zahlreiche gelungene oder auch weniger gut gelungene Hollywoodfilme.

Das Schicksal der ArmutsflĂŒchtlinge aus Irland ist hingegen kaum ins öffentliche Bewusstsein unserer Gegenwart eingegangen. Diese Bevölkerungsgruppe war im 19. Jahrhundert heftig diskriminiert, bildete lange Zeit den Bodensatz der US-Gesellschaft. Die Mehrzahl der bettelarm ankommenden Iren war weder gewillt noch verfĂŒgten sie ĂŒber die finanziellen Mittel, sich irgendwo im Landesinneren eine bĂŒrgerliche Existenz aufzubauen. In den HafenstĂ€dten an der OstkĂŒste der USA bildeten sich demzufolge fast ausschließlich irisch bewohnte Armutsviertel, die von kriminellen Banden beherrscht wurden. In Ă€hnlich abgeschlossenen Wohnvierteln hausten damals ĂŒbrigens auch andere ethnische Minderheiten. Nach den Iren waren die Einwanderer aus den deutschen Kleinstaaten und aus der Schweiz die zweitgrĂ¶ĂŸte NationalitĂ€t. Von einem multikulturellen „Schmelztiegel“ konnte damals zumindest an der OstkĂŒste der USA keine Rede sein. Vor allem die Stadt New York wurde Schauplatz mittels brutaler Gewalt ausgetragener Bandenkriege, regelmĂ€ĂŸig flankiert von HungeraufstĂ€nden, Krawallen und PlĂŒnderungen wohlhabender Viertel.

Banden irischer Elendsmigrant*innen bekĂ€mpften einander, schlossen aber auch BĂŒndnisse gegen andere Banden, die sich entweder aus Einheimischen oder aber aus Angehörigen anderer Minderheiten rekrutierten. Die Bevölkerung der irisch dominierten Wohnviertel stĂŒtzte sich auf die Bandenstrukturen, um sich gegen Angriffe von Polizei und Nationalgarde zur Wehr setzen zu können. Die Banden waren aber auch tragende Kraft bei rassistischen Pogromen, die sich hauptsĂ€chlich gegen Angehörige der afroamerikanischen Minderheit richteten.

In die Geschichte eingegangen sind vor allem die „Draft Riots“ von 1863, ein Aufstand der irischen Bevölkerungsgruppe der Stadt New York, der sich gegen die wĂ€hrend des US-amerikanischen BĂŒrgerkrieges dekretierte EinfĂŒhrung der Wehrpflicht richtete. Die MilitĂ€rfĂŒhrung der Nordstaaten musste damals mehrere Regimenter von der Front abziehen, um die in der Stadt ausufernde Gewalt samt PlĂŒnderungen beenden zu können. Der 2002 produzierte und mehrfach ausgezeichnete Monumentalfilm „Gangs of New York“ (Regie: Martin Scorsese) spielt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse. Das Drehbuch benutzte als Quelle das gleichnamige Buch des US-amerikanischen Kriminalhistorikers Herbert Asbury.

Was aber war die ökonomische Basis dieser Bandenherrschaft? Wie Asbury in seinem Buch beschreibt, erhoben die BandenfĂŒhrer Schutzgelder von den in solch abgeschotteten Vierteln wie Pilze aus dem Boden schießenden Kneipen, Tanzlokalen, Spielhöllen, Schnapsbrennereien und Bordellen oder aber sie betrieben solche Unternehmen selbst. Da die Staatsmacht in den von Banden beherrschten Vierteln faktisch ohnmĂ€chtig war, bezahlten die in ihnen aktiven Unternehmen keine oder fast keine Steuern und Abgaben, brauchten sich beim Betreiben ihrer Einrichtungen auch an keinerlei öffentliche Vorgaben und Regularien zu halten. Die Banden profitierten also von den von ihnen selbst geschaffenen rechtsfreien RĂ€umen.

