Fehlende Fahnder in NRW


Im Fall der Cum-Ex-Steuerhinterziehung ließen sich Banker, Aktienhändler und Kapitalanlagefonds über Jahre eine nur einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mehrfach zurückerstatten. Mehr als 30 Milliarden Euro sollen so am Fiskus vorbeigeschleust worden sein. Nach 2012, als mit einer Gesetzesänderung die Geschäfte unmöglich gemacht worden waren, begann die juristische Aufarbeitung. „Weil das für ausländische Firmen zuständige Bundeszentralamt für Steuern in Bonn sitzt und die Staatsanwaltschaft Köln die meisten Verfahren führt, wird sich vor allem in Nordrhein-Westfalen entscheiden, ob es dem Staat gelingt, die verlorenen Milliarden einzutreiben und Beteiligte anzuklagen“, schriebt die Süddeutsche Zeitung am 24. März 2019.

Offenbar verfügt das Land NRW über zu wenige Ermittler, um mit Umfang und Komplexität der Cum-Ex-Fälle fertig zu werden. Die Aufarbeitung geht also nur schleppend bis überhaupt nicht voran. Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, befürchtet, dass viele Fälle aus Kapazitätsmangel nie aufgearbeitet würden, mutmaßliche Steuerhinterzieher straffrei davonkämen und das Geld nicht zurückgefordert werden könnte. Mindestens 50 weitere Ermittler in NRW müssten eingesetzt werden, um die die mehreren hundert Verdachtsfälle abarbeiten zu können.

Nach dem großen Steuerbetrug wartet nun also der nächste Skandal: Die Verjährung einiger Cum-Ex-Fälle in NRW.

Links:

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/cum-ex-steuerskandal-steuerhinterziehung-1.4380902 

https://www.jungewelt.de/artikel/351812.finanzhaie-aufkl%C3%A4rung-nein-danke.html?sstr=aufkl%C3%A4rung

 

 

Fehlende Fahnder in Berlin

In der letzten Märzwoche schaffte es das Thema Wirtschaftskriminalität bis zum Aufmacher auf der Titelseite der Berliner Morgenpost. Denn die Schadenssumme durch Wirtschaftskriminalität in Berlin ist 2018 gegenüber dem Vorjahr um 300 Millionen Euro auf knapp eine Milliarde Euro gestiegen. Die Stellen in der zuständigen Abteilung beim Landeskriminalamt (LKA) aber wurden seit 2014 um mehr als die Hälfte reduziert (von 441 Vollzeitstellen auf 211). Das berichtete die Zeitung am 25.3.2019. Der Grund dafür ist laut Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Verschiebung von Stellen in andere Abteilungen. Die Zeitung zitiert den Chef des LKA, Christian Steiof, mit den Worten: „„Die Wirtschaftskriminalität haben wir in den letzten Jahren, ich würde mal fast sagen, systematisch an die Wand gefahren.“ Als Grund für den Personalabbau führte er die „extrem aufwendigen Verfahren“ an, während die Ergebnisse vor Gericht „ziemlich dünn“ seien. Zumindest in diesem Bereich scheint die Berliner Politik nicht an einem angemessenen Verfolgungsdruck interessiert zu sein.

Link:

https://www.morgenpost.de/berlin/article216740443/Schaden-in-Milliardenhoehe-durch-Wirtschaftskriminelle.html

Stärkerer straf- und arbeitsrechtlicher Schutz für Hinweisgeber

Am 21. März 2019 hat der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsfraktionen und der Grünen ein Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen beschlossen. Der ursprüngliche Entwurf war zunächst umstritten, weil kritisiert worden war, Whistleblower und Journalisten könnten in ihrer Arbeit kriminalisiert werden. Neu ist jetzt vor allem, dass beide Personengruppen ausdrücklich gesetzlich vor Strafverfolgung geschützt sind, wenn sie Geschäftsgeheimnisse offenbaren. Der Schutz gilt nicht nur, wenn sie „rechtswidriges“ Verhalten eines Unternehmens aufdecken, sondern auch bei der Enthüllung „sonstigen Fehlverhaltens“. Journalisten können nicht wegen der Verletzung von Geschäftsgeheimnissen strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie aus internen Firmenunterlagen zitieren.

