Mitten in der WĂŒste von Saudi-Arabien, im Nordwesten des Königreichs, soll das wohl gigantischste Bauvorhaben der Welt nach und nach Kontur annehmen â âNeomâ.* Veranschlagt auf 500 Milliarden Dollar wird es bis 2040, so die Planung, eine Region fast so groĂ wie Belgien umfassen und neben dem Skiressort Trojena (Ausrichter der Asiatischen Winterspiele 2029), dem Industriestandort Oxagon und der Luxusinsel Sindalah eine Stadt der Superlative als eigentliches HerzstĂŒck aufbieten: âThe Lineâ. Konzipiert auf eine LĂ€nge von 170 Kilometern und mit gerade einmal 200 Meter Breite beginnt sie am Roten Meer und fĂŒhrt â wie mit dem Lineal gezogen â ins Landesinnere. Zwei gegenĂŒberliegende Reihen von 500 Meter hohen verspiegelten Wolkenkratzern sollen sich kĂŒnftig horizontal in die WĂŒste erstrecken. Sollte die futuristische Stadt im Jahr 2040 wirklich fertiggestellt sein, werden dort einmal neun Millionen Menschen leben â auf nur 34 Quadratkilometern, nicht mehr als einem Zehntel der derzeitigen FlĂ€che von MĂŒnchen. Das öffentliche Leben spielt sich in der Vorstellung der Planer in der engen, aber begrĂŒnten âSchluchtâ zwischen den beiden Hochhausreihen ab. Obwohl das Projekt von vielen Kritikern als reines Fantasieprodukt verhöhnt wurde, sollen im Februar dieses Jahres von der Projektleitung veröffentlichte Luftaufnahmen bereits erste Baufortschritte zeigen.
Warum das alles? Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman stellte das Projekt im Jahr 2017 erstmals vor und versprach im Rahmen seiner âVision 2030â nichts weniger, als eine âzivilisatorische Revolutionâ auf den Weg zu bringen. Das Leben in âNeomâ solle zu einhundert Prozent klimaneutral sein: mit Solarstrom, Windkraft, und ĂŒberhaupt den neuesten Technologien, aber ohne motorisierten Individualverkehr. Alle Wege wĂŒrden zu FuĂ (oder aber mit AufzĂŒgen) erledigt. Daneben soll ein unterirdischer Hochgeschwindigkeitszug die gesamte Distanz von âThe Lineâ in zwanzig Minuten bewĂ€ltigen. Geplant ist, dass alle fĂŒr die Bewohner wichtigen Einrichtungen in nur fĂŒnf FuĂminuten zu erreichen sind.
Mit dieser Idee einer ânachhaltigenâ Stadt will der Prinz offensichtlich zum einen das ramponierte Image seines Landes aufpolieren. Zum anderen gilt es, angesichts langfristig versiegender Ălmilliarden neue Einnahmequellen zu erschlieĂen, vor allem auch mittels erneuerbarer Energien. Damit es aber gelingt, die Wirtschaft in nur wenigen Jahren weitreichend umzubauen und auf High-Tech-Standard zu bringen, mĂŒssen weltweit und massiv Investoren und qualifizierte ArbeitskrĂ€fte angelockt werden (zum Beispiel als Bewohner von âThe Lineâ). Die geplante Transformation setzt deshalb eine â wenn auch territorial sehr begrenzte â Ăffnung des Landes samt gesellschaftlicher Liberalisierung voraus.
Kritische Beobachter nehmen jedoch die ZukunftstrĂ€ume der vom saudischen Prinzen eingekauften âNeomâ-Propagandisten unter Beschuss, die in ihren Promo-Videos von einer naturverbundenen Planstadt als âSprungbrett des menschlichen Fortschrittâ fantasieren (Frankfurter Rundschau).
Kein ökologisches Vorzeigeprojekt
Dass âNeomâ mit den Prinzipien von Nachhaltigkeit und KlimaneutralitĂ€t rein gar nichts zu tun hat, stellen Fachleute immer wieder fest. Allein der Bau von âThe Lineâ verschlingt Unmengen an Beton und Glas. Die dabei anfallenden CO2-Emissionen werden mehr als das Doppelte von dem umfassen, was Deutschland derzeit pro Jahr ausstöĂt. Das Projekt â so bringt es ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Nachhaltiges Bauen auf den Punkt â âdĂŒrfte in etwa so nachhaltig sein wie eine Skianlage in der WĂŒsteâ. (www.md.de)
Massive Verletzung der Menschenrechte
Das Megaprojekt entsteht auch nicht im Niemandsland â wie es die offizielle Sprachregelung weismachen will. GeschĂ€tzt 20.000 Menschen aus lokalen StĂ€mmen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Ein lautstarker Kritiker der Zwangsumsiedlung wurde 2020 von saudischen SpezialkrĂ€ften erschossen, mehrere Todesurteile, erfolgten, drakonische Haftstrafen wurden wegen vermeintlichem Terrorismus erlassen: alles im vergangenen Jahr dokumentiert in einem UN-Report des Hochkommissars fĂŒr Menschenrechte (vgl. Handelsblatt).
Die Arbeits- und Lebensbedingungen fĂŒr die auf den Baustellen Arbeitenden sind offensichtlich inakzeptabel. So werden zum Beispiel nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen in den Camps der ArbeitskrĂ€fte, die fĂŒr jeweils 10.000 Menschen ausgelegt sind, BeschĂ€ftigte aus Indien und Pakistan zu sechst in kleinen RĂ€umen eingezwĂ€ngt. Kritische Stimmen halten die Situation vor allem der asiatischen Niedriglöhner fĂŒr noch problematischer als beim Bau der FuĂballstadien zur Weltmeisterschaft in Katar (vgl. Frankfurter Rundschau).
Auch eine Reihe deutscher Unternehmen und Top-Manager mischen bei dem Projekt im autokratisch regierten WĂŒstenstaat krĂ€ftig mit, weil sich dort â wie auch bei vielen anderen Modernisierungsprojekten â viel Geld verdienen lĂ€sst.
Deutsche Unternehmen profitieren
So berĂ€t Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, von 2017 bis 2018 CEO von âNeomâ, seitdem ganz offiziell den saudischen Herrscher und behielt den Posten auch â trotz des grausamen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi. Siemens bewirbt sich um AuftrĂ€ge fĂŒr die Konstruktion der Hochgeschwindigkeitsbahn; eine Tochter von Thyssen-Krupp ist am Bau der gröĂten Wasserstofffabrik der Welt in der âNeomâ-Region beteiligt. Die bayerische Bauer AG setzt in der ersten Projektphase riesige BetonpfĂ€hle in den Sandboden.
Die Firma Volocopter GmbH aus Bruchsal wird Lufttaxis fĂŒr âThe Lineâ liefern. Im November 2022 wurde bekanntgegeben, âNeomâ werde mit 175 Millionen Dollar bei dem Start-Up einsteigen (vgl. ingeneur.de). Mitte des letzten Jahres verkĂŒndete das Unternehmen, es seien erste erfolgreiche TestflĂŒge eines senkrecht startenden elektrischen Lufttaxis erfolgt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass âNeomâ laut CEO des saudischen Projekts âglobaler Beschleuniger und Inkubator von Lösungen fĂŒr die dringendsten Herausforderungen der Weltâ sei (vgl. Webseite des Unternehmens: https://www.volocopter.com/de/newsroom/volocopter-flug-in-neom/).
Das deutsche ArchitekturbĂŒro Laboratory for Visionary Architecture (LAVA), das einen Teil von âNeomâ entwirft, antwortete auf die Frage von Journalisten, wie es sicherstelle, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitrage: âWir bauen kein GefĂ€ngnis dort, wir bauen auch kein GerichtsgebĂ€ude (âŠ) dann wĂ€re man da direkt involviert.â (Deutschlandfunk) Stattdessen entwerfe man Konzepte fĂŒr Trojena, âNeomsâ geplantes Naherholungsgebiet in den Bergen. In dem Bereich, fĂŒr das LAVA arbeite, seien keine Menschenrechtsverletzungen bekannt.