Wie es in Asburys Buch weiter heißt, konnten sie aber auch deshalb weitgehend ungestört agieren, weil maßgebliche Politiker der damals in den USA in Entstehung begriffenen Parteienlandschaft sich von den kriminellen Netzwerken Vorteile erhofften und BĂŒndnisse mit den wichtigsten BandenfĂŒhrern geschlossen hatten. Besonders heftig bekĂ€mpften die irischen Banden damals Gegner der Sklaverei, da sie – nicht ganz zu Unrecht – im Falle einer allgemeinen Sklavenbefreiung einen Zustrom von Afroamerikanern aus den SĂŒdstaaten in die bisher von ihnen kontrollierten StĂ€dte des Nordens befĂŒrchteten. Die BandenfĂŒhrer organisierten im Auftrag von Politikern, die eine Abschaffung der Sklaverei ebenfalls ablehnten, Stimmenkauf und ganz unverfrorene WahlfĂ€lschungen. Im Gegenzug versprachen Politiker den Banden, sich fĂŒr die schnellstmögliche EinbĂŒrgerung der von ihnen reprĂ€sentierten Einwanderergruppen einzusetzen.

ZusĂ€tzlich zum Erheben von Schutzgeldern und dem Betreiben illegaler Einrichtungen kam in den von Banden beherrschen Gebieten natĂŒrlich noch die ganz normale StraßenkriminalitĂ€t hinzu: Diebstahl, Raubmord, Piraterie, Schmuggel, Einbruch, Hehlerei
 Die Staatsgewalt reagierte auf die zunehmende Rechtsunsicherheit damit, dass auf frischer Tat ertappte StraftĂ€ter oft nach einem eher kurzen Prozess sofort gehĂ€ngt wurden. Wie Asbury schreibt, wurden allein im Jahre 1860 in der Stadt New York mehr als 58.000 Personen wegen verschiedener Verbrechen verurteilt; etwa 80 Prozent von ihnen waren nicht in den USA geboren (Asbury, Seite 147).

Bei den bereits genannten „Draft Riots“ des Jahres 1863 brauchte das MilitĂ€r der Nordstaaten vier Tage, um die in New York ausufernden PlĂŒnderungen und Gewalttaten zu beenden. Bei den Unruhen sollten etwa 2000 Menschen ums Leben gekommen sein; 100 GebĂ€ude wurden niedergebrannt, 200 geplĂŒndert und verwĂŒstet (Asbury, Seite 203). Wie Asbury in seinem Buch meint, flauten die Bandenkriege dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab, ganz beendet wurden sie aber erst um das Jahr 1910. Dies ist kein Zufall.

Die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges massiv expandierende fordistische Industrieproduktion (Fließbandfertigung) entwickelte vorĂŒbergehend einen Riesenhunger nach ArbeitskrĂ€ften. Die Einbeziehung der Bevölkerung der bisher weitgehend abgeschotteten Einwandererviertel in die Fabrikarbeit erreichte in vergleichsweise kurzer Zeit genau das, was zuvor weder Schnellgerichte noch knĂŒppelschwingende Polizeitrupps und schießwĂŒtige Nationalgardisten vermocht hatten: das Ende der kriminellen Clans. Die in sich abgeschotteten FamilienzusammenhĂ€nge lockerten sich. Die neu heranwachsende Generation ergriff ihre Chance und verließ die Armutsghettos. Schutzgelderpresser mutierten zu Polizeibeamten, BandenfĂŒhrer zu vermeintlich seriösen GeschĂ€ftsleuten, Kleinkriminelle zu gewerkschaftlich organisierten Fließbandarbeitern.

Die US-Gesellschaft war dann zumindest in ihren Industrieregionen an der Ost- und WestkĂŒste mehrere Jahrzehnte lang wirklich der kulturelle Schmelztiegel, als der sie sich bis heute gern prĂ€sentiert. Ähnlich verlief die Entwicklung ĂŒbrigens auch in anderen Industriestaaten. Bei zahlreichen Einwohnern des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erinnert heute noch der polnisch klingende Namen daran, dass es sich um Nachfahren von Bergleuten aus Schlesien handelt, die man ab der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts in das damals wirtschaftlich florierende Ruhrgebiet geholt hatte.

Woraus resultiert nun aber die in unserer Gegenwart unĂŒbersehbare Wiederauferstehung von Armutsvierteln in den StĂ€dten samt sich darin entwickelnder Clan-KriminalitĂ€t? Ist sie das Ergebnis der gnadenlosen Durchrationalisierung von Industrieproduktion durch neoliberal geschultes Management wĂ€hrend der letzten Jahre und Jahrzehnte? Ist es die weltweite Zunahme industriell betriebener Agrarproduktion inklusive massivem ArbeitskrĂ€fteabbau? Ist es das absehbare Ende der Expansion des Kapitalismus, welcher sich mittlerweile auch auf die allerletzten Regionen unseres Planeten ausgebreitet hat? Ist es der Zusammenbruch von Versuchen nachholender Modernisierung in zahlreichen Staaten Afrikas und Asiens? Oder all das zusammen? Oder ist es schlicht das Fehlen von Verteilungsgerechtigkeit unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens?