Während des Gesetzgebungsverfahrens hatten sich viele Organisationen und Verbände aus dem bürgerrechtlichen Spektrum für die Rechte von Hinweisgebern und Journalisten eingesetzt. Im Parlament taten sich deshalb Abgeordnete aus der Großen Koalition zusammen, beantragten Änderungen an der Gesetzesvorlage und setzten sich im Sinne eines verbesserten Schutzes von Journalisten und Whistleblowern gegen den Willen der Regierung durch.

Correctiv, nach Selbstauskunft „das erste gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum“, sprach deshalb in einem Artikel von einer „Sternstunde des Parlaments“.

Link:

Radikale Demokratie: Im Hier und Jetzt beginnen

 

Joachim Maiworm über Alex Demirović (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie neu denken und Gustav Bergmann/Jürgen Daub/Feriha Özdemir (Hg.): Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung

 „Warum bewegt die Wirtschaftsdemokratie immer noch die Linken? Und warum bewegt sie nicht viel mehr Leute im progressiven Lager?“ Die vom Journalisten Tom Strohschneider Ende des vorigen Jahres in einem Beitrag für die Zeitung Oxi aufgeworfenen Fragen verweisen auf ein grundlegendes Dilemma in der linken Auseinandersetzung um das Verhältnis von Demokratie und Wirtschaft. Das „klassische“ Grundproblem der Wirtschaftsdemokratie lautet dabei bekanntlich: Wie kann die auf das politische System beschränkte Demokratie in die von autoritären Praktiken geprägte Wirtschaft ausgedehnt werden? Wie lässt sich ein evolutionäres „Hineinwachsen“ demokratischer Bürgerrechte in die Sphäre der demokratiefreien Ökonomie denken?

Angesichts der anhaltenden kapitalistischen Vielfach-Krise sollte die zentrale Forderung der historischen Arbeiterbewegung – die Sicherstellung des Primats der Politik gegenüber der Ökonomie und damit deren Demokratisierung – eigentlich bei betroffenen und politisch engagierten Menschen dauerhaft ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Seit den 1920er Jahren, in denen vor allem sozialdemokratische Gewerkschafter*innen Ideen und Konzepte für eine Wirtschaftsdemokratie entwickelten, kann man hingegen beobachten, dass das Thema immer wieder in Vergessenheit gerät. Es pflegt aber auch periodisch neu zu erwachen und hin zu einer Aktualisierung zu drängen.

Die Frage einer möglichen Demokratisierung der Wirtschaft erregte im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/08 bei Gewerkschaften und linken Theoretikern vorübergehend wieder mehr Aufmerksamkeit. Bis dann die Debatten, wie stets, nach wenigen Jahren wieder abebbten. Wie zwei aktuell erschienene Sammelbände zeigen, scheint sich das Interesse am Gegenstand aber wieder einmal neu zu beleben. Beide Studien lassen sich gewinnbringend parallel lesen und helfen dabei, sich eine Orientierung über die Vielschichtigkeit des Themas zu verschaffen.

Beide Bücher bieten ein weit gefächertes Angebot an Sichtweisen, überschneiden sich allerdings teilweise in ihren Problemstellungen: Wenn es etwa um die verfassungsrechtlichen Bedingungen einer Demokratisierung der Ökonomie geht, eine Reform des Unternehmensrechts diskutiert und die Frage nach der Legitimität des privaten Eigentums an Produktionsmitteln aufgeworfen wird, oder aber wenn Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Alternativökonomie angestellt werden.

Bemerkenswert ist, dass die erneut in Gang kommende Debatte diesmal nicht allein von Kreisen der politischen Linken ausgeht, sondern auch von Teilen des „aufgeklärten“ Managements und des universitären Forschungsbetriebs getragen wird. Aus Sicht unternehmerischer Führungskräfte sorgt die technologische Entwicklung der Produktivkräfte (Stichwort: „Digitalisierung“) bereits seit Jahren dafür, dass antiquierte Führungsstile in Unternehmen an Grenzen stoßen und in einzelnen Branchen Platz für ein neues intelligentes Management geschaffen wird.