Und auch Thyssen-Krupp, Velocopter und Bauer bekrĂ€ftigen auf Nachfrage: Man bekenne sich zu den Menschenrechten und prĂŒfe, ob sie eingehalten werden. Offensichtlich mit dem Ergebnis, dass bislang keine Konsequenzen fĂŒr das eigene Engagement zu ziehen sind (ebd.).
Cognitive City: die perfekte Welt der Ăberwachung
Selbsternannte âĂko-StĂ€dteâ werden als âintelligente StĂ€dteâ vermarktet. Der Anspruch, eine CO2-freie âStadt der Zukunftâ zu entwickeln, setzt deshalb voraus, mittels KI-gesteuerter Systeme eine optimierte Infrastruktur bereitzustellen. Dabei reicht es nicht mehr, am Konzept einer sogenannten Smart City festzuhalten. Der neue Leitbegriff lautet âCognitive Cityâ: âWurden in aktuellen Smart Cities bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt NEOM 90 Prozent seinâ. (Business Insider) Dienstleistungen von der MĂŒllabfuhr ĂŒber das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten, so heiĂt es weiter, sollen nach dem Willen der Planer durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Ăberwachungstechnologie geregelt werden.
Kritischen Beobachtern ist dabei nicht entgangen, dass die Datensammelwut in einem hochtechnologisierten Gebiet auch als Instrument fĂŒr eine umfassende Ăberwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden kann. Vor etwa einem Jahr wurde denn auch darĂŒber spekuliert, ob China den Saudis aufgrund der sich verbessernde Beziehungen zwischen beiden LĂ€ndern eine entsprechende erprobte Ăberwachungstechnologie bereitstellen könnte (ebd.).
Der renommierte Architekturkritiker Deyan Sudjic stellt fest, dass autoritĂ€re Regime ein âtiefverwurzeltes und wohlbegrĂŒndetes Misstrauen gegenĂŒber konventionellen StĂ€dtenâ hĂ€tten. Denn StĂ€dte seien âlĂ€stige, unkontrollierbare Orte, die zu Ungehorsamâ neigten (Sudjic, Seite 80). Stattdessen bauten die Machthaber neue HauptstĂ€dte gerne weit weg von Andersdenkenden. Da Mohammed bin Salman jegliche WiderstĂ€nde gegen seine Version einer Modernisierung des Landes im Keim erstickt, erscheint eine kĂŒnftige TotalĂŒberwachung des öffentlichen Lebens auch in âNeomâ wahrscheinlich. Die umfangreichen Daten der Bewohner (Bewegungsprofile, Konsumverhalten, biometrische Erkennungszeichen) werden dabei wohl nicht allein im staatlichen Interesse gespeichert und ausgewertet, sondern auch von den Unternehmen und deren Investoren.
Ein neues Recht
Um auslĂ€ndische Investoren in Scharen anziehen und ihnen Rechtssicherheit in geschĂ€ftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bieten zu können, soll fĂŒr die innovative Region das in Saudi-Arabien geltende und von der Scharia dominierte rigide islamische Recht nicht gelten. Wie die neuen Regeln genau aussehen werden, scheint allerdings noch unklar zu sein â vermutlich aber werden sie wesentlich weniger restriktiv als im Rest des Landes ausfallen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian interpretiert âNeomâ als ein âLaboratorium fĂŒr Experimente mit dem privaten Regierenâ. Die Zone solle nicht vom saudischen Staat, sondern von ihren AktionĂ€ren betrieben werden, von einer autonomen Regierung, deren Gesetze von den Investoren in einem Statut festgelegt wĂŒrden. Die Anteilsscheine sollen an der Börse in Riad gehandelt werden. Die einzige Pflicht der Direktoren wĂŒrde darin bestehen, die Investitionen der AktionĂ€re zu schĂŒtzen. Mohammed bin Salam, so Slobodian, hĂ€tte âNeomâ denn auch als âerste kapitalistische Stadt der Weltâ bezeichnet (Slobodian, Seite 327).