Im verqueren Weltbild von derzeit (leider) im Aufwind befindlichen rechtsradikalen Politaktivisten kommt dergleichen natĂŒrlich alles nicht vor. Von diesen propagierte Rezepturen gegen die unbestreitbare zunehmende Clan-KriminalitĂ€t sind nichts als eine Neuauflage von all dem, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Sachen staatlicher Repression ausprobiert wurde, letztlich kaum etwas bewirkt hat und auch nichts hĂ€tte bewirken können.

Es ist ĂŒbrigens bezeichnend, dass es sich bei den rechtsradikalen Politaktivisten in Deutschland nicht selten um vorbestrafte Kleinkriminelle handelt – bekannte Figur: der PEGIDA-GrĂŒnder Lutz Bachmann. Und vor einiger Zeit konnten findige Journalisten ermitteln, dass ausgerechnet die sich als Ordnungspartei, als Interessenvertreterin von Polizei und MilitĂ€r prĂ€sentierende AfD selbst ein Problem in Sachen KriminalitĂ€t hat: Der Anteil von vorbestraften MandatstrĂ€gern ist bei ihr nachweislich wesentlich höher, als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien (Kock / MĂŒller). Dies mag verwundern, aber nur auf den ersten Blick. Gewesene oder Noch-Beamte sind auch nur Menschen und demzufolge fĂŒr Straftaten anfĂ€llig. Und die Geschichte hat gezeigt, dass sich in repressiven Diktaturen deren fĂŒhrende ReprĂ€sentanten oftmals ganz ungeniert die Taschen vollstopften.

In der Bundesrepublik wurde bisher mehr oder auch weniger erfolgreich versucht, einer beginnenden Ghettoisierung von Minderheiten gegenzusteuern, kriminellen Clans so den Boden zu entziehen oder ihren Vormarsch zumindest auszubremsen. FĂŒr die im ebenfalls Vormarsch befindliche Rechte sind Sozialprojekte zur Förderung von Angehörigen ethnische Minderheiten hingegen ein Werk des Teufels. Nachgewiesene FĂ€lle von Clan-KriminalitĂ€t werden dahingehend instrumentalisiert, solche Förderungen ganz zu streichen.

Es handelt sich bei der Ideologie rechter Parteien und zunehmend auch von Politikern der sogenannten bĂŒrgerlichen Mitte schlicht um die Propagierung von VerteilungskĂ€mpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um knapper werdende Soziallleistungen. Der RĂŒckblick auf in der Vergangenheit tobende Bandenkriege zeigt, zu was fĂŒr ZustĂ€nden die Umsetzung einer solchen Ideologie letztlich fĂŒhren kann.

 

Verwendete Literatur

Herbert Asbury: „Gangs of New York“, Wilhelm Heyne Verlag, MĂŒnchen 2003

Alexej Kock / Uwe MĂŒller: „Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete hat Ärger mit dem Gesetz“, in: „Die Welt“ vom 6. Mai 2018

Gerd Bedszent
lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

Sozialer Status und Existenzsicherung in Zeiten der Pandemie

Um „die Wirtschaft“ abzusichern, werden Milliardenpakete geschnĂŒrt und ZuschĂŒsse sowie billige Kredite an Unternehmen verteilt. Die Armen aber mĂŒssen warten. Seit Beginn der Ausbreitung des Coronavirus haben sich deshalb Gruppen und Organisationen, die sich fĂŒr Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen einsetzen, zu Wort gemeldet, die sich abzeichnende Notsituation Betroffener gegenĂŒber Politik und Öffentlichkeit geschildert und sozialpolitische Forderungen erhoben.

