Mächtiger Mann der Wirtschaft: Kanzlerkandidat Merz als Lobbyist 

„Bereits im September wurde CDU-Chef Friedrich Merz als Kanzlerkandidat seiner Partei nominiert. Doch wer ist der Mann, der aktuell die größten Chancen hat, nächster deutscher Bundeskanzler zu werden?“ Diese Frage stellt der 2005 gegründete Verein LobbyControl in einem Newsletter vom 22. November 2024.

Lobbycontrol setzt sich nach eigener Darstellung „für Transparenz, demokratische Beteiligung und klare Schranken bei der Einflussnahme auf Politik und Öffentlichkeit“ ein. Dass sich der Verein mit Friedrich Merz beschäftigt, ist darum folgerichtig, denn dessen Biografie weist ihn deutlich als Vertreter wirtschaftlicher Interessen aus.

Wir zitieren aus dem Newsletter:

„Während seiner ersten Jahre als Bundestagsabgeordneter verdiente er nebenher kräftig in der Wirtschaft hinzu. (…)

Im Jahr 2009 wechselte Merz vollständig die Seiten und nutzte seine politischen Kontakte für zahlreiche Anschlussjobs in Unternehmen und als Wirtschaftsanwalt. Seine Ämterhäufung von Aufsichtsrats- und Beiratsposten machte ihn zum Millionär. Bei der Kanzlei Mayer Brown war Merz von 2005 bis 2021 als Anwalt tätig – und nahm dort auch Mandate an, bei denen ihm seine politischen Kontakte zugute kamen.

So trat er 2006 als Anwalt auf einer Sitzung der CDU-Landesgruppe NRW im Bundestag auf, um das Kohleunternehmen RAG bei dem anstehenden Börsengang zu vertreten. Doch er war zu der Zeit selbst noch Mitglied eben dieser Landesgruppe. Das ist ein klarer Interessenkonflikt, den unter anderem der Verfassungsrechtler Hans Herbert Armin scharf kritisierte. (…)

In der Kritik stand Merz auch wegen seines Aufsichtsratsmandats bei der Bank HSBC Trinkaus und Burkhardt von 2010-2019 – und zwar gleich doppelt: Zum einen beriet er gleichzeitig den Bankenrettungsfonds Soffin, was zur Frage nach einem weiteren Interessenkonflikt führte. Außerdem war HSBC in die Cum-Ex-Geschäfte verwickelt, durch die dem Staat Milliardeneinnahmen durch Steuertricks verloren gingen. Merz wird vorgeworfen, er müsse als Aufsichtsrat von den Geschäften gewusst haben, ohne sie zu verhindern – er selbst streitet dies ab.

Merz war in gleich mehreren Lobbynetzwerken aktiv: Er war 2005 Gründungsmitglied des Fördervereins der arbeitgeberfinanzierten PR- und Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die INSM fällt immer wieder durch fragwürdige Kampagnen auf. Außerdem war er von 2009 bis 2019 Vorsitzender der Atlantik-Brücke, einem exklusiven transatlantischen Lobbynetzwerk, in dem vor allem Konzernchefs, aber auch Spitzenpolitiker:innen und Journalist:innen Mitglied sind. (…)

Für einiges Aufsehen und Kritik sorgte Merz’ Lobbytätigkeit für den Finanzkonzern Blackrock, die er 2016 annahm. Zu seinen Aufgaben zählte laut dem Unternehmen auch, Kontakte zu Behörden und Regierungen zu pflegen. Diesen Lobbyjob gab er Anfang 2020 auf – er endete also kurz nachdem sich Merz das zweite Mal für den Parteivorstand beworben hatte.

Merz hatte zudem jahrelang Spitzenpositionen im ‚Wirtschaftsrat der CDU‘. Der Wirtschaftsrat ist aber kein Parteigremium, sondern ein mächtiger Lobbyverband, der Konzernen privilegierte Zugänge in die CDU ermöglicht. (…)

Weil der Lobbyverband Wirtschaftsrat dauerhaft im Parteivorstand sitzt, steht die CDU nun vor Gericht. Pikant dabei: Merz hatte selbst jahrelang Spitzenfunktionen im Wirtschaftsrat inne – und muss nun als Parteichef dessen Sonderrolle im Parteivorstand rechtfertigen.
Der Wirtschaftsrat hat einen Dauergaststatus im Parteivorstand – mit Rederecht. Solche Privilegien für die Wirtschaftslobby sind undemokratisch, weil andere gesellschaftliche Gruppen nicht die gleichen Zugänge haben. Und es ist auch noch rechtswidrig. (…)

Ähnlich wie der Wirtschaftsrat wettert Merz u.a. gegen verstärkten Klimaschutz: Höhere Klimaziele würden zu einer Zerstörung der ‚freiheitlichen Lebensweise‘ und der ‚marktwirtschaftlichen Ordnung‘ führen. Teile des Wirtschaftsrats fungieren dabei als Türöffner für Kreise, die die Rolle der fossilen Industrie an der Klimakrise herunterspielen oder sogar ganz infrage stellen. (…)

Merz streitet regelmäßig ab, dass er Lobbyist gewesen sei. Gegenüber der Zeit behauptete er, als er auf seine Tätigkeit für Blackrock angesprochen wurde: ‚Ich habe nie ein Lobbymandat angenommen.‘ Diese Argumentation wiederholte er auch im Podcast Hotel Matze. Er sei nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag lediglich in seinen Beruf als Anwalt zurückgekehrt. Dabei ließ er aus, dass er nebenbei noch zahlreiche weitere Aufsichts- und Beiratsfunktionen bei Konzernen und gleich mehrere Funktionen in Lobbynetzwerken hatte. Für Blackrock habe er keine Kontakt in die Politik gepflegt. Diese Aussage irritiert angesichts seiner Aufgabenbeschreibung, die genau solche Kontakte vorsah. (…)

Merz als ‚Mann der Wirtschaft‘ wurde durch zahlreiche Aufsichtsratsposten zum Millionär – und war zugleich jahrelang als Lobbyist in verschiedenen Funktionen tätig. Das gefährdet seine Unabhängigkeit, wenn es um die Abwägung verschiedener gesellschaftlicher Interessen geht.“

Quelle:

Christina Deckwirth: „Friedrich Merz: Kanzlerkandidat mit Lobbykontakten“, Newsletter von LobbyControl vom 22. November 2024

https://www.lobbycontrol.de/aus-der-lobbywelt/friedrich-merz-kanzlerkandidat-mit-lobbykontakten-118722/?mtm_campaign=2024-11-27&mtm_kwd=merz-2

Weitere Informationen zu Friedrich Merz unter:

https://lobbypedia.de/wiki/Friedrich_Merz

Vgl. auch die BIG-Nachricht vom 22. Dezember 2020: „Wer ist Friedrich Merz?“

https://big.businesscrime.de/nachrichten/wer-ist-friedrich-merz/

 

 

Shell gewinnt vor Gericht gegen Umweltschützer

Am 12. November 2024 hat ein Berufungsgericht in Den Haag eine Klage der Umweltschutzorganisation „Milieudefensie“ (Umweltverteidigung) gegen den Ölkonzern Shell zurückgewiesen. Damit wurde ein Urteil von 2021 gekippt, nach dem der Konzern seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 45 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren müsse. Darunter fallen auch die Emissionen der Zