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Editorial zu BIG Business Crime 2/2024

 In einem inzwischen wieder gelöschten Tweet hat Maximilian Krah, Spitzenkandidat der AfD fĂŒr die Wahl zum europĂ€ischen Parlament, Folgendes gepostet: „NatĂŒrlich ist Korruption korreliert mit Kultur und Kultur mit Ethnie.“ In verstĂ€ndliches Deutsch ĂŒbersetzt heißt das, dass bei bestimmten Ethnien Korruption quasi von Natur aus zur Kultur gehöre und deshalb weiter verbreitet sei als bei anderen, beispielsweise unserer eigenen. Klingt ĂŒberzeugend, wissen wir doch schon, dass es sich in Fragen der KriminalitĂ€t generell so verhĂ€lt. Denken wir nur an die arabischen Clans und all die fremdlĂ€ndischen Mafiosi, die sich in Deutschland tummeln. Da hilft nur eins: Remigration. Dann ist das Problem gelöst.

Zugegeben, das ist eine satirische Zuspitzung, aber anders als mit Überspitzung ist der Argumentation der AfD und ihrer Vertreter schlecht beizukommen. Dabei ist deren Strickmuster recht einfach und immer dasselbe: Es geht darum, alle Fragen und Probleme möglichst in solche der Kultur und der ethnischen Zugehörigkeit zu verwandeln. Dann wird aus dem Interessengegensatz zwischen Oben und Unten, dem Konflikt zwischen Arbeit und Kapital einer zwischen „uns“ und „denen“. Es gilt: „Wir sind das Volk“ – und „die“ eine abgehobene Elite mit globalistischer Agenda, die den Zustrom kulturfremder WirtschaftsflĂŒchtlinge nicht verhindert, wenn nicht sogar fördert.

„It’s the economy, stupid“ – den Slogan, mit dem Bill Clinton 1992 die US-PrĂ€sidentschaftswahlen gewann, möchte man all denen zurufen, die vor allem KulturkĂ€mpfe fĂŒhren wollen, statt sich um die realen Sorgen und Nöte der Menschen zu kĂŒmmern.

Genau diesen Slogan weist aber Maximilian Krah bezeichnenderweise in seinem letztes Jahr erschienenen Buch „Politik von rechts“ strikt zurĂŒck, weil sonst „alles am Ende ein Verteilungskampf zwischen gesellschaftlichen Gruppen“ sei. FĂŒr rechte Wirtschaftspolitik gelte vielmehr: „Daß dem Einzelnen materielle GĂŒter zugeordnet sind, zum Gebrauch wie zum Aufbau von Vermögen, ist Teil der natĂŒrlichen Ordnung“. Schlecht und schĂ€dlich sei nur der „globale Kapitalismus einer kleinen Oligarchie“. Hier fallen dann die Namen der ĂŒblichen VerdĂ€chtigen: Bill Gates und George Soros.

Redaktion BIG Business Crime

Benko als Unternehmer insolvent

 Nach dem Bankrott eines Großteils seiner Signa-Gruppe hat das Landesgericht Innsbruck nun das Konkursverfahren ĂŒber das Vermögen des Unternehmers RenĂ© Benko eröffnet. Denn Presseberichten zufolge stellte Benko zuvor am 7. MĂ€rz einen Antrag auf Privatinsolvenz als Einzelunternehmer, bei der er – wie bei einer reinen Privatinsolvenz – ebenfalls mit seinem ganzen Vermögen haftet.

Verarmen wird der GrĂŒnder des Firmenimperiums aber nicht. Kurz bevor die Signa Holding Ende November 2023 Insolvenz anmeldete, waren 315 Millionen Euro von dem Konzern an Familien-Stiftungen geflossen, die Benko gegrĂŒndet hatte. Dazu gehören die Familie-Benko-Stiftung, die Laura-Stiftung (nach seiner Tochter benannt) und die Ingbe-Stiftung (Benkos Mutter als NamenstrĂ€gerin), die in der Steueroase Liechtenstein sitzt. „Privatstiftungen in dem FĂŒrstentum“, schreibt die SĂŒddeutsche Zeitung am 18. Januar dieses Jahres, „sind bekanntlich besonders diskrete Konstrukte und fĂŒr auslĂ€ndische Steuerbehörden kaum zu knacken.“ Es wird davon ausgegangen, dass die gigantische Summe weder zur Insolvenzmasse des Signa-Konzerns noch des Unternehmers Benko gehört, also fĂŒr die GlĂ€ubiger nicht einzutreiben ist. Gewinne der Signa-Unternehmen flossen zwar in die Stiftungen, deren „BegĂŒnstigte“ sind aber geheim. Vermutlich gehört RenĂ© Benko selbst nicht darunter.

Auch verschiedene LuxusgĂŒter, die Benkos glamorösen Lebensstil prĂ€gen, stehen nicht in seinem Eigentum, „sondern von Gesellschaften, die im Umfeld von Benko-Privatstiftungen und von Signa-Firmen angesiedelt sind“. (SĂŒddeutsche Zeitung vom 8. MĂ€rz 2024) Seine opulente Villa in Innsbruck gehört ihm ebenso wenig wie sein großes Chalet in einem Nobelskiort am Arlberg oder sein Privatjet. Auf diese Vermögenswerte der Stiftungen, wie auch auf wertvolle Kunstwerke von Pablo Picasso und Jean-Michel Basquiat, kann nicht direkt zugegriffen werden, um Benkos Schulden zu bezahlen.

Benko besetzte zwar zuletzt keine offizielle Management-Position bei Signa, besaß aber BeratervertrĂ€ge mit einzelnen Gesellschaften der Gruppe. Der Salzburger Wirtschafts-Professor Leonhard Dobusch verweist deshalb auf die Millionen Euro an Beraterhonoraren, die Benko fĂŒr die Beratung seiner eigenen, formal unabhĂ€ngigen Signa eingestrichen habe. Es solle auch geschaut werde, was daraus geworden sei. (taz)

Langweilig wird die „Causa Benko“, die sich noch ĂŒber Jahre hinziehen wird, jedenfalls nicht:

„‚Es ist das das bisher spannendste Verfahren im gesamten Insolvenzkomplex um Signa‘, meint Gerhard Weinhofer von der GlĂ€ubigerschutzorganisation Creditreform. ‚Denn jetzt muss RenĂ© Benko Farbe bekennen und beispielsweise konkret darlegen, welche Rolle die Stiftungen spielen, welche Zwecke sie konkret haben und wo die Gelder, die er als Berater kassiert hat, hingeflossen sind‘.“ (Handelsblatt)

 

Quellen:

Patrick Guyton: „Sozialwohnung droht nicht“, taz (Online) vom 8. MĂ€rz 2024
https://taz.de/Was-Rene-Benkos-Insolvenz-bedeutet/!5997034&s/

Florian Kolf/RenĂ© Bender: „Landesgericht Innsbruck eröffnet Konkursverfahren gegen RenĂ© Benko“, Handelsblatt (Online) vom 7. MĂ€rz 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/signa-gruender-landesgericht-innsbruck-eroeffnet-konkursverfahren-gegen-rene-benko/100021721.html 

Klaus Ott/Uwe Ritzer: „Im Namen der Familie“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 18. Januar 2024

Alexander Reich: „Armer Mann des Tages: RenĂ© Benko“, junge Welt (Online) vom 9. MĂ€rz 2024
https://www.jungewelt.de/artikel/470998.armer-mann-des-tages-rené-benko.html 

„Signa-GrĂŒnder im Insolvenzverfahren: Benko-Vermögen im Fokus“, SĂŒddeutsche Zeitung (Online) vom 8. MĂ€rz 2024
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/immobilien-signa-gruender-im-insolvenzverfahren-benko-vermoegen-im-fokus-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-240308-99-267534 

Zonenbildung: Die neue Geografie des Kapitalismus

Im rechtswissenschaftlichen und politischen Diskurs wird die Auffassung vertreten, das seit Anfang des letzten Jahres in Deutschland geltende Lieferkettengesetz und die aktuelle Debatte um eine entsprechende EU-Richtlinie ließe eine internationale Rechtsentwicklung erkennen, die auf eine Durchsetzung von Normen des Menschenrechts in der globalisierten Wirtschaft gerichtet sei.