Der Erwerbslosenverein Tacheles e.V. veröffentlichte bereits am 21. MĂ€rz 2020 „29 VorschlĂ€ge“, die zum Teil sofort oder aber nach vorheriger GesetzesĂ€nderung umgesetzt werden könnten, um die Versorgung aller einkommensschwacher Haushalte sicherzustellen. Um Preissteigerungen und Mehrkosten (Schließung vieler Tafeln) zu kompensieren, wird beispielsweise eine Einmalzahlung in Höhe von 500 Euro fĂŒr alle Beziehenden von Grundsicherung, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungen, Wohngeld oder einer niedrigen Rente vorgeschlagen. Daneben sollte wĂ€hrend der laufenden Coronakrise der jeweilige Regelbedarf dieser Gruppen temporĂ€r um einen Zuschlag von 100 Euro erhöht werden. Damit könnten anfallende Mehrkosten fĂŒr gesundes, vitaminreiches Essen abgefedert und die wegfallende kostenlose Essensversorgung von Kindern wegen Kita- und Schulschließungen ersetzt werden. Außerdem wĂ€ren zu erwartende steigende Lebensmittelpreise auszugleichen.

Der ParitĂ€tische Wohlfahrtsverband fordert laut Pressemitteilung vom 31. MĂ€rz 2020 ebenfalls „eine sofortige Erhöhung der RegelsĂ€tze in der Grundsicherung um 100 Euro pro Monat und Haushaltsmitglied, um insbesondere eine ausgewogene ErnĂ€hrung sicherzustellen“. ZusĂ€tzlich hĂ€lt er eine Einmalzahlung von 200 Euro fĂŒr coronakrisenbedingte Mehraufwendungen fĂŒr notwendig (etwa fĂŒr Arzneimittel oder zur Begleichung erhöhter Energiekosten).

Auch fĂŒr den Politologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge wirkt sich die Corona-Krise nicht allein auf die Immunschwachen, sondern ebenfalls auf die Einkommensschwachen fatal aus. So verweist er darauf, dass die Einnahmen von Bettler*innen, Pfandsammler*innen und VerkĂ€ufer*innen von Straßenzeitungen sinken wĂŒrden, da die Straßen wegen der Infektionsgefahr leergefegt seien und alle Leute eine Infektion fĂŒrchteten. Damit, so Butterwegge, werde die ohnehin brĂŒchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört. Deshalb fordert auch er einen Rettungsschirm fĂŒr die AllerĂ€rmsten. Konkret erwarte er einen „ErnĂ€hrungszuschlag“ von monatlich 100 Euro fĂŒr Hartz-IV-Bezieher*innen sowie EmpfĂ€nger*innen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Über 940 gemeinnĂŒtzige Tafeln in Deutschland sammeln ĂŒberschĂŒssige Lebensmittel von HĂ€ndlern bzw. Herstellern und verteilen diese regelmĂ€ĂŸig an mehr als 1,6 Millionen bedĂŒrftige Menschen. Über 400 davon wurden bis Ende MĂ€rz 2020 wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Auch die Dachorganisation der politisch durchaus umstrittenen Tafelbewegung, die Tafel Deutschland e.V., forderte in einem Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil unter anderem eine vorĂŒbergehende Erhöhung der ALG-II-SĂ€tze.

Die Folgekosten der Corona-Krise könnten sich auch fĂŒr Teile der Mieterschaft dramatisch entwickeln. Unter dem Eindruck der akuten Krisenlage verbesserte die Bundesregierung zwar den KĂŒndigungsschutz fĂŒr Mieter*innen. Danach dĂŒrfen coronabedingte MietrĂŒckstĂ€nde aus dem Zeitraum von April bis Juni 2020 nicht zu KĂŒndigungen der Wohnungen fĂŒhren. Die entstandenen Mietschulden mĂŒssen jedoch bis Juli 2022 beglichen werden, zuzĂŒglich etwa vier Prozent Zinsen. Die Regelung bedeutet also lediglich eine Verschiebung der Mietzahlungen fĂŒr Betroffene der Krise, jedoch keinen Erlass. Am 27. MĂ€rz 2020 veröffentlichten deshalb mehr als 150 Wissenschaftler*innen einen offenen Brief „zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, in dem die alleinige Übernahme der angefallenen Mietschulden durch die Immobilienwirtschaft als Folgekosten der Pandemie gefordert wird. Neben einem sofortigen Moratorium von KĂŒndigungen, ZwangsrĂ€umungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren fĂŒr Wohn- und Gewerbemieter*innen wird zudem die Unterbringung Wohnungs- und Obdachloser in Hotels und leeren Wohnungen gefordert.