Im Bereich der Wirtschaftswissenschaften haben sich unter dem Label „Plurale Ökonomik“ Lehrende und Studierende zusammengefunden, die den Schulterschluss mit den Sozial- und Geisteswissenschaften suchen, um gesellschaftskritische Denkansätze (zum Beispiel Postwachstum und Ökologie) auch in ihrem Studiengang zu fördern – und dabei aufgeschlossenen Führungskräften in der Wirtschaft beratend zur Seite stehen. Der Begriff der Wirtschaftsdemokratie lässt sich dadurch allerdings nur noch schwer fassen und berührt mosaikartig eine Vielzahl von Aspekten.

 

„Wirtschaftsdemokratie neu denken“

Der vor allem in linken Kreisen bekannte Frankfurter Sozialwissenschaftler Alex Demirović gilt seit vielen Jahren als Experte für diesen Themenkomplex. Die meisten Beiträge des von ihm herausgegebenen Buches „Wirtschaftsdemokratie neu denken“ basieren auf der Prämisse, dass Defizite und Erosion von Mitbestimmung in den Betrieben oder Unternehmen eine kritische Überprüfung des Konzeptes von Wirtschaftsdemokratie nötig machen. Die beiden ersten Aufsätze, verfasst von Heinz Bierbaum und Richard Detje/Dieter Sauer, die jeweils im gewerkschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Umfeld arbeiten bzw. forschen, führen dabei überzeugend in wesentliche Schlüsselfragen des Themas ein.

Heinz Bierbaum, zwischen 1980 und 1996 Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall, vertritt ein Konzept von Wirtschaftsdemokratie, welches über den Kapitalismus hinausweist und eine gesellschaftliche Steuerung der Wirtschaft anstrebt. Für Bierbaum bildet die Mitbestimmung zunächst den Referenzpunkt: „Die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie ergibt sich geradezu aus der Kritik und den Grenzen eben der Mitbestimmung. Ein wesentlicher Ausgangspunkt ist die fehlende wirtschaftliche Mitbestimmung, die auf der betrieblichen Ebene überhaupt nicht gegeben und auf Unternehmensebene nur in verkümmerter Form vorhanden ist.“ (Seite 14)

Der Autor reflektiert damit die historisch gescheiterten Versuche einer Umsetzung der Idee von der Demokratisierung der Wirtschaft. In den 1920er Jahren noch als Übergang in eine sozialistische Gesellschaftsordnung gedacht, mutierte sie nach 1945 zu einer zentralen Stütze der Integration der Arbeiter*innen in die betriebliche Herrschaft („Sozialpartnerschaft“). Wirtschaftsdemokratische Initiativen setzen nach Bierbaum zwar auf der einzelwirtschaftlichen Ebene an (steuernder und kontrollierender Einfluss auf die Investitions-, Beschäftigungs- und Arbeitspolitik der Unternehmen), müssen aber in übergreifende Konzepte eingebunden werden (zum Beispiel volkswirtschaftliche Rahmenplanung). Ein wesentliches Hindernis für die wirtschaftsdemokratischen Zielsetzungen sind für ihn die Eigentumsverhältnisse. Solange die Produktionsmittel sich in privaten Händen befinden, ließe sich eine Wirtschaft, die sich am gesellschaftlichen Bedarf orientiert, nicht verwirklichen.

Bierbaum zeigt sich somit als typischer Vertreter des ursprünglichen Konzepts der Wirtschaftsdemokratie, indem er sich für eine sozialistische Transformation einsetzt, also für eine Politik der schrittweisen Veränderungen, durch die die Bedingungen für einen Sozialismus nach und nach geschaffen werden sollen. Allerdings zweifelt er an der Konfliktbereitschaft von gewerkschaftlichen und betrieblichen Vertreter*innen als mögliche Träger einer ökonomischen Demokratisierung. Einen vorsichtigen Ausweg sieht er in der Mitarbeiterbeteiligung, womit er nicht eine Partizipation am Gewinn, sondern am Unternehmen selbst meint. Nur durch die Wiederaneignung der durch die Arbeit geschaffenen Werte könne wirksam Einfluss auf die Unternehmenspolitik genommen werden. Die Solidarwirtschaft würdigt der Autor, weil sie zeige – wenn auch in ihrer Reichweite sehr begrenzt –, dass innerhalb kapitalistischer Verhältnisse andere Formen des Wirtschaftens möglich seien.