UnabhĂ€ngig davon, ob man es fĂŒr illusionĂ€r hĂ€lt, die kapitalistische Produktionsweise könne die Einhaltung der Menschenrechte gewĂ€hrleisten – ausgeblendet wird in der Diskussion, dass marktradikale Akteure seit Jahren auch auf juristischer Ebene weltweit erfolgreich in die genau entgegengesetzte Richtung arbeiten. Sie wollen, wie es der Untertitel des neuen Buches von Quinn Slobodian anzeigt, „die Welt in Mikronationen, PrivatstĂ€dte und Steueroasen zerlegen“. Gemeint sind eigentĂŒmliche Enklaven, die sich zwar rĂ€umlich innerhalb von nationalstaatlichen Territorien befinden, zugleich aber von den dort geltenden Regeln ausgenommen sind. Der Autor fasst sie unter dem Begriff „Zonen“ zusammen. Dort sollen sich ausschließlich die Gesetze des Marktes entfalten und Investoren selber festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Slobodian nutzt auch die Metapher der Perforation, um zu verdeutlichen, wie der Kapitalismus Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt, um Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen zu errichten. Mit der Folge, dass neue RechtsrĂ€ume entstehen, in denen bislang geltende Steuerpflichten, Arbeitsrechte und Umweltauflagen unterlaufen oder ganz abgeschafft werden.

Slobodian zitiert zu Beginn seines Buches eine provokante Aussage des rechtslibertÀren Tech-Investors Peter Thiel aus dem Jahr 2009, nach dem Freiheit und Demokratie unvereinbar seien (vgl. Beitrag in BIG Business Crime, Beilage zu Stichwort BAYER Nr. 1/2023). Die Einlassung des US-MilliardÀrs zeugt dabei nicht von reinem Wunschdenken, denn Slobodian verweist auf mittlerweile weltweit mehr als 5.400 tatsÀchlich existierende Zonen, die eine verwirrende Vielfalt an Formen annehmen; nach einer offiziellen Einstufung gibt es demnach mindestens 82 Varianten. Darunter fallen einzelne ProduktionsstÀtten, Gewebesteueroasen auf Gemeindebasis, aber auch urbane Megaprojekte und ausgedehnte Sonderwirtschaftszonen. 

Sie alle stehen fĂŒr einen „Crack Up Capitalism“ (Titel der Originalausgabe) – verstanden als eine Utopie des freien Marktes, die nach Ansicht von AnhĂ€ngern der Zonenbildung „durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten“ verwirklicht werden könne. Die Idee, dass der Kapitalismus sehr viel wichtiger sei als die Demokratie und vor „dem Zugriff des Volkes“ gesichert werden mĂŒsse, entspricht nach Meinung des Buchautors einer gezielt entwickelten Geisteshaltung, die seit fĂŒnfzig Jahren unmerklich auf dem Vormarsch sei und sich auf „unsere Gesetze, Institutionen und politische Bestrebungen“ auswirke.

Slobodian entwirft im Grunde eine Verfallsgeschichte der Demokratie, wobei er seine Grundthese eines von Zonen ĂŒbersĂ€ten „Zersplitterungskapitalismus“ mit Blick auf mehrere geografische Schwerpunkte und anhand von insgesamt elf Fallstudien abhandelt. Unter anderem beschreibt er markante Entwicklungen in Hongkong und Singapur, London und Liechtenstein, Dubai und Somalia – alles Orte, wo sich Kapitalismus und Demokratie auseinanderentwickeln wĂŒrden. Dennoch entlarvt der Autor das Ziel, möglichst viele Zonen tatsĂ€chlich vom Staat zu „befreien“, als reine Rhetorik, denn letztlich seien sie Werkzeuge des Staates (und des Kapitals). Schließlich wĂŒrden die Staaten sie einsetzen, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Soll zum einen heißen, dass die Marktradikalen ihre Ziele nicht ohne staatliche Interventionen umsetzen können und sich deshalb nicht zufĂ€llig und nur scheinbar auf paradoxe Weise bewundernd ĂŒber autoritĂ€re Staaten Ă€ußern (vor allem ĂŒber deren „Effizienz“). Heißt zum anderen, dass Staaten wie Saudi-Arabien oder China ihre Position als staatskapitalistische (Groß)MĂ€chte durch den Bau von „extraterritorialen“ MegastĂ€dten oder die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen stĂ€rken wollen – und sich dabei oft genug ĂŒber das libertĂ€re Prinzip des Schutzes der Eigentumsrechte brutal hinwegsetzen (Vertreibung von Dorfbewohnern usw.).

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, PrivatstÀdte und Steueroasen zerlegen wollen, ISBN 978-3-518-43146-7,  Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 428 Seiten, 32 Euro

 

Die Steuertricks der Großkonzerne

Unter diesem Titel berichtete Christine Dankbar am 12. Februar 2024 im Wirtschaftsteil der Frankfurter Rundschau ĂŒber eine neue Studie des Wirtschaftsexperten Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit. Der Titel ist ein WiedergĂ€nger. Gibt man ihn bei Google in die Suchmaske ein, erscheinen etliche Artikel mit gleich oder Ă€hnlich lautenden Überschriften aus den letzten Jahrzehnten. Es hat sich offenbar nicht viel geĂ€ndert, trotz aller ReformbemĂŒhungen in den USA, der EuropĂ€ischen Union und den Staaten der OECD.

Gerade die internationalen Digitalriesen wie Google schaffen es nach wie vor, sich trotz exorbitanter UmsĂ€tze und traumhafter Gewinnmargen weitgehend um Steuerzahlungen zu drĂŒcken. Ihre Hauptmethode dabei ist die geschickte Verlagerung von Gewinnen.

Die neue Studie entstand im Auftrag der Linken im Europaparlament. Grundlage fĂŒr sie waren die GeschĂ€ftsberichte dreier Großunternehmen, die in der EU aktiv sind: Booking.com, Microsoft und Alphabet (der Mutterkonzern von Google).

Dabei zeigt das Beispiel von Booking.com in schlagender Weise, dass zur Steuervermeidung nicht einmal mehr eine Steueroase notwendig ist. Der Hauptsitz des Unternehmens, eines der wenigen großen europĂ€ischen Digitalkonzerne, sind die Niederlande. Hier arbeiten weniger als die HĂ€lfte der mehr als 10 000 Angestellten des Konzerns – doch der weitaus grĂ¶ĂŸte Teil des Gewinns fĂ€llt in diesem Land an.

Wie ist das möglich? Booking.com hat in 71 LĂ€ndern Tochtergesellschaften, deren Angestellte aber nach geltendem Steuerrecht nur sogenannte Supportdienste leisten, fĂŒr die sie vom Mutterkonzern entlohnt werden. Der Löwenanteil der Gewinne wird auf diese Weise scheinbar in den Niederlanden generiert. Dort wird er mit einem effektiven Niedrig-Steuersatz von 15 bis 16 Prozent belastet. Danach werden die Gewinne ĂŒber eine britische Zwischengesellschaft in die US-amerikanische Zentrale transferiert.

„Diese Struktur vermeidet Steuern auf drei Ebenen“, heißt es in der Studie: „Über den hohen Gewinnanteil der Niederlande und den dortigen Steuervorteil, bei der Umsatzsteuer sowie bei der Besteuerung der GewinnausschĂŒttung.“ Insgesamt habe sich Booking.com auf diese Weise zwischen 2005 und 2022 Steuerzahlungen in Höhe von 3,6 bis 4 Milliarden Euro erspart – oder, wie man auch sagen könnte, als Zusatzgewinn legal ergaunert. (dem Gemeinwesen entwendet)

In Wirklichkeit ist es noch grotesker: Normalerweise mĂŒssen Firmen in den Niederlanden 25 Prozent Unternehmenssteuer zahlen. Doch 2010 erfand man zur „Wirtschaftsförderung“ fĂŒr „innovative TĂ€tigkeiten“ einen reduzierten Steuersatz von 9 Prozent. Diese „Innovation Box Tax“ trĂ€gt den passenden Spitznamen „niederlĂ€ndische SparbĂŒchse“. Der niederlĂ€ndische Staat hat dennoch etwas davon: Wegen seiner hohen Gewinne zahlte Booking.com von 2003 bis 2021 geschĂ€tzte mehr als vier Milliarden Euro Steuern. Die entgingen den anderen Staaten, in denen der Konzern Niederlassungen hat.