Mit der Mitteilung vom 7. April 2020 schließt sich ein Zusammenschluss mehrerer sozialer Organisationen (FlĂŒchtlingsrat Berlin, BĂŒndnis solidarische Stadt, Wohnungslosenparlament u.a.) diesen Forderungen an und stellt fest:

“WĂ€hrend zahlreiche Maßnahmen zur KontaktbeschrĂ€nkung zum Schutz vor dem Coronavirus verordnet werden, leben zehntausende Menschen in Berlin in GeflĂŒchteten-, Wohnungslosen- und ObdachlosenunterkĂŒnften, auf engstem Raum in Mehrbettzimmern, mit GemeinschaftsbĂ€dern und/oder GemeinschaftskĂŒchen (…) Kontakt- und Abstandsverbote einzuhalten ist in dieser Situation unmöglich. Hinzu kommen mehrere tausend obdachlos auf der Straße lebende Menschen, die sich so gut wie gar nicht vor dem Virus schĂŒtzen können.“

Deshalb setzen sich die Organisationen fĂŒr die umgehende Unterbringung aller Wohnungs- und Obdachlosen in Wohnungen, leerstehenden Hotelzimmern und Ferien- oder Businessappartements ein und fordern die Auflösung von MassenunterkĂŒnften, in denen der Infektionsschutz nicht umsetzbar ist.

Quellen:

„Tacheles ‒ VorschlĂ€ge zum Umgang mit der Corona-Krise fĂŒr einkommensschwache Haushalte. Ein umfassendes Forderungspaket an die Politik und Verwaltung, 21. MĂ€rz 2020

https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2626/

„Corona-Krise: ParitĂ€tischer fordert Notprogramm fĂŒr Menschen in Hartz IV“, Pressemeldung vom 31. MĂ€rz 2020

https://www.der-paritaetische.de/presse/corona-krise-paritaetischer-fordert-notprogramm-fuer-menschen-in-hartz-iv/

Christoph Butterwegge: „Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie“, 8. April 2020

https://www.blickpunkt-wiso.de/post/weniger-ungleichheit-durch-die-corona-krise-wirtschaftliche-und-soziale-folgen-der-pandemie–2362.html

Thoralf Cleven: „Armutsforscher fordert ‚Rettungsschirm fĂŒr die AllerĂ€rmsten‘“, 31. MĂ€rz 2020

https://www.rnd.de/politik/armut-in-der-corona-krise-armutsforscher-fordert-rettungsschirme-fur-die-allerarmsten-XV6L5CYRD5FV3KRUFBCPJHQ7TQ.html

„Immobilienwirtschaft an den Kosten der Corona-Krise beteiligen. Offener Brief von Wissenschaftler*innen zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, 27. MĂ€rz 2020

https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/announcement/view/72

„Tafeln fordern stĂ€rkere Hilfen fĂŒr arme Menschen in der Corona-Krise“, Pressemitteilung der Tafel Deutschland e.V. vom 30. MĂ€rz 2020

https://www.tafel.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2020/tafeln-fordern-staerkere-hilfen-fuer-arme-menschen-in-der-corona-krise/

„Menschenleben schĂŒtzen! MassenunterkĂŒnfte auflösen! Wohnungen statt Lager!“

Gemeinsame Pressemitteilung von We’ll Come United Berlin und Brandenburg, AK Wohnungsnot, Unter Druck e.V., Women in Exile, Selbstvertretung wohnungsloser Menschen/Wohnungslosentreffen, Wohnungslosenparlament, BĂŒndnis solidarische Stadt, FlĂŒchtlingsrat Berlin e.V., 7. April 2020

https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/07-04-2020-menschenleben-schuetzen-massenunterkuenfte-aufloesen-wohnungen-statt-lager/

 

 

Fehlender Gesundheitsschutz beim Krisengewinner Amazon

Zu den grĂ¶ĂŸten ökonomischen Gewinnern der Corona-Pandemie gehören die großen amerikanischen internetbasierten Konzerne. Von der Verlagerung des Konsums in den Onlinehandel profitiert vor allem Amazon. Der Online-Konzern kĂŒndigte deshalb an, allein in den USA 100.000 neue Mitarbeiter*innen einzustellen (aktuell beschĂ€ftigt das Unternehmen dort rund 800.000 Menschen). Zugleich wĂ€chst aber die Wut der BeschĂ€ftigten ĂŒber die Arbeitsbedingungen. Weltweit protestieren Angestellte des Unternehmens gegen einen offensichtlich mangelhaften Schutz vor Infektionen am Arbeitsplatz, also in den großen Hallen, in denen zum Teil Tausende Menschen mit dem Verpacken und Verschicken von Waren beschĂ€ftigt sind.