An dieser negativen Einschätzung knüpfen die beiden Sozialforscher Richard Detje und Dieter Sauer an, die auf Basis eigener Befragungsstudien über die Auswirkungen jahrzehntelanger neoliberaler Herrschaft auf die „Tiefenstrukturen des Alltagsbewusstseins“ berichten. Sie bestätigen die Ergebnisse auch anderer sozialwissenschaftlicher Studien, nach denen eine zunehmende Delegitimierung des politischen Systems nicht zu einer Systemkritik am Kapitalismus geführt habe. Detje und Sauer sehen eine Ursache in einer fehlenden glaubwürdigen und offensiv vertretenen linken Alternative, die nur Passivität oder einen Rückzug ins Irrationale offen lässt (Seite 26).

Die pessimistische Krisenanalyse der beiden Autoren basiert unter anderem auf dem Formwandel der Herrschaft in der Arbeitswelt (indirekte Steuerung als neuer Zwangszusammenhang). Mitbestimmung sei heute „zu einem Governance-Konzept einer kooperierenden Modernisierung in den Unternehmen“ geworden. Dem Governance-Diskurs liegt bekanntlich die Prämisse zugrunde, es sei für das Management effizienter, autoritäre Anweisungen „von oben“ durch eine egalitäre Einbindung der Beschäftigten zu ersetzen – zweifellos eine mittlerweile etablierte Form innerbetrieblicher Herrschaft.

In einem weiteren Beitrag skizziert Andreas Fisahn, Professor für Öffentliches Recht, den wichtigen Zusammenhang von Wirtschaftsdemokratie und Rechtsgeschichte und klopft das Thema auf seine verfassungsrechtlichen Möglichkeiten und Grenzen ab, untersucht insbesondere die Frage, wie weit eine Demokratisierung der Wirtschaft verfassungsrechtlich gehen kann (Enteignung, Vergesellschaftung). Bezugnehmend auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts vertritt er den Standpunkt einer wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes, um die Idee des Primats der Politik gegenüber ökonomischer Entscheidungsgewalt zu stärken.

Alexandra Scheele, Arbeits- und Wirtschaftssoziologin, knüpft mit dem Begriff der Geschlechterdemokratie an den Begriff der Wirtschaftsdemokratie an. Sie moniert, dass die fehlende Beteiligung von Frauen an den wirtschaftlichen Entscheidungen auf allen Ebenen der Arbeitspolitik keine besondere Berücksichtigung erfährt. Die Demokratisierung der Wirtschaft müsse über den „klassischen“ Begriff der Wirtschaft hinausgehen, das „Ganze der Arbeit“ (also einschließlich der Reproduktionsarbeit) so zum Gegenstand demokratischer Entscheidungen werden. Wirtschaftsdemokratie sei insofern als Geschlechterdemokratie zu entwerfen. Martin Beckmann, Referent unter anderem für Dienstleistungspolitik bei der ver.di-Bundesverwaltung, unterstreicht in seinem Beitrag eine steigende Relevanz des öffentlichen Eigentums auf kommunaler Ebene für die letzten Jahre, will aber noch nicht von einer allgemeinen Trendumkehr bei der Privatisierungspolitik sprechen.

Weitere Beiträge des Buches behandeln die demokratischen Potenziale des Gesundheitssystems (Beispiel Krankenhaus) und des Bildungswesens, demokratische Unternehmen in Belegschaftsbesitz, selbstverwaltete Betriebe als alternative Wirtschaftsmodelle und internationale Erfahrungen (Selbstverwaltungssystem im sozialistischen Jugoslawien sowie Beispiel von Arbeiter*innen aus verschiedenen Kontinenten, die die kollektive Kontrolle über ihre Arbeitsplätze übernahmen).