Auch Microsoft hat seine Methode, Steuern durch Gewinnverschiebungen zu vermeiden. Sie sieht anders aus als bei Booking.com. Microsoft geht in drei Schritten vor. ZunĂ€chst werden die immateriellen Vermögenswerte, also beispielsweise die Programmcodes fĂŒr Softwareprodukte wie Windows in den USA entwickelt. Diese Vermögenswerte werden dann ins Ausland transferiert – in Steuerparadiese wie Irland, Puerto Rico und Singapur. Danach erst werden sie den Tochtergesellschaften in den einzelnen LĂ€ndern zur VerfĂŒgung und in Rechnung gestellt. So wird ein Großteil der Gewinne steuersparend erwirtschaftet.

Obwohl beispielsweise in Irland bestimmte Steuervermeidungsmodelle mittlerweile kassiert wurden, erfreut sich Microsoft immer noch an den Vorteilen des dortigen Standorts: Laut GeschÀftsberichten bezahlte Microsoft in den Jahren 2020/21 etwa drei Milliarden US-Dollar Steuern in Irland, was einer Steuerquote von 7,2 Prozent entspricht. Das ist erheblich geringer als der offizielle Steuersatz von 12,5 Prozent.

Auch Alphabet nutzte die irischen VerhĂ€ltnisse, hat aber den grĂ¶ĂŸten Teil seiner Gewinne wieder in die USA zurĂŒcktransferiert. Die Steuerquote des Konzerns sank dennoch weiter ab: Im Jahr 2022 wurden gerade einmal 15,9 Prozent an Steuern gezahlt. Alphabet machte sich dabei eine Kombination von Steuerprivilegien zunutze.

Der Dreh ist bei allen Unterschieden immer der gleiche: Die Gewinne werden dorthin verschoben, wo am wenigsten Steuern anfallen. Digitalkonzernen fÀllt das begreiflicherweise leichter als Industriefirmen. Sie handeln mit immateriellen Werten und Dienstleistungen, die sich bequemer und unauffÀlliger transferieren lassen.

In Italien und Frankreich wird mittlerweile in diesen ZusammenhĂ€ngen ermittelt, in Deutschland jedoch bisher nicht. Nicht umsonst hat ja die Bundesrepublik den Ruf, innerhalb von Europa ein Steuerparadies zu sein. Die neue Studie belegt aber vor allem, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichten und dass Steuerschlupflöcher in der EU demzufolge viel konsequenter geschlossen werden mĂŒssen.

„Die Tech-Giganten nutzen alle Tricks, um ihre Milliarden-Profite kleinzurechnen“, kommentiert Martin Schirdewan, Vorsitzender der Linkspartei und Spitzenkandidat bei den Wahlen zum europĂ€ischen Parlament, das Ergebnis der Studie. „Es kann doch nicht sein, dass Booking.com weniger Steuern zahlt als ein mittelstĂ€ndisches Unternehmen aus Franken.“ Bisher kann es genau das.

Quellen:

Christine Dankbar: „Neue Studie deckt Steuertricks auf: So drĂŒcken sich Großkonzerne vor Abgaben“,
Frankfurter Rundschau (Online) vom 11. Februar 2024
https://www.fr.de/wirtschaft/steuertricks-tech-konzerne-booking-microsoft-alphabet-europa-linke-schirdewan-92826722.html 

„Digitalkonzerne fair besteuern!“, Autor: Christoph Trautvetter, Studie im Auftrag von: Martin Schirde-wan, Mitglied des EuropĂ€ischen Parlaments und Ko-Vorsitzender der Fraktion The Left im EuropĂ€i-schen Parlament, BrĂŒssel, 2024
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/wp-content/uploads/2024/02/Digitalkonzerne-fair-besteuern-DIE-LINKE-Copy.pdf 

 

 

 

 

 

 

Die dunkle Seite der Zukunftsstadt: das Projekt „Neom“ in Saudi Arabien  

 Mitten in der WĂŒste von Saudi-Arabien, im Nordwesten des Königreichs, soll das wohl gigantischste Bauvorhaben der Welt nach und nach Kontur annehmen – „Neom“.* Veranschlagt auf 500 Milliarden Dollar wird es bis 2040, so die Planung, eine Region fast so groß wie Belgien umfassen und neben dem Skiressort Trojena (Ausrichter der Asiatischen Winterspiele 2029), dem Industriestandort Oxagon und der Luxusinsel Sindalah eine Stadt der Superlative als eigentliches HerzstĂŒck aufbieten: „The Line“. Konzipiert auf eine LĂ€nge von 170 Kilometern und mit gerade einmal 200 Meter Breite beginnt sie am Roten Meer und fĂŒhrt – wie mit dem Lineal gezogen – ins Landesinnere. Zwei gegenĂŒberliegende Reihen von 500 Meter hohen verspiegelten Wolkenkratzern sollen sich kĂŒnftig horizontal in die WĂŒste erstrecken. Sollte die futuristische Stadt im Jahr 2040 wirklich fertiggestellt sein, werden dort einmal neun Millionen Menschen leben – auf nur 34 Quadratkilometern, nicht mehr als einem Zehntel der derzeitigen FlĂ€che von MĂŒnchen. Das öffentliche Leben spielt sich in der Vorstellung der Planer in der engen, aber begrĂŒnten „Schlucht“ zwischen den beiden Hochhausreihen ab. Obwohl das Projekt von vielen Kritikern als reines Fantasieprodukt verhöhnt wurde, sollen im Februar dieses Jahres von der Projektleitung veröffentlichte Luftaufnahmen bereits erste Baufortschritte zeigen.

Warum das alles? Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman stellte das Projekt im Jahr 2017 erstmals vor und versprach im Rahmen seiner „Vision 2030“ nichts weniger, als eine „zivilisatorische Revolution“ auf den Weg zu bringen. Das Leben in „Neom“ solle zu einhundert Prozent klimaneutral sein: mit Solarstrom, Windkraft, und ĂŒberhaupt den neuesten Technologien, aber ohne motorisierten Individualverkehr. Alle Wege wĂŒrden zu Fuß (oder aber mit AufzĂŒgen) erledigt. Daneben soll ein unterirdischer Hochgeschwindigkeitszug die gesamte Distanz von „The Line“ in zwanzig Minuten bewĂ€ltigen. Geplant ist, dass alle fĂŒr die Bewohner wichtigen Einrichtungen in nur fĂŒnf Fußminuten zu erreichen sind.

Mit dieser Idee einer „nachhaltigen“ Stadt will der Prinz offensichtlich zum einen das ramponierte Image seines Landes aufpolieren. Zum anderen gilt es, angesichts langfristig versiegender Ölmilliarden neue Einnahmequellen zu erschließen, vor allem auch mittels erneuerbarer Energien. Damit es aber gelingt, die Wirtschaft in nur wenigen Jahren weitreichend umzubauen und auf High-Tech-Standard zu bringen, mĂŒssen weltweit und massiv Investoren und qualifizierte ArbeitskrĂ€fte angelockt werden (zum Beispiel als Bewohner von „The Line“). Die geplante Transformation setzt deshalb eine – wenn auch territorial sehr begrenzte – Öffnung des Landes samt gesellschaftlicher Liberalisierung voraus.

Kritische Beobachter nehmen jedoch die ZukunftstrĂ€ume der vom saudischen Prinzen eingekauften „Neom“-Propagandisten unter Beschuss, die in ihren Promo-Videos von einer naturverbundenen Planstadt als „Sprungbrett des menschlichen Fortschritt“ fantasieren (Frankfurter Rundschau).

Kein ökologisches Vorzeigeprojekt

Dass „Neom“ mit den Prinzipien von Nachhaltigkeit und KlimaneutralitĂ€t rein gar nichts zu tun hat, stellen Fachleute immer wieder fest. Allein der Bau von „The Line“ verschlingt Unmengen an Beton und Glas. Die dabei anfallenden CO2-Emissionen werden mehr als das Doppelte von dem umfassen, was Deutschland derzeit pro Jahr ausstĂ¶ĂŸt. Das Projekt – so bringt es ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Nachhaltiges Bauen auf den Punkt – „dĂŒrfte in etwa so nachhaltig sein wie eine Skianlage in der WĂŒste“. (www.md.de)

Massive Verletzung der Menschenrechte

Das Megaprojekt entsteht auch nicht im Niemandsland – wie es die offizielle Sprachregelung weismachen will. GeschĂ€tzt 20.000 Menschen aus lokalen StĂ€mmen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Ein lautstarker Kritiker der Zwangsumsiedlung wurde 2020 von saudischen SpezialkrĂ€ften erschossen, mehrere Todesurteile, erfolgten, drakonische Haftstrafen wurden wegen vermeintlichem Terrorismus erlassen: alles im vergangenen Jahr dokumentiert in einem UN-Report des Hochkommissars fĂŒr Menschenrechte (vgl. Handelsblatt).