Ein Lagerarbeiter in New York hatte deshalb einen spontanen Streik mitorganisiert und wurde aus diesem Anlass Ende MĂ€rz dieses Jahres entlassen. Die Reaktion des Konzerns erwies sich allerdings als PR-Desaster, denn sowohl der BĂŒrgermeister Bill de Blasio als auch die zustĂ€ndige GeneralstaatsanwĂ€ltin zeigten sich verĂ€rgert. De Blasio gab bekannt, dass er eine Untersuchung des Vorfalls durch den Menschenrechtsbeauftragten der Stadt angeordnet habe; die StaatsanwĂ€ltin bezeichnete die Entlassung als „unmoralisch und unmenschlich“. (Wirtschaftswoche, 1. April 2020)

Auch in Deutschland stehen die Arbeitsbedingungen bei Amazon in der Kritik. Die taz berichtet, dass viele Angestellte an einzelnen Standorten mit Bussen zur Arbeit gefahren wĂŒrden. An den Haltestellen und in den Bussen ließen sich Kontakte zwischen den oft dicht an dicht gedrĂ€ngt stehenden Menschen kaum vermeiden. Am Arbeitsplatz sei der Mindestabstand zwischen den BeschĂ€ftigten nicht einhaltbar. Eine Mitarbeiterin wirft dem Management vor, dieses wĂŒrde sich aus der Verantwortung stehlen, „schön sicher in ihrem Homeoffice, wĂ€hrend sich das Fußvolk infiziert“. (taz, 3. April 2020)

Andreas Gangl, BeschĂ€ftigter bei Amazon in Bad Hersfeld und Gewerkschaftsaktivist, fordert deshalb wie viele seiner Kolleg*innen, das Lager dort komplett zu schließen und die Leute bezahlt freizustellen. Bad Hersfeld sei letztlich nicht versorgungsrelevant: „Wegen Klamotten und Alkohol muss man nicht weiterarbeiten.“ (SoZ 03/2020)

Die taz beschreibt die wirtschaftliche Bedeutung des Konzerns: “Wie kaum ein anderes Unternehmen profitiert Amazon von der Coronakrise. Insgesamt 13 Logistikzentren mit mehr als 13.000 festangestellten Mitarbeiter*innen gibt es in Deutschland. Allein in den vergangenen zwei Wochen hat der Konzern weltweit rund 10 Milliarden Dollar Gewinn erzielt, die Amazon-Aktie ist mitten in einer der schwĂ€rzesten Börsenzeiten um 15 Prozent in die Höhe geschnellt. (…)

Das Vermögen von Amazon-GrĂŒnder Jeff Bezos liegt nach aktueller SchĂ€tzung bei 119,9 Milliarden US-Dollar. Tendenz: steigend. Allein der deutsche Ableger von Amazon hat im zweiten Halbjahr 2019 einen Umsatz von 15,6 Milliarden Euro erzielt. Theoretisch könnte der HĂ€ndler den Versand von nicht systemrelevanten Produkten bis zum Ende der Pandemie einstellen – und so eine weitere Verbreitung des Virus unter Mitarbeitenden eindĂ€mmen. Doch niemand hat an der Coronakrise bislang mehr verdient als der reichste Mann der Welt.“ (taz, 3. April 2020)

Quellen:

„Amazon gerĂ€t wegen KĂŒndigung von Streik-Organisator unter Druck“, WirtschaftsWoche, 1. April 2020

https://www.wiwo.de/unternehmen/handel/online-haendler-amazon-geraet-wegen-kuendigung-von-streik-organisator-unter-druck/25702256.html

Sarah Ulrich: „Die Angst geht um: Amazon-Mitarbeiter in Coronakrise“, taz, 3. April 2020

https://taz.de/Amazon-Mitarbeiter-in-Coronakrise/!5673469/

„Corona Prime bei Amazon. Damit das GeschĂ€ft lĂ€uft“, GesprĂ€ch mit Andreas Gangl, SoZ 03/2020

https://www.sozonline.de/2020/03/corona-prime-bei-amazon/

 

 

