„Die Grundform der Herrschaft ist das Racket“, schrieb Max Horkheimer um 1939/40 in einem Textentwurf zur „Dialektik der Aufklärung“. Er entlehnte diesen Begriff der US-amerikanischen Soziologie und bezeichnete damit rivalisierende hierarchisch organisierte Gruppen, die ihren Mitgliedern Schutz nach innen bieten, zugleich aber bedingungslose Loyalität von ihnen fordern. Synonyme sind Clique, Bande oder Gang. Horkheimer und seine Kollegen vom exilierten Institut für Sozialforschung gingen davon aus, dass sich mit dem Ende der liberalistischen Phase des Kapitalismus ein zunehmender ökonomischer Monopolisierungsprozess auf Kosten der Konkurrenz auf dem freien Markt durchgesetzt hatte. Die Sphäre der Zirkulation als Fundament bürgerlicher Demokratie büßte demnach an Bedeutung ein und die Instanzen der Vermittlung (z.B. das Recht) wurden durch Formen unmittelbarer Herrschaft ersetzt.
Gemäß dieser Prämisse verdrängten informelle und gewaltförmig-mafiotische Strukturen mehr und mehr die rechtsstaatlichen Mechanismen und setzten sich in jeder Pore des gesellschaftlichen Lebens fest. Die ganze Gesellschaft, so fasst Thorsten Fuchshuber Horkheimers Überlegungen zusammen, erweise sich sowohl historisch wie auch in der Gegenwart als durch die Gewalt der Rackets bestimmt (vgl. Seite 16).
Dieser universelle, zeitenthobene Ansatz erschließt sich aber heute – mehr als 80 Jahre später – nicht mehr vorbehaltlos. Denn das Besondere unterschiedlicher Formen von Herrschaft geht verloren, wenn sie allesamt unter der Bezeichnung des Rackets subsumiert werden und damit die begriffliche Schärfe schwindet. Andererseits jedoch bietet sich gerade die Offenheit des Racket-Begriffs für zeitgenössische Diagnosen von informeller und autoritärer Herrschaft an.
Fuchshuber bietet deshalb zunächst eine theoriegeschichtliche Einordnung der letztlich Fragment gebliebenen Racket-Theorie, um sie innerhalb des politischen und gesellschaftlichen Kontextes der 1930er Jahre darzustellen, in dem sie entstanden ist. Darauf aufbauend beschreibt der Autor die Verschränkung der Racket-Theorie mit Horkheimers Kritik der politischen Ökonomie, damit die Rackets als ein gesellschaftliches Strukturprinzip (zumindest in Deutschland) und nicht etwa als „eine Macht jenseits des Systems“ (Horkheimer) begreifbar werden. Als ein wesentliches Element der Theorie erläutert Fuchshuber die Subjektkonstitution der „sozial atomisierten Individuen“, die sich den Rackets unterwerfen müssen – als Preis für Protektion und Anteil der „Beute“.
Die unter Konformitätszwang stehenden und „sich so angleichenden atomisierten Einzelnen haben nichts mehr, was sie voneinander trennt und die ‚neue Weise von Unmittelbarkeit‘ (Horkheimer) bedeutet auch Identitätszwang und Hass auf alles Nichtidentische“. (Seite 386) Letzterer erweist sich als funktional, denn die miteinander konkurrierenden Rackets, die im Grunde keine übergeordnete Macht mehr anerkennen, können nur mittels Bestimmung eines gemeinsamen totalen Feindes befriedet werden. Darum erhält der Antisemitismus in diesem Kontext eine zentrale Bedeutung. Dass es in Deutschland zu einem Vernichtungsantisemitismus kommen konnte, deutet die Racket-Theorie als Folge des „im Nationalsozialismus radikalisierte(n) Modus von Inklusion und Exklusion als der jede Racketgesellschaft strukturierendes Moment“ (Seite 594).
Argumente für die Aktualität der Racket-Theorie, also des „Racket(s) als zeitgenössischer Form des Politischen“ (Seite 548), entwickelt der Autor gegen Ende der umfangreichen Studie unter der Überschrift „Staatszerfall, ‚Warlordisierung‘ und Autoritarismus“ – beispielhaft dargestellt anhand der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols in Somalia und des autokratischen Herrschaftsstils in Russland („System Putin“). Dabei wird deutlich, dass sich das Auftreten von Rackets nicht nur als Folge eines Staatszerfalls wie am Horn von Afrika erklären lässt. Der Präsident der Russischen Förderation beispielsweise versteht sich als Stabilisator eines Riesenreiches. „Ist Putin also ein Anti-Racketeer“?, fragt Fuchshuber (Seite 551). Er verneint und stellt fest, dass sich Putin lediglich als „Meister an die Spitze der konkurrierenden Rackets“ (Seite 556) gestellt habe und sie keineswegs zerstören wolle. Der russische Präsident fungiere insofern als Vermittler der als Rackets strukturierten Machtfraktionen, wie Fuchshuber bereits in einem Artikel der Jungle World feststellte (vom 19. Januar 2017).
Publikationen aus den letzten Jahren bestätigen die zunehmende Bedeutung der Bildung von „Banden“ als ein die gegenwärtige Gesellschaft strukturierendes Prinzip, auch wenn nicht immer auf die Racket-Theorie und ihre Urheber direkt Bezug genommen wird. Der 2017 verstorbene Publizist Jürgen Roth beschrieb in seinem im selben Jahr veröffentlichten Buch „Die neuen Paten“, wie sich aus dem KGB und dem sowjetischen Staatsapparat hervorgegangene mafiöse kriminelle Vereinigungen in den höchsten Positionen wirtschaftlicher und politischer Macht etablieren konnten. Der Politologe Kai Lindemann interpretierte 2014 in den Blättern für deutsche und internationale Politik den Finanzkapitalismus als „Beutesystem“, dessen Gestalt durch eine Vielzahl informeller Verbindungen zwischen Rackets und ihrer intensiven Verflechtung mit staatlichen und wirtschaftlichen, legalen und illegalen Strukturen bedingt sei (Blätter, 9/2014, Seite 87f.).
BIG-Redakteur Gerd Bedszent verwies in seinem ebenfalls 2014 erschienenen Buch „Zusammenbruch der Peripherie“ darauf, dass in den Zusammenbruchsterritorien des globalen Südens an die Stelle staatlicher Souveränität ein länderübergreifendes „Geflecht informeller Netzwerke“ tritt, an die Stelle „repressiver Gesetzgebung und deren brutaler Durchsetzung ein durch nichts legitimiertes Faustrecht“ („Zusammenbruch der Peripherie“, Seite 32). Ein Aufgreifen der Racket-Theorie würde man sich auch von der Zunft der Wirtschaftskriminologen wünschen. So ist die Existenz der Korruptionsforschung zwar bereits ein Beleg für die Bedeutung von Rackets im Neoliberalismus. Die Disziplin blendet in ihrer Praxis jedoch weitgehend die gesellschaftlichen Grundlagen der Korruption aus.
Die auf über 670 Seiten ausgebreitete akribische Rekonstruktion der Racket-Theorie aus Texten, die zum Teil in den Gesammelten Schriften Horkheimers erschienen sind, aber auch einigen bisher unveröffentlichten und im Max-Horkheimer-Archiv erhaltenen Quellen, erscheint erfreulicherweise zu einer Zeit, in der ein steigendes Interesse am Nachdenken über informelle Herrschaftsformen festzustellen ist.
Thorsten Fuchshuber: Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft
ça ira-Verlag, Freiburg/Wien, 2019,
672 Seiten, 29 Euro,
ISBN 978-3-86259-145-9