Die Arbeits- und Lebensbedingungen fĂŒr die auf den Baustellen Arbeitenden sind offensichtlich inakzeptabel. So werden zum Beispiel nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen in den Camps der ArbeitskrĂ€fte, die fĂŒr jeweils 10.000 Menschen ausgelegt sind, BeschĂ€ftigte aus Indien und Pakistan zu sechst in kleinen RĂ€umen eingezwĂ€ngt. Kritische Stimmen halten die Situation vor allem der asiatischen Niedriglöhner fĂŒr noch problematischer als beim Bau der Fußballstadien zur Weltmeisterschaft in Katar (vgl. Frankfurter Rundschau).

Auch eine Reihe deutscher Unternehmen und Top-Manager mischen bei dem Projekt im autokratisch regierten WĂŒstenstaat krĂ€ftig mit, weil sich dort – wie auch bei vielen anderen Modernisierungsprojekten – viel Geld verdienen lĂ€sst.

Deutsche Unternehmen profitieren

So berĂ€t Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, von 2017 bis 2018 CEO von „Neom“, seitdem ganz offiziell den saudischen Herrscher und behielt den Posten auch – trotz des grausamen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi. Siemens bewirbt sich um AuftrĂ€ge fĂŒr die Konstruktion der Hochgeschwindigkeitsbahn; eine Tochter von Thyssen-Krupp ist am Bau der grĂ¶ĂŸten Wasserstofffabrik der Welt in der „Neom“-Region beteiligt. Die bayerische Bauer AG setzt in der ersten Projektphase riesige BetonpfĂ€hle in den Sandboden.

Die Firma Volocopter GmbH aus Bruchsal wird Lufttaxis fĂŒr „The Line“ liefern. Im November 2022 wurde bekanntgegeben, „Neom“ werde mit 175 Millionen Dollar bei dem Start-Up einsteigen (vgl. ingeneur.de). Mitte des letzten Jahres verkĂŒndete das Unternehmen, es seien erste erfolgreiche TestflĂŒge eines senkrecht startenden elektrischen Lufttaxis erfolgt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass „Neom“ laut CEO des saudischen Projekts „globaler Beschleuniger und Inkubator von Lösungen fĂŒr die dringendsten Herausforderungen der Welt“ sei (vgl. Webseite des Unternehmens: https://www.volocopter.com/de/newsroom/volocopter-flug-in-neom/).

Das deutsche ArchitekturbĂŒro Laboratory for Visionary Architecture (LAVA), das einen Teil von „Neom“ entwirft, antwortete auf die Frage von Journalisten, wie es sicherstelle, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitrage: „Wir bauen kein GefĂ€ngnis dort, wir bauen auch kein GerichtsgebĂ€ude (
) dann wĂ€re man da direkt involviert.“ (Deutschlandfunk) Stattdessen entwerfe man Konzepte fĂŒr Trojena, „Neoms“ geplantes Naherholungsgebiet in den Bergen. In dem Bereich, fĂŒr das LAVA arbeite, seien keine Menschenrechtsverletzungen bekannt.

Und auch Thyssen-Krupp, Velocopter und Bauer bekrĂ€ftigen auf Nachfrage: Man bekenne sich zu den Menschenrechten und prĂŒfe, ob sie eingehalten werden. Offensichtlich mit dem Ergebnis, dass bislang keine Konsequenzen fĂŒr das eigene Engagement zu ziehen sind (ebd.).

Cognitive City: die perfekte Welt der Überwachung

Selbsternannte „Öko-StĂ€dte“ werden als „intelligente StĂ€dte“ vermarktet. Der Anspruch, eine CO2-freie „Stadt der Zukunft“ zu entwickeln, setzt deshalb voraus, mittels KI-gesteuerter Systeme eine optimierte Infrastruktur bereitzustellen. Dabei reicht es nicht mehr, am Konzept einer sogenannten Smart City festzuhalten. Der neue Leitbegriff lautet „Cognitive City“: „Wurden in aktuellen Smart Cities bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt NEOM 90 Prozent sein“. (Business Insider) Dienstleistungen von der MĂŒllabfuhr ĂŒber das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten, so heißt es weiter, sollen nach dem Willen der Planer durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Überwachungstechnologie geregelt werden.

Kritischen Beobachtern ist dabei nicht entgangen, dass die Datensammelwut in einem hochtechnologisierten Gebiet auch als Instrument fĂŒr eine umfassende Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden kann. Vor etwa einem Jahr wurde denn auch darĂŒber spekuliert, ob China den Saudis aufgrund der sich verbessernde Beziehungen zwischen beiden LĂ€ndern eine entsprechende erprobte Überwachungstechnologie bereitstellen könnte (ebd.).

Der renommierte Architekturkritiker Deyan Sudjic stellt fest, dass autoritĂ€re Regime ein „tiefverwurzeltes und wohlbegrĂŒndetes Misstrauen gegenĂŒber konventionellen StĂ€dten“ hĂ€tten. Denn StĂ€dte seien „lĂ€stige, unkontrollierbare Orte, die zu Ungehorsam“ neigten (Sudjic, Seite 80). Stattdessen bauten die Machthaber neue HauptstĂ€dte gerne weit weg von Andersdenkenden. Da Mohammed bin Salman jegliche WiderstĂ€nde gegen seine Version einer Modernisierung des Landes im Keim erstickt, erscheint eine kĂŒnftige TotalĂŒberwachung des öffentlichen Lebens auch in „Neom“ wahrscheinlich. Die umfangreichen Daten der Bewohner (Bewegungsprofile, Konsumverhalten, biometrische Erkennungszeichen) werden dabei wohl nicht allein im staatlichen Interesse gespeichert und ausgewertet, sondern auch von den Unternehmen und deren Investoren.

Ein neues Recht

Um auslĂ€ndische Investoren in Scharen anziehen und ihnen Rechtssicherheit in geschĂ€ftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bieten zu können, soll fĂŒr die innovative Region das in Saudi-Arabien geltende und von der Scharia dominierte rigide islamische Recht nicht gelten. Wie die neuen Regeln genau aussehen werden, scheint allerdings noch unklar zu sein – vermutlich aber werden sie wesentlich weniger restriktiv als im Rest des Landes ausfallen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian interpretiert „Neom“ als ein „Laboratorium fĂŒr Experimente mit dem privaten Regieren“. Die Zone solle nicht vom saudischen Staat, sondern von ihren AktionĂ€ren betrieben werden, von einer autonomen Regierung, deren Gesetze von den Investoren in einem Statut festgelegt wĂŒrden. Die Anteilsscheine sollen an der Börse in Riad gehandelt werden. Die einzige Pflicht der Direktoren wĂŒrde darin bestehen, die Investitionen der AktionĂ€re zu schĂŒtzen. Mohammed bin Salam, so Slobodian, hĂ€tte „Neom“ denn auch als „erste kapitalistische Stadt der Welt“ bezeichnet (Slobodian, Seite 327).

BestÀtigt wird die Sicht Slobodians vom deutschen Berater des saudischen Kronprinzen. Originalton Klaus Kleinfeld:

„Und dann dĂŒrfen wir hier alles ausprobieren, ohne dass wir erst auf eine bestehende Infrastruktur RĂŒcksicht nehmen mĂŒssen. Auch neue Formen der Gesetzgebung: Wir haben die volle gesetzgeberi-sche AutoritĂ€t!
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz hat uns aufgegeben: ‚Schreibt die Gesetze in der denkbar
Investoren-freundlichsten Art und Weise. Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe zweier großer
internationaler Anwaltskanzleien.“ (Deutschlandfunk)

„The Line“ ist allerdings nicht die erste Idee fĂŒr eine am Reißbrett entworfene Öko-Megastadt, die darauf gerichtet ist, den Kapitalismus von allen BeschrĂ€nkungen zu befreien. Bekanntlich lĂ€sst sich das nirgendwo sonst so leicht verwirklichen wie in einer beinharten Autokratie. Der Journalist Claas Gefroi ordnet das Projekt „Neom“ in eine seit Jahren ablaufende Entwicklung ein, die weltweit vorangetrieben werde – mit einer klaren Zielstellung. Neue StĂ€dte und Wirtschaftsregionen wĂŒrden geplant, „die von privaten Kapitalgebern und Unternehmen finanziert, besessen und verwaltet werden und als möglichst autonome Gebiete nicht oder nur noch rudimentĂ€r dem Rechts- und Steuersystem des jeweiligen Landes unterliegen“. Auf Grundlage einer auf Ungleichheit und Eigentumsrechten fixierten Ideologie solle ein politisch-ökonomisches System etabliert werden, „das auf maximaler Ungleichheit basiert, jegliche soziale und finanzielle Absicherung der Besitzlosen durch den Staat unterbindet und generell jedwede staatliche Steuerung und Kontrolle ablehnt“. Im Kern, so Gefroi, gehe es um eine Umwandlung von Staatsgebieten in Privatterritorien: „Die Folgen einer solchen libertĂ€ren Entwicklung wĂ€ren fatal“. (Gefroi, Seite 46)

*„Neo“ im Kunstwort „Neom“ ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen und reprĂ€sentiert das Neue; die Endung „m“ bezieht sich auf das Arabische und steht fĂŒr die Zukunft (mustaqbal).