 

„Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung“

Die Herausgeberinnen des Bandes „Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung“ sowie mehrere der insgesamt 16 Autorinnen forschen und lehren am Lehrstuhl für Innovations- und Kompetenzmanagement an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Siegen. Seit einigen Semestern werden einige der im Buch versammelten Forschungsfragen in Seminaren und Vorlesungen im dortigen Studiengang Plurale Ökonomie erörtert, den Herausgeber Bergmann mit initiiert hat. Im Mittelpunkt ihres Sammelbandes steht die bürgerrechtlich hergeleitete Idee, eine „demokratiekonforme Marktwirtschaft“ zu ermöglichen, die auf einer Vielfalt von Beteiligungs- und Partizipationsformen für die Beschäftigten sowie einer neuen Unternehmensform gründen soll.

Was muss geschehen, damit „Arbeitnehmerinnen“ in einem Betrieb oder Unternehmen ihren Bürgerstatus beibehalten können? Wie können sie mitgestalten und mitentscheiden? Die Herausgeberinnen definieren im einleitenden Beitrag drei wesentliche Forschungsfelder, die auch den Band inhaltlich strukturieren: „Teilhabe“, „Partizipation“ und „Verantwortung“. Zunächst wirft der erste Teil die Frage nach einer „gerechten“ Beteiligung der Mitwirkenden am ökonomischen Erfolg auf und bringt eine neue Rechtsform von Unternehmen ins Spiel, die eine solche Beteiligung ermöglichen soll. Im zweiten Abschnitt wird das Potenzial der deliberativen Entscheidungsfindung in Unternehmen oder Organisationen untersucht (moderne Partizipationskultur). Der letzte Teil schließlich diskutiert die gesellschaftliche Verantwortung bzw. die „mitweltverträgliche“ Unternehmenspolitik. Dabei spielt das Problem der gegenwärtigen Haftungsbegrenzung bei den Eigentümern eine entscheidende Rolle. Die drei Themenfeldern decken aus Sicht der Herausgeber*innen den Komplex „Wirtschaftsdemokratie“ angemessen ab. Der Fokus liegt eindeutig auf der einzelbetrieblichen Ebene, denn in sieben der 16 Texte werden Einzelaspekte des „demokratischen Unternehmens“ behandelt.

Andreas Neumann, Geschäftsführer eines AWO-Kreisverbandes, stellt seine Idee einer neuen Unternehmensform vor, die alle beteiligten Akteure am wirtschaftlichen Erfolg teilhaben lässt. Neben den bestehenden Unternehmensverfassungen soll eine weitere etabliert werden, die eine „faire“ Verteilung der Wertschöpfung unter den Stakeholdern (Kapitalgeber, Beschäftigte, Staat) garantiert. Sein Modell sieht vor, dass der Staat in einem ersten Schritt auf die gewinnbasierte Körperschaftssteuer verzichtet, wodurch der Verteilungsspielraum erhöht wird. Die Kapitalgeber erhalten einen Anspruch auf eine feste Verzinsung, da sie das unternehmerische Risiko tragen. Jeder darüber hinausgehende Gewinn wird nach einem festzulegenden Schlüssel an Beschäftigte und Staat verteilt. Der Autor will die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens in jedem Fall schützen, tritt aber zugleich dem Narrativ entgegen, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft erfordere eine anhaltende Lohnzurückhaltung. Aus Sicht Neumanns stellt sich auf diese Weise eine Win-Win-Win-Situation in einer „demokratiekonformen Marktwirtschaft“ bzw. in einem „demokratischen Unternehmen“ ein.

Der Beitrag von Heinz-J. Bontrup, Wirtschaftsprofessor in Gelsenkirchen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik („Memorandum-Gruppe“), fällt insofern aus dem Rahmen des Sammelbandes, als er den Fokus nicht in erster Linie auf Veränderungen in den Unternehmen legt, sondern zunächst die ideologischen Verblendungen der Marktapologeten aufs Korn nimmt. Entgegen der „behaupteten ‚Wettbewerbswelt‘“ erkennt er „ungeheure Machtzusammenballungen“ bei den Kapitalgesellschaften und Konzernen, die die Welt beherrschen (Seite 41). Durch das neoliberale Dogma und die Herrschaft der Finanzmärkte sei der Einfluss von Politik und Gewerkschaften immer weiter erodiert, mit dem Ergebnis einer extremen Umverteilung beim Volkseinkommen. Daneben kritisiert er die Asymmetrie der Verfassung und des nachgeordneten Arbeitsrechts, da das Kapital einseitig dominiere. Ohne – auch verfassungsrechtliche – Einschränkungen der Kapitalmacht seien wirtschaftsdemokratische Verhältnisse als ein Gegenmittel gegen die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ der „marktkonformen Demokratie“ nicht möglich.