Gegen Demokratieabbau in der Corona-Krise

In den letzten Wochen wurden mit Blick auf den Gesundheitsschutz im politischen Schnellverfahren elementare Grundrechte außer Kraft gesetzt oder massiv eingeschrĂ€nkt. LobbyControl e.V. verweist in aktuellen BeitrĂ€gen darauf, dass die Corona-Krise die Gefahr in sich berge, gesellschaftliche Machtungleichgewichte zu verstĂ€rken und soziale Spaltungen zu vergrĂ¶ĂŸern. „Uns treibt dabei die Frage um: Wer nimmt Einfluss auf die Lastenverteilung in der Krise – und wer profitiert am Ende davon? Wir wollen in dieser schwierigen Zeit einmal mehr verhindern, dass finanzstarke Lobbygruppen politische Entscheidungsprozesse einseitig verzerren oder ausnutzen. Deswegen brauchen wir Transparenz, Ausgewogenheit und eine breite Beteiligung in politischen Entscheidungsprozessen.“

Insbesondere mĂŒssten die eingefĂŒhrten GrundrechtseinschrĂ€nkungen laufend ĂŒberprĂŒft und hinsichtlich RechtmĂ€ĂŸigkeit und VerhĂ€ltnismĂ€ĂŸigkeit kritisch diskutiert werden. Das Ziel des Schutzes der Gesundheit der Menschen sei gegen die EinschrĂ€nkungen von Freiheitsrechten sorgsam abzuwĂ€gen und einschrĂ€nkende Maßnahmen seien zeitlich klar zu befristen.

In bisher zwei Ausgaben der „Lobby-News rund um Corona“ bietet LobbyControl auf seiner Webseite ausgewĂ€hlte Artikel und Kommentare zur aktuellen Krisensituation. 

Quelle:

LobbyControl, „Lobbyismus und Demokratie in der Corona-Krise“, 3. April 2020

(https://www.lobbycontrol.de/2020/04/lobbyismus-und-demokratie-in-der-corona-krise/?pk_source=nl&pk_campaign=20200403)

 

 

„Sabotage durch Verfahren“

 Die Folgen des Coronavirus bekommt auch die Reiseplattform Airbnb deutlich zu spĂŒren. So erwarten Experten, dass viele EigentĂŒmer Wohnungen, die sie bislang entweder direkt an Touristen oder aber an das Unternehmen vermietet haben, wieder in regulĂ€re Mietwohnungen umwandeln. Die Erlöse von Airbnb sollen deshalb in den Monaten Februar und MĂ€rz dieses Jahres regelrecht eingebrochen sein. Die Hoffnung, dass der Virus das Problem der kriminellen Zweckentfremdung von Wohnraum fĂŒr immer beseitigt, dĂŒrfte sich jedoch als trĂŒgerisch erweisen. Denn nach dem Ende der Krise wird das GeschĂ€ftsmodell der Onlineplattformen wohl wieder volle Fahrt aufnehmen.

Die Politik bleibt also am Zug – und versagt weitgehend bei der mieterfreundlichen Regulierung des Wohnungsmarkts. So sind seit dem August 2018 im Bundesland Berlin VerstĂ¶ĂŸe gegen das Zweckentfremdungsverbotsgesetz, mit dem der Leerstand und die Überlassung von Wohnungen als Ferienapartments reduziert werden soll, bußgeldbewehrt. Die Umsetzung des Gesetzes aber bleibt weitgehend wirkungslos. „Nach Untersuchungen des rbb und des Tagesspiegel sind rund 85% aller Angebote nicht bei den BezirksĂ€mtern registriert worden und somit illegal. Bei vielen Anwohner/innen wĂ€chst der Frust ĂŒber die Tolerierung von Zweckentfremdung und Leerstand. BĂŒrgerhinweise versanden in Schubladen, die Arbeit der zustĂ€ndigen Amtsstellen ist alles andere als transparent“, schreibt etwa das Berliner MieterEcho Anfang des Jahres.

Dass es kaum gelingt, mit dem Gesetz zweckentfremdete Wohnungen auf den Wohnungsmarkt zurĂŒckzufĂŒhren, liegt in erster Linie an der teils völlig ĂŒberlasteten Verwaltung in den zustĂ€ndigen Bezirken der Hauptstadt. Die fĂŒr Recherchen und Vor-Ort-Kontrollen zustĂ€ndigen Fachabteilungen sind personell stark unterbesetzt, so dass die geforderte Anmeldepflicht der zeitweise an Touristen vermieteten Wohnungen kaum ĂŒberprĂŒft werden kann. Zudem fehlt es den Bezirken offenbar am Mut, die vorgesehenen Ordnungsgelder (die bis zu 500.000 Euro betragen können) im Falle von VerstĂ¶ĂŸen tatsĂ€chlich zu verhĂ€ngen.