Quellen:

Thoralf Cleven: „Megacity Neom: Gigantomanie im WĂŒstensand“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 5. Januar 2023

Anna Gauto: „Neom-Projekt fĂŒr deutsche Firmen lukrativ – aber auch sauber?“, Handelsblatt (Online) vom 20. Februar 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/saudi-arabien-neom-projekt-fuer-deutsche-firmen-lukrativ-aber-auch-sauber-01/100014785.html 

Claas Gefroi: „Durch die WĂŒste“, Konkret, 7/2023, Seite 44-46

Dominik Hochwarth: „‚The Line‘ Saudi Arabien: Mehr als ein MĂ€rchen aus 1001 Nacht?“, ingenieur.de (VDI Verlag), 6. MĂ€rz 2024
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/bau/saudische-megacity-the-line-mehr-als-ein-maerchen-aus-1001-nacht/

Tom Porter: „Der saudische Kronprinz will eine milliardenschwere Smart City in der WĂŒste errichten: China soll dafĂŒr Überwachungstechnologie bereitstellen“, Business Insider, 24. Februar 2023
https://www.businessinsider.de/politik/welt/neom-der-saudische-kronprinz-plant-ueberwachte-smart-city/ 

Quinn Slobodian: „Kapitalismus ohne Demokratie“, Berlin, 2023

Deyan Sudjic: „Neom, die WĂŒstendystopie“, Merkur, April 2023, Seite 77-80

Marc Thörner: „Blut, Sand und Beton“, Deutschlandfunk/WDR (Erstsendung am 20. Februar 2024)
https://www.hoerspielundfeature.de/blut-sand-und-beton-100.html 

 

 

 

 

Krieg als Konjunkturprogramm

 Kapitalismus beruht auf Wachstum. Und kommt das Wirtschaftswachstum (aus welchen GrĂŒnden auch immer) ins Stocken, haben wir es ĂŒber kurz oder lang mit einer Krise zu tun. Krisen gibt es seit dem frĂŒhen Kapitalismus – zunĂ€chst allerdings im ĂŒberschaubaren Rahmen. Es gab damals beispielsweise noch genĂŒgend Regionen (sogar ganze Kontinente) mit vormoderner oder nicht vorhandener Wirtschaft, in die Unternehmen expandieren konnten, wenn die Wirtschaft ihres Staates ins Stocken geriet. Und es existierten noch reichlich ungenutzte technische Möglichkeiten fĂŒr die Weiterentwicklung oder auch NeugrĂŒndung von Industrien.

Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 war dann aber nicht nur besonders heftig. Sie hatte zudem ihre Hauptursache nicht in vorĂŒbergehender Störung des Wirtschaftswachstums (war also keine Durchsetzungskrise der Kapitallogik), sondern entstand im Gegenteil aus der verqueren Logik eben dieses Wirtschaftswachstums. Nach dem Ende einer gigantischen Konjunkturwelle – die wiederum aus dem damaligen Siegeszug fordistischer Massenproduktion resultierte – hatte die kapitalistisch strukturierte Industrieproduktion sich in einer FĂŒlle nicht absetzbarer Waren selbst erstickt. Und es bedurfte weltweit massiver Interventionen der jeweiligen Staatsapparate, ihre Volkswirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

Diese Interventionen erfolgten freilich von den betroffenen Regierungen auf sehr unterschiedliche Weise. In einigen Staaten wurde mittels entsprechender Sozialgesetzgebung wieder Massenkonsum erzeugt – was dann die Wirtschaft erneut ankurbelte. Diese Methode war letztlich die Geburt des keynesianischen Wohlfahrtstaates. Im Deutschland des Reichskanzlers Adolf Hitler erfolgte das Konjunkturprogramm allerdings ganz anders – mittels kreditfinanzierter HochrĂŒstung, die die Leute wieder in Arbeit und Lohn bringen sollte und dies vorĂŒbergehend sogar tat. Voraussehbare Folge war dann allerdings die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – mit weltweit ĂŒber 50 Millionen Toten.

Auf den Krieg folgte die Nachkriegskonjunktur, dann erneute Krisen, HochrĂŒstungsprogramme (es blieb glĂŒcklicherweise, jedenfalls in Europa, beim „Gleichgewicht des Schreckens“), schließlich dann der Siegeszug von Mikroelektronik und Netzkultur (aus dem dann wieder eine massenhafte Vernichtung von ArbeitsplĂ€tzen resultierte). Und nach dem Auslaufen dieser vorĂŒbergehenden Konjunkturwelle hatten wir von 2007 bis 2009 plötzlich die nĂ€chste Weltwirtschaftskrise. Die konnte im weltweiten Maßstab nur mittels einer gigantischen, nie wieder abtragbaren Staatsverschuldung bewĂ€ltigt werden. Dass auf sie in vergleichsweise kurzer Zeit wieder die nĂ€chste Weltwirtschaftskrise folgen wĂŒrde, war abzusehen. Und auch, dass diese Krise nicht mehr mittels einer simplen Kreditaufnahme bewĂ€ltigt werden könne.

Damit haben wir es nun seit mehreren Jahren zu tun – inklusive verzweifelter Versuche diverser Wirtschaftsunternehmen, Staatsapparate und multistaatlicher Organisationen, eine neue Konjunkturwelle herbeizuzaubern.

Geht es derzeit in Deutschland etwa um einen besonders perfiden Versuch, konjunkturellen Aufschwung zu erzwingen – wieder einmal mittels kreditfinanzierter HochrĂŒstung? Es mag so scheinen. Dass solche HochrĂŒstungsprogramme nur ein Vorgriff auf dann unweigerlich folgende Wellen von Vernichtung und Raub sein können, scheint bei deutschen Eliten nie angekommen zu sein.

Beim derzeitigen Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine SpĂ€tfolge des Zerfalls der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Die Ukraine als industriell unterentwickeltes Gebiet gehörte – wie andere Regionen auch – zu den Verlierern dieses Zerfallsprozesses. Beim jetzigen Krieg geht es – abgesehen von allen Fragen der politischen Verfasstheit und des Völkerrechts – darum, ob die Ukraine als wirtschaftliches AnhĂ€ngsel Russlands wieder ein Spielball russischer Oligarchen und Staatsunternehmen wird oder aber endgĂŒltig ein Spielball westlicher Großunternehmen bleibt. Ein grĂ¶ĂŸerer Teil der ukrainischen AgrarflĂ€chen und Industrieobjekte befindet sich jedenfalls bereits im Besitz westlicher Unternehmen. Und die westliche RĂŒstungsindustrie profitierte bisher mĂ€chtig vom Krieg – ebenso allerdings russische RĂŒstungsschmieden. Und keines der Unternehmen, die am Krieg verdienen, ist naturgemĂ€ĂŸ an einem Friedensschluss interessiert.

Es besteht mittlerweile die reale Gefahr, dass der bisher lokal begrenzte Konflikt in Richtung eines atomar gefĂŒhrten Weltkrieges eskaliert. Die Zahl der Opfer eines solchen Krieges ist schwer voraussehbar – sie dĂŒrfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der Opfer des letzten Weltkrieges weit ĂŒbersteigen.