BestÀtigt wird die Sicht Slobodians vom deutschen Berater des saudischen Kronprinzen. Originalton Klaus Kleinfeld:
âUnd dann dĂŒrfen wir hier alles ausprobieren, ohne dass wir erst auf eine bestehende Infrastruktur RĂŒcksicht nehmen mĂŒssen. Auch neue Formen der Gesetzgebung: Wir haben die volle gesetzgeberi-sche AutoritĂ€t!
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz hat uns aufgegeben: âSchreibt die Gesetze in der denkbar
Investoren-freundlichsten Art und Weise. Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe zweier groĂer
internationaler Anwaltskanzleien.â (Deutschlandfunk)
âThe Lineâ ist allerdings nicht die erste Idee fĂŒr eine am ReiĂbrett entworfene Ăko-Megastadt, die darauf gerichtet ist, den Kapitalismus von allen BeschrĂ€nkungen zu befreien. Bekanntlich lĂ€sst sich das nirgendwo sonst so leicht verwirklichen wie in einer beinharten Autokratie. Der Journalist Claas Gefroi ordnet das Projekt âNeomâ in eine seit Jahren ablaufende Entwicklung ein, die weltweit vorangetrieben werde â mit einer klaren Zielstellung. Neue StĂ€dte und Wirtschaftsregionen wĂŒrden geplant, âdie von privaten Kapitalgebern und Unternehmen finanziert, besessen und verwaltet werden und als möglichst autonome Gebiete nicht oder nur noch rudimentĂ€r dem Rechts- und Steuersystem des jeweiligen Landes unterliegenâ. Auf Grundlage einer auf Ungleichheit und Eigentumsrechten fixierten Ideologie solle ein politisch-ökonomisches System etabliert werden, âdas auf maximaler Ungleichheit basiert, jegliche soziale und finanzielle Absicherung der Besitzlosen durch den Staat unterbindet und generell jedwede staatliche Steuerung und Kontrolle ablehntâ. Im Kern, so Gefroi, gehe es um eine Umwandlung von Staatsgebieten in Privatterritorien: âDie Folgen einer solchen libertĂ€ren Entwicklung wĂ€ren fatalâ. (Gefroi, Seite 46)
*âNeoâ im Kunstwort âNeomâ ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen und reprĂ€sentiert das Neue; die Endung âmâ bezieht sich auf das Arabische und steht fĂŒr die Zukunft (mustaqbal).
Quellen:
Thoralf Cleven: „Megacity Neom: Gigantomanie im WĂŒstensand“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 5. Januar 2023
Anna Gauto: âNeom-Projekt fĂŒr deutsche Firmen lukrativ â aber auch sauber?â, Handelsblatt (Online) vom 20. Februar 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/saudi-arabien-neom-projekt-fuer-deutsche-firmen-lukrativ-aber-auch-sauber-01/100014785.htmlÂ
Claas Gefroi: âDurch die WĂŒsteâ, Konkret, 7/2023, Seite 44-46
Dominik Hochwarth: ââThe Lineâ Saudi Arabien: Mehr als ein MĂ€rchen aus 1001 Nacht?â, ingenieur.de (VDI Verlag), 6. MĂ€rz 2024
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/bau/saudische-megacity-the-line-mehr-als-ein-maerchen-aus-1001-nacht/
Tom Porter: âDer saudische Kronprinz will eine milliardenschwere Smart City in der WĂŒste errichten: China soll dafĂŒr Ăberwachungstechnologie bereitstellenâ, Business Insider, 24. Februar 2023
https://www.businessinsider.de/politik/welt/neom-der-saudische-kronprinz-plant-ueberwachte-smart-city/Â
Quinn Slobodian: âKapitalismus ohne Demokratieâ, Berlin, 2023
Deyan Sudjic: âNeom, die WĂŒstendystopieâ, Merkur, April 2023, Seite 77-80
Marc Thörner: âBlut, Sand und Betonâ, Deutschlandfunk/WDR (Erstsendung am 20. Februar 2024)
https://www.hoerspielundfeature.de/blut-sand-und-beton-100.htmlÂ