Die gleichen Defizite zeigen sich bei der Durchsetzung der Regelungen des seit 1990 geltenden Wohnungsaufsichtsgesetzes. Die Bezirke sollen unter anderem prĂŒfen, wo in Berlin EigentĂŒmer ihre Wohnungen vernachlĂ€ssigen und sie verfallen lassen. FĂŒr die knapp 1,5 Millionen Mietwohnungen in der Stadt sind in den Verwaltungen der zwölf Bezirken zurzeit nur etwas mehr als 20 Stellen vorhanden, deren Inhaber die notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen von Immobilien auf ihre Umsetzung zu kontrollieren haben. In einigen Bezirken steht offensichtlich nur ein Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin fĂŒr die Kontrolle von jeweils ĂŒber 100.000 Wohnungen bereit. „Es scheint wie so oft in Berlin: Die Regeln sind da, aber die Personalausstattung ist nicht bereit dafĂŒr.“ (Tagesspiegel, 1. Februar 2020)

Auch bei der Umsetzung des viel diskutierten Mietendeckels in Berlin werden den bezirklichen WohnungsĂ€mtern wichtige Aufgaben ĂŒbertragen. Dazu gehört vor allem die Überwachung der Einhaltung der Mietobergrenzen und das Feststellen von Ordnungswidrigkeiten bei VerstĂ¶ĂŸen gegen die gesetzlichen Bestimmungen. Einzelne bezirkliche WohnungsĂ€mter werden von StadtrĂ€ten geleitet, die der CDU bzw. der AfD angehören – von Parteien also, die den Mietendeckel fĂŒr verfassungswidrig halten, „so dass es mit dem Willen zu seiner Durchsetzung nicht weit her sein dĂŒrfte“. (MieterEcho MĂ€rz 2020)

Gesetzliche Regelungen und Verordnungen bieten der Exekutive durchaus Möglichkeiten, gerade gegen kriminelle Akteure in der Wohnungswirtschaft und darĂŒber hinaus effektiv vorzugehen. Aber der politische Wille dazu fehlt vielfach. Deshalb wird in einer Metropole wie Berlin, in der sich börsennotierte Wohnungskonzerne und international agierende Wohnraumvermittler tummeln, die Durchsetzung vieler rechtlicher Normen den Bezirken als dezentrale Einheiten aufgebĂŒrdet. Zum Teil geschieht dies gegen den erklĂ€rten Willen der zustĂ€ndigen BezirksbĂŒrgermeister*innen, die sehr genau wissen, dass sie Regularien umzusetzen haben, die materiell nicht ausreichend unterfĂŒttert sind (unzureichendes Fachpersonal und IT-KapazitĂ€ten).

Ein weiteres prominentes Beispiel verdeutlicht, wie die Substanz eines Gesetzes durch das perfide Agieren der zustĂ€ndigen Landesregierung unterlaufen wird. Mitte des vergangenen Jahres ĂŒbergaben Aktivisten dem Berliner Senat 77.000 Unterschriften, die fĂŒr das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ gesammelt worden waren. Durch einen anschließenden Volksentscheid sollen etwa 240.000 Wohnungen von Immobilienkonzernen vergesellschaftet werden. Die rechtliche PrĂŒfung des Volksbegehrens ist jedoch immer noch beim Innensenator anhĂ€ngig – bereits seit mehr als acht Monaten. Der Publizist Matthias Greffrath nannte dieses taktische Verhalten der Berliner Regierung treffend „Sabotage durch Verfahren“.

Quellen:

Sha Hua, Astrid Dörner u.a.: „Wohnungsmarkt ist vorlĂ€ufig außer Betrieb“, Handelsblatt, 28. MĂ€rz 2020

„Umsatz von Airbnb halbiert sich“, SPIEGEL Online, 24. MĂ€rz 2020

Heiko LindmĂŒller: „Zweckentfremdungsverbot: Ein zahnloser Tiger?“, MieterEcho, Januar 2020, Seite 19

Philipp Möller: „Wildwest in den Bezirken“, MieterEcho, MĂ€rz 2020, Seite 14

Julius Betschka: „Warum Berliner Bezirke an der Wohnungsaufsicht scheitern“, Tagesspiegel, 1. Februar 2020

Mathias Greffrath: „Saisonschluss“, Deutschlandfunk: Essay und Diskurs, 15. Dezember 2019

 

Der Autor
Joachim Maiworm
ist Redakteur von BIG Business Crime