Deutsche Wirtschaftsunternehmen scheinen in einer solchen Situation aber vordergrĂŒndig erst einmal weitere Expansionsmöglichkeiten zu wittern – und ihre Lobbyisten demzufolge entsprechend instruiert zu haben. Ein Beispiel: Anstatt ein Ende der Eskalation anzustreben, forderte in Deutschland kĂŒrzlich der StĂ€dte- und Gemeindebund ein Milliardenpaket zum Schutz der Bevölkerung vor einem möglichen Krieg aufzulegen. Dies hört sich zwar zunĂ€chst vernĂŒnftig an. Gemeint ist allerdings ein Bauprogramm – in erster Linie fĂŒr Atombunker. Konkret forderte HauptgeschĂ€ftsfĂŒhrer AndrĂ© Berghegger mehr Bunker in Deutschland. Von den 2000 wĂ€hrend des Kalten Krieges errichteten öffentlichen SchutzrĂ€umen seien nur noch 600 vorhanden: „Es ist dringend notwendig, stillgelegte Bunker wieder in Betrieb zu nehmen“. Außerdem sollten neue, moderne SchutzrĂ€ume gebaut und zusĂ€tzliche Sirenen installiert werden. Besonders die letzte Forderung dĂŒrfte bei denen, die noch den Zweiten Weltkrieg und die Hochzeiten des Kalten Krieges miterlebt haben, böse Erinnerungen aus Kindheit und Jugend wachrufen.

Dass im Fall eines atomar gefĂŒhrten Krieges solche „SchutzrĂ€ume“ nur sehr bedingt – und dann auch nur fĂŒr relativ kurze Zeit – Teile der Bevölkerung schĂŒtzen können, wird derzeit in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Auch nicht, dass anstelle einer weiteren Eskalation Verhandlungen mit der Gegenseite vernĂŒnftig wĂ€ren. In einem atomar gefĂŒhrten Krieg kann es jedenfalls keine Sieger geben – auch wenn danach ĂŒberlebende Teile der Bevölkerung es schaffen, noch ein paar Monate in unterirdischen Bunkern auszuharren.

Gibt es in dieser Situation denn gar keinen Lichtblick? Doch. Ausgerechnet Papst Franziskus als weltweites Oberhaupt aller Katholiken kritisiert die Waffenindustrie als „Drahtzieher der Kriege“ und fordert zum wiederholten Mal ein „Nein zum Krieg“ auf allen Seiten. Und laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der BundesbĂŒrger die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ab und ist nach wie vor fĂŒr mehr diplomatische BemĂŒhungen um einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen.

Was hat dies alles aber nun mit WirtschaftskriminalitÀt zu tun? Krieg bedeutet Raub und Zerstörung, ist also verbrecherisch. Und GeschÀftemacherei mit dem Tod anderer ist dem Grunde nach kriminell.

Quelle:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staedte-und-gemeindebund-fordert-bau-neuer-bunker-a-37bdc35e-0b5b-4e6b-ae22-e6f050611818

 

René Benkos exklusiver Zugang zur Macht

Nach dem großen Crash des Signa-Konzerns ist der ehemalige Selfmade-MilliardĂ€r RenĂ© Benko aus der Öffentlichkeit verschwunden. Anfragen von Journalisten zu seinem kollabierenden Immobilienimperium beantwortet er nicht. Die mediale Recherche aber geht unvermindert weiter, um vor dem Hintergrund der undurchsichtigen Konzernstruktur Licht in die fragwĂŒrdigen Finanzströme und die politischen Verbindungen Benkos zu bringen. Denn die Folgen der Signa-Pleite sind gravierend: von Jobverlust betroffene BeschĂ€ftigte, verlorene Staatshilfen, Bauruinen, Politikversagen (und ja, auch geprellte Großinvestoren).

Hamburgs Polit-Elite in der Mitverantwortung

Im Januar 2024 rutschte Hamburgs Prestigeobjekt Elbtower, als eines der höchsten GebĂ€ude Deutschlands von einem Stararchitekten entworfen, in die Insolvenz. Heute symbolisiert die Bauruine sowohl den Niedergang der Signa-Gruppe als auch das herrschende autokratische PolitikverstĂ€ndnis, das Spekulanten Ă  la Benko den Weg zum Aufstieg ebnete. Denn gleich mehrere Erste BĂŒrgermeister sorgten in der Hansestadt dafĂŒr, dass eine deutsche Projektgesellschaft des Signa-Konzerns den Zuschlag fĂŒr das Bauvorhaben erhielt. Im Februar 2018 stellte der damalige Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) im Rahmen einer Pressekonferenz das Projekt der Öffentlichkeit vor. Offensichtlich wurde der Kaufvertrag ĂŒber das GrundstĂŒck schon zwei Tage davor abgeschlossen; die Zustimmung der politischen Gremien der Stadt Hamburg erfolgte dagegen erst ein Jahr nach der PrĂ€sentation.

Ein ehemaliger Abgeordneter der hamburgischen BĂŒrgerschaft (CDU) berichtete gegenĂŒber der ARD, dass es sich um ein „absolutes Geheimverfahren“ gehandelt habe, um eine „große Mauschelei“, von der die Volksvertreter:innen nur durch Zufall erfahren hĂ€tten. Schon damals sei Signa ein „höchst problematischer Bewerber“ mit einem schlechten Ruf gewesen. 122 Millionen Euro sollte das BaugrundstĂŒck fĂŒr Signa kosten, zwei andere Bieter hĂ€tten bis zu 13 Millionen Euro mehr geboten, wie sich spĂ€ter herausgestellt habe.

Benkos Kontakt zu Scholz hatte der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler und Signa-Lobbyist Alfred Gusenbauer hergestellt. Im MĂ€rz 2018 traf Benko dann Peter Tschentscher (SPD), den Nachfolger von Scholz als Erster BĂŒrgermeister. Bereits zwei Tage danach wurde ein Beratervertrag zwischen Signa und der Agentur von Ole von Beust (CDU), dem ehemaligen Ersten BĂŒrgermeister, abgeschlossen. Dessen Aufgabe bestand darin, Kontakte zur lokalen Politik und Verwaltung herzustellen und damit politische Zustimmung zu organisieren. Die Baugenehmigung, so eine ARD-Doku zum Fall Benko, sei dann unter Tschentscher in nicht einmal drei Monaten durchgewunken worden. Außerdem sei das Bauvolumen (BruttogeschossflĂ€che) nachtrĂ€glich um 18 Prozent vergrĂ¶ĂŸert worden, ohne dass sich der Kaufpreis erhöht hĂ€tte – nach Aussage des CDU-Abgeordneten ein völlig unĂŒbliches Verfahren im BaugeschĂ€ft und somit ein Geschenk an Benko.

 

Benko zieht Berliner Senat ĂŒber den Tisch

 Mit diesen Worten beschrieb schon Mitte 2023 Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, einen Deal zwischen dem Senat der Hauptstadt und der Signa Holding. Im August 2020 schloss der damalige rot-rot-grĂŒne Senat eine AbsichtserklĂ€rung („Letter of Intent“) mit Signa als EigentĂŒmerin des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof ab. „ArbeitsplĂ€tze gegen Baugenehmigungen von Großprojekten“ hieß die Devise. Nach Gennburg war das Versprechen der Signa-Gruppe, vier Galeria-Standorte zu erhalten, rechtlich allerdings nicht bindend, die milliardenschweren Baugenehmigungen in Berlin dagegen sehr wohl rechtswirksam (vgl. MieterEcho und ARD-Doku). Das ernĂŒchternde Resultat: Vier Jahre spĂ€ter existieren zwei der vier Warenhaus-Filialen nicht mehr, zugesagte Millioneninvestitionen blieben zudem aus. Eine wichtige Rolle bei der gemeinsamen AbsichtserklĂ€rung von Senat und Signa dĂŒrfte die Unternehmensagentur Joschka Fischer & Company gespielt haben. Als Benkos Lobbyist in Berlin sollte der Ex-Außenminister die Kontakte zu den Politiker:innen auf Bezirksebene und im Abgeordnetenhaus herstellen und vor allem bei den GrĂŒnen fĂŒr ein besonders umstrittenes Bauvorhaben werben.