Bontrup bietet insgesamt eine auf 33 Seiten angelegte und mit empirischem Material angereicherte fulminante Beschreibung der gegenwärtigen Verfassung der kapitalistischen Ökonomie. Allzu viel Hoffnung macht der Autor den Freundinnen und Freunden der Idee einer Wirtschaftsdemokratie jedoch nicht: „Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, wie schwer die Umsetzung einer Wirtschaftsdemokratie in den Unternehmen ist.“ (Seite 52)

Im Anschluss an die weit angelegte polit-ökonomische Analyse von Bontrup diskutiert Jürgen Daub, wie eine Demokratisierung betrieblicher Sozialverhältnisse im Rahmen der veränderten Produktionsverhältnisse möglich ist. Mit seinem Ansatz des „Industrial Citizenship“ ist die Ausweitung allgemeiner Bürgerrechte auf den Produktionsbereich gemeint („Wirtschaftsbürger am Arbeitsplatz“). Mit dem Begriff grenzt sich Daub von der Mitbestimmung im klassischen Sinn ab, die als „Pazifizierung des Klassengegensatzes“ verstanden keine allgemeine staatsbürgerliche Demokratieerweiterung in die Unternehmen darstelle. Er zitiert aus einer Monographie von Alex Demirović aus dem Jahr 2007, in der dieser schreibt, dass beispielsweise Betriebsratsarbeit „nicht (…) als solche schon als demokratische Beteiligung aufgefasst“ werden kann (Seite 75). Wirtschaftsbürgerrechte bezeichnet Daub dagegen als einen „zutiefst liberalen Ansatz“ (Seite 78), der auf der Grundlage von Bildung für alle einen „fairen“ Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und Fürsorge garantieren soll. Wie dieser Ansatz praktische Umsetzung erfahren kann, erläutert der Autor in seinem Aufsatz allerdings nicht. Dies bleibt anderen Autoren und Autorinnen des Buches überlassen, die in mehreren Texten vielfältige Formen der Partizipation in Unternehmen beschreiben.

Begriffe wie „agile Unternehmen“, „soziokratische Unternehmensführung“, „holokratische Formen der Entscheidungsfindung“ oder schlicht „Scrum“ verweisen auf Managementmethoden, die vermutlich einem Großteil der Leserschaft dieser Rezension nicht viel sagen, aber allesamt bezwecken, die Mitarbeitenden jenseits einer autoritären Unternehmensführung in Prozesse der Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz einzubeziehen. „Scrum“, so viel sei immerhin verraten, kommt aus dem Rugby und meint das dichte, angeordnete Gedränge und wird für die kleinen, selbstorganisierten Teams in Unternehmen verwendet (Seite 157). Die eigentliche Zielstellung der managementorientierten „Demokratisierungsansätze“ wird allerdings im Buch klar angesprochen. Der Abbau von Hierarchien in Unternehmen, in denen neue technologische Möglichkeiten (Digitalisierung) ein entscheidende Rolle spielen und deren Chefs auf die Entfaltung der Kreativität der Mitarbeitenden angewiesen sind, wird als notwendig erachtet, um wettbewerbsfähig zu bleiben (Seite 176).