An der Grenze der Bezirke Neukölln und Kreuzberg wollte Signa vor einigen Jahren auf einer zentralen Liegenschaft ein altes Karstadt-GebĂ€ude abreißen, dann fĂŒr 500 Millionen Euro einen neuen GebĂ€udekomplex mit Kaufhaus, Hotel, BĂŒros und Wohnungen errichten. Im Rahmen eines stĂ€dtebaulichen „Werkstattverfahrens“ sollte frĂŒhzeitig eine breite Mitwirkungsmöglichkeit der Öffentlichkeit gewĂ€hrleistet werden – so die offizielle Darstellung. FĂŒr die PrĂ€sidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, kam das einer letztlich von Signa ĂŒber Jahre organisierten „gelenkten Beteiligung“ gleich. Die BĂŒrger:innen dĂŒrften bei solchen Verfahren zwar ihre Meinungen kundtun, so die Architektin, aber danach passiere alles hinter verschlossenen TĂŒren. Stadt und Investor wĂŒrden entscheiden, welche WĂŒnsche berĂŒcksichtigt wĂŒrden. Und im Gegensatz zu einem normalen Planungswettbewerb erfahre niemand außerhalb, warum (vgl. SĂŒddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024). Berlins Lokalpolitikerin Katalin Gennburg hĂ€lt diese Form der BĂŒrgerbeteiligung fĂŒr eine Farce. Sie wĂŒrde formal durchgefĂŒhrt und medial ausgeschlachtet, aber den Einwendungen der BĂŒrger:innen kein Gewicht einrĂ€umen: „Das Verfahren von Signa war von Beginn an antidemokratisch und ist ohne Abstimmungen im Parlament gelaufen.“ (MieterEcho)

 

Staatshilfen perdu

Die enge politische Verbindung von Benko zur Politik zeigt sich auch bei der GewĂ€hrung öffentlicher Hilfen. Im Zuge der Coronakrise pumpte die Bundesregierung wĂ€hrend der ersten beiden Insolvenzen von Galeria Karstadt Kaufhof ĂŒber den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) insgesamt  680 Millionen Euro in das Unternehmen – obwohl es sich bereits vor der Pandemie in einer wirtschaftlichen Schieflage befand und der WSF schon damals mit einer erneuten Insolvenz gerechnet hatte (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten). Nach Expertenmeinung handelte es sich dabei offensichtlich um einen Rechtsbruch, da Unternehmen nach  EU-Richtlinien nur unterstĂŒtzt werden dĂŒrfen, wenn sie noch ĂŒber ausreichend Eigenkapital verfĂŒgen: „Bei Galeria war das zu diesem Zeitpunkt bereits bei null.“ (ebd.) Das war kaum ein Problem fĂŒr Benko, denn der verfĂŒgte offenbar auch ĂŒber einen direkten Kontakt zum Ex-Finanzsenator Berlins, Ulrich Nußbaum, der als damaliger StaatssekretĂ€r im Bundeswirtschaftsministerium fĂŒr die Staatshilfen an Galeria Karstadt Kaufhof zustĂ€ndig war. Von den 680 Millionen an staatlichen Hilfen ist aber offenbar nur ein kleiner Teil ausreichend abgesichert worden, weshalb sie fĂŒr die Steuerzahler weitgehend verloren sein dĂŒrften. 

Benko interessierte sich nur wenig fĂŒr ein profitables langfristiges HandelsgeschĂ€ft, dagegen sehr fĂŒr wertvolle Immobilien und spekulative GeschĂ€fte. Nach der kompletten Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof im Jahr 2019 wurden der Warenhauskonzern und die Immobiliensparte unter dem Dach der Signa rechtlich voneinander getrennt. Damit mĂŒssen die KaufhĂ€user Miete an Signa zahlen, und zwar extrem hohe. Und die trieben den Handelskonzern in den Ruin. WĂŒrden marktĂŒbliche Mieten gezahlt, seien die WarenhĂ€user durchaus profitabel, bestĂ€tigte jĂŒngst der Galeria-Chef in einem Spiegel-Interview (sieben bis elf Prozent des Umsatzes, statt ĂŒber 30 Prozent wie im Falle eines Kölner Galeria-Hauses).

Die ĂŒberhöhten Mieten bliesen ĂŒber Jahre die Immobilienwerte auf, so dass Benko Investoren, Banken und Ratingagenturen von seinem GeschĂ€ftsmodell ĂŒberzeugen und immer wieder gĂŒnstig an frisches Geld kommen konnte. Auch die Millionen an Staatshilfen (Steuergelder), als StĂŒtzung der KaufhĂ€user gedacht, flossen direkt in die Kasse von Signa. Benko ließ sich also staatliche Gelder fĂŒr das HandelsgeschĂ€ft zuschießen, trieb damit die Immobilienwerte an und schĂŒttete zugleich auf dieser Basis bis 2021 jĂ€hrlich hohe dreistellige MillionenbetrĂ€ge als Dividenden an die Investoren aus.

 

Geld vom Insolvenzverwalter

Viel Geld fordern auch die mehr als 300 GlĂ€ubiger von der seit vergangenen November insolventen Signa Holding – insgesamt etwa 8,6 Milliarden Euro. Der Insolvenzverwalter erkennt derzeit davon jedoch nur knapp ein Prozent an: 80,3 Millionen. Die SĂŒddeutsche Zeitung findet es bemerkenswert, dass einige von denen, die Millionensummen von der Signa Holding fordern, maßgeblich dazu beigetragen haben, die Holding in die ZahlungsunfĂ€higkeit zu steuern. Ganz vorne mit dabei sei RenĂ© Benko selbst. Er wolle gewissermaßen von sich selber Geld, denn die Holding gehöre ihm mehrheitlich.

„Allein die österreichische Familie Benko Privatstiftung fordert 75 Millionen Euro von der Holding. Weitere 57 Millionen Euro wollen Gesellschaften aus einem weiteren privaten Stiftungskonstrukt mit dem Namen von Laura Benko. Rechnet man die Forderungen aller Signa-Tochtergesellschaften zusammen, kommt man schnell auf eine Summe von mehr als 1,6 Milliarden Euro. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich dahinter beim ein oder anderen Fall auch der Name RenĂ© Benko verbirgt. So viel, wie Benko von sich selber, will sonst niemand.“ (SĂŒddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024)

 

Quellen:

„RenĂ© Benko: Der Zocker und die Politik“, ARD-Doku (WDR und NDR), Erstausstrahlung 7. Februar 2024, ein Film von Ingolf Gritschneder und Georg Wellmann

https://www.ardmediathek.de/video/story/rene-benko-der-zocker-und-die-politik/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zdG9yeS8yMDI0LTAyLTA3XzIyLTUwLU1FWg

Kristina Gnirke/Alexander KĂŒhn: „Wir trennen uns von FĂŒhrungskrĂ€ften“ (Interview mit Galeria-Chef Olivier van den Bossche und Insolvenzverwalter Stefan Denkhaus), Der Spiegel vom 3. Februar 2024, Seite 66-67

Lea Hampel: „Big in Berlin“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024

Michael KlĂ€sgen/Uwe Ritzer/Meike Schreiber: „Benko will viel Geld von Benko“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024

„Klassenpolitik am Hermannplatz“, Interview mit Katalin Gennburg, MieterEcho, Juni 2023, Seite 12-13

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2023/me-single/article/klassenpolitik-am-hermannplatz/

Stephanie Schoen: „Signa-Pleite: Sind 660 Millionen Euro Steuergelder fĂŒr Galeria Karstadt Kaufhof futsch?“, Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 28. Februar 2024

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/707608/signa-pleite-sind-680-millionen-euro-steuergelder-fuer-galeria-karstadt-kaufhof-futsch

Weitere informative Quellen:

„Der Elbtower in Hamburg: Desaster mit Ansage“, Handelsblatt-Crime (Podcast vom 11. Februar 2024)

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-elbtower-in-hamburg-desaster-mit-ansage/29648986.html

Gudrun Giese, „Benko hat SchĂ€fchen im Trockenen“, junge Welt vom 29. Februar 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/470332.immobilienspekulation-benko-hat-schÀfchen-im-trockenen.html

 

 

 

 

 

 

Regime Change von rechts?

Martin Sellner gehört zu den stĂ€ndigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die bis zu dessen Auflösung vom Institut fĂŒr Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks in Schnellroda (Sachsen-Anhalt)  herausgegeben wurde. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der IdentitĂ€ren Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-Mitgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen „Masterplan“ zur „Remigration“ von FlĂŒchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewanderten vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte vorgelegt.

Regime Change von rechts – schon der Titel verweist darauf, worum es Sellner vordringlich geht: Die Umfunktionierung und Neubewertung öffentlichkeitswirksamer Begriffe. Stammt regime change aus dem Vokabular westlicher politischer Strategen, die darunter den „Systemwechsel von autoritĂ€ren Regimen zu Demokratien“ (Wikipedia) verstehen, so will Sellner einen anderen, in gewisser Weise entgegengesetzten Richtungswechsel. Er nennt es „Orbanisierung“, also den ungarischen Weg zu einer gelenkten Demokratie. Militante Strategien lehnt er dabei gleichermaßen ab wie ein bloßes Vertrauen auf parlamentarische Verfahren. Die begrenzte Regelverletzung hat er ebenso wie anderes den linken Bewegungen entlehnt und bei den IdentitĂ€ren schon mit mehr oder weniger Erfolg praktiziert. Er hĂ€lt viel von „anschlussfĂ€higer Provokation“.

Die Umwertung und Platzierung des Begriffs „Remigration“ in der Öffentlichkeit ist ein weiteres Beispiel. UrsprĂŒnglich ein neutraler wissenschaftlicher Begriff fĂŒr die RĂŒckwanderung von Migrierten, wird er von Sellner und der AfD als Bezeichnung fĂŒr die von ihnen propagierte forcierte Abschiebung von AuslĂ€ndern ohne Aufenthaltstitel benutzt, aber auch fĂŒr das HerausdrĂ€ngen von straffĂ€llig Gewordenen und Unangepassten aus dem Land, die bereits einen deutschen Pass besitzen. Dabei soll es nach Sellner juristisch korrekt und möglichst human zugehen, wĂ€hrend der ThĂŒringer AfD-Chef Björn Höcke, der Sellners BĂŒcher und PlĂ€ne enthusiastisch begrĂŒĂŸt, in diesem Zusammenhang, eine Formulierung des Philosophen Sloterdijk aufgreifend, von einer dazu notwendigen „wohltemperierten Grausamkeit“ spricht.

Dass „Remigration“ wegen der Berichte ĂŒber das Potsdamer Treffen und der darauf folgenden Welle von Massendemonstrationen gegen rechts als Begriff eine steile Karriere in den Medien erlebte, wertet Sellner als großen Erfolg. Auch dass das Wort zum „Unwort des Jahres 2023“ erklĂ€rt wurde, nutze seiner Bekanntheit. Es mit dem richtigen, rechten Inhalt zu fĂŒllen sei nun die nĂ€chste Aufgabe. Das entspricht dem im Buch ausgebreiteten Konzept, auf lĂ€ngere Sicht eine „Umwertung aller Werte“ (Nietzsche) voranzubringen, die Definitionshoheit ĂŒber Begriffe zu erreichen oder das Wording und Framing, wie es im denglischen Neusprech heißt, zu bestimmen. Es geht um einen Kampf um die kulturelle Hegemonie, die die Voraussetzung dafĂŒr sei, politische Macht zu erringen. Darin folgt Sellner wie die Neue Rechte seit langem dem, was Antonio Gramsci in Mussolinis Kerker fĂŒr die italienische kommunistische Partei als erfolgversprechende Strategie entwickelt hat. BerĂŒhrungsĂ€ngste kennen sie dabei nicht. Ganz am Ende seines Buches zitiert Sellner sogar zustimmend aus Lenins „Was tun?“.

SelbstverstĂ€ndlich ist das alles Taktik. Schließlich geht es darum, eine Revolution im Dienste des Bestehenden zu inszenieren. Sellner nennt sie Reconquista – nicht zufĂ€llig ist das auch die Bezeichnung fĂŒr die Wiedereroberung muslimisch besetzter Territorien im mittelalterlichen Spanien, die nicht nur mit der Zwangschristianisierung oder Vertreibung der Mauren, sondern auch mit der der Juden einherging.

An keiner Stelle seines Buches findet sich bei Sellner eine Erkenntnis oder Kritik dessen, was das Wesen der Kapitalverwertung ausmacht oder auch nur eine ernsthafte Beschreibung von deren Krisen mitsamt ihren katastrophalen Auswirkungen auf Mensch und Natur. Alles erscheint vielmehr in erster Linie als bloß kulturelles bzw. ethnisches PhĂ€nomen und Problem. Dementsprechend sei das Hauptziel des angestrebten Regime Changes von rechts die „Erhaltung der ethnokulturellen IdentitĂ€t“ des deutschen Volkes. Ohne sie sei alles nichts. Es gehe gegen den „großen Austausch“ weiter Teile der Bevölkerung durch Fremde als perfiden Plan „globalistischer Eliten“, gegen den „universalistischen Schuldkult“, den die SiegermĂ€chte nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland aufgezwungen hĂ€tten, um es klein zu halten. Erst danach sei eine BeschĂ€ftigung mit der sozialen oder ökologischen Frage sinnvoll, bei der es selbstverstĂ€ndlich unterschiedliche Meinungen und LösungsansĂ€tze geben könne. Sellner verspricht: „FĂŒr eine ‚identitĂ€re Einheitsfront‘ muss niemand seine Überzeugung aufgeben.“

Man sieht, dass er sich hier den Weg zu BĂŒndnissen aller Art offen halten will, nicht nur zu einer Querfront mit Linken. Wie ĂŒberhaupt Sellners Buch eine Wendigkeit und FlexibilitĂ€t beweist, die man Vertretern der extremen Rechten vielleicht nicht so ohne weiteres zutraut. Sellner hat nicht nur Gramsci gelesen, den er mehrfach zitiert, sondern auch beispielsweise den US-amerikanischen Protestforscher Gene Sharp und andere einschlĂ€gige Literatur, der er wesentliche Einsichten in das Entstehen von Bewegungen und die Möglichkeiten zu ihrer Beeinflussung verdankt. Nicht umsonst bezeichnet Björn Höcke Sellners Opus als „Handbuch fĂŒr die deutsche Volksopposition“. Über viele Seiten werden dazu sehr konkrete Handlungsanweisungen gebracht und RatschlĂ€ge fĂŒr alle FĂ€lle vermittelt.

Aufstand der Kulturen

Martin Sellner beruft sich in seinem Buch auf Alain de Benoist, der fĂŒr die französische Nouvelle Droite als erster die „metapolitische“ Umfunktionierung linker TheorieansĂ€tze und Begriffe fĂŒr die Zwecke der Rechten vorgenommen hat. Deshalb hier aus dessen Manifest „Aufstand der Kulturen” von 1999 noch einige Zitate, die Sellners ideologischen Hintergrund beleuchten können. Da ist beispielsweise vom „westlichen Imperialismus” die Rede, gegen den „die Völker” kĂ€mpfen sollen. FĂŒr die Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen wird die „Logik des Kapitals” verantwortlich gemacht, die „den Menschen auf den Zustand einer Ware” reduziere, „deren Standort man verlegen” kann. Weltweit dominiere eine „Neue Klasse”, die ĂŒberall den „gleichen Menschentypus” erzeuge: „Kalte Sachkundigkeit, von der Wirklichkeit losgelöste RationalitĂ€t, abstrakter Individualismus, ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen
”

Ein Kernsatz lautet: „Gegen die Allmacht des Geldes, der obersten Macht in der modernen Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht möglichst durchzusetzen.”
Die alte Unterscheidung zwischen „schaffendem” und „raffendem Kapital” klingt von Ferne in folgender Formulierung an: „Der Industriekapitalismus wurde allmĂ€hlich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine HöchstrentabilitĂ€t auf Kosten des tatsĂ€chlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt”.
Wenn der Widerspruch nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen „Geld” und „Volk” bzw. den „Interessen der Völker” gesucht und gefunden wird, könnte es weiter gehen bis zu einer Ethnisierung des „schlechten” Kapitals – als „angelsĂ€chsisches” oder, bei den Neonazis, „jĂŒdisches” Finanzkapital. Alain de Benoist – wie auch Sellner – geht nicht so weit. Er begnĂŒgt sich mit der Ablenkungs- und SĂŒndenbockfunktion, die der Begriff des internationalen „Finanzkapitalismus” bereits bietet.
So lĂ€uft trotz des Einsatzes von viel scheinbar kapitalismuskritischem Vokabular doch wieder alles auf die Botschaft von der Verteidigung der nationalen und kulturellen IdentitĂ€t gegen den christlichen, aufklĂ€rerischen oder sozialistischen „Universalismus” hinaus. „FĂŒr starke IdentitĂ€ten”, „FĂŒr das Recht auf Verschiedenheit”, „Gegen die Immigration” sind die charakteristischen Forderungen dazu in den KapitelĂŒberschriften des Manifests. Der Mensch wird im Stil von Konrad Lorenz und IrenĂ€us Eibl-Eibesfeldt als „territoriales Tier” bezeichnet; seine „Entwurzelung” sei „eine soziale Pathologie unserer Zeit” (zit. nach Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen – EuropĂ€isches Manifest fĂŒr das 21. Jahrhundert, Junge Freiheit Verlag 2019).

 

Martin Sellner: Regime Change von rechts. Eine strategische Skizze. Verlag Antaios, Schnellroda, 4., ĂŒberarbeitete Auflage, Januar 2024. 304 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-949041-54-9