 

Fazit

Die Idee der Wirtschaftsdemokratie wird mittlerweile nicht mehr allein aus sozialistischer oder gewerkschaftlicher Perspektive thematisiert. Mit ausgeklügelten Methoden versucht auch das moderne Management, mittels Anerkennung und einer Vielfalt an Partizipationsformen intensive Bindungen an die Unternehmen zu erzeugen und damit ein effektiveres Arbeiten zu ermöglichen. Dabei können zweifellos reale Freiheitsgewinne entstehen, wie sie insbesondere im Band „Wirtschaft demokratisch“ als eine Form der Demokratisierung gedeutet werden. Die sich aufdrängende Ambivalenz bleibt allerdings in den managementorientierten Beiträgen des Buchs weitgehend ausgeblendet. Die verschiedenen Blickwinkel, aus denen der Komplex Wirtschaftsdemokratie bearbeitet wird, erzeugt zudem eine problematische Unübersichtlichkeit.

Da die nicht nur von der Arbeiterbewegung vertretende tradierte Vorstellung, Demokratie einfach so auf das ökonomische Leben auszuweiten, nicht mehr trägt, muss – so der Tenor des von Alex Demirović herausgegebenen Buches – eine Erweiterung der Idee der Wirtschaftsdemokratie erfolgen. Das trägt allerdings dazu bei, den Sinngehalt des Begriffs weiter aufzulösen. „Wirtschaftsdemokratie“ droht somit zu einem Container-Begriff zu werden, dem beliebige Bedeutungen beigemessen werden können. Dieser Falle ist jedoch kaum zu entkommen. Es kann somit festgestellt werden: Die in den beiden Bänden versammelten Aufsätze tragen eine Fülle von relevanten Aspekten zum Thema zusammen, die die Leser*innen selbst zu einer brauchbaren Essenz umformen müssen, damit in ihren Köpfen ein fassbares „Konzept“ von Wirtschaftsdemokratie entstehen kann.

Aufgrund der zahlreichen vorgestellten Perspektiven lassen sich selbstverständlich weitere Kritikpunkte nennen. Zu erwähnen bleibt vor allem das grundsätzliche Problem, dass die Idee einer Demokratisierung auch der Wirtschaft Illusionen eines harmonischen Zusammenwirkens von Unternehmern und abhängig Beschäftigten fördern können. So schreiben Bergmann & Co in ihrer Einleitung, dass Lösungen eher akzeptiert werden und qualitativ besser sind, „wenn alle Interessen und Sichtweisen berücksichtigt werden“ (Seite 11). Gerät wirtschafts- oder sozialwissenschaftliche Theorie zu einer Konsensmaschine, werden allerdings reale Interessengegensätzen verschleiert.

Natürlich muss man konstatieren, dass die Autor*innen beider Bände keine Antwort auf eine der entscheidenden Schlüsselfragen geben können, die sich alle diejenigen zu stellen haben, die daran festhalten, dass die Demokratisierung von Betroffenen getragen und nicht für sie organisiert werden soll: Wie kann eine andere Form der Steuerung der Wirtschaft gekoppelt werden mit der (Selbst)Aktivierung „von unten“? Wer soll die Veränderungen herbeiführen? Dass angesichts des neoliberal geformten Alltagsbewusstsein der Menschen die Verfasserinnen der Aufsätze ebenso hilflos vor diesem Problem stehen wie die meisten Leserinnen und Leser, kann ihnen deshalb nicht angelastet werden.

Deutlich wird, dass ausgearbeitete (Denk-)Modelle lediglich Orientierungen bieten und nur begrenzt weiterhelfen können. Die Theoretiker*innen der Wirtschaftsdemokratie müssen letztlich darauf setzen, dass die Praxis der Menschen selbst emanzipatorische Politik in Bewegung setzt – und sich von deren Ideen durchaus inspirieren lässt. Beide Bücher bieten in jedem Fall genügend analytischen Stoff für eine intelligente Auseinandersetzung über Anachronismus und Aktualität der Wirtschaftsdemokratie.

Gustav Bergmann/Jürgen Daub/Feriha Özdemir (Hg.): Wirtschaft demokratisch. Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung
V&R unipress, Göttingen 2019
353 Seiten, 30,00 Euro
ISBN 978-3-8470-0927-6

download: https://www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/downloads/productPreviewFiles/LP_978-3-8471-0927-3.pdf

 

Alex Demirović (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie neu denken
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2018
341 Seiten, 35,00 Euro
ISBN 978-3-89691-283-1

download: https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/Wirtschaftsdemokratie_Demirovic.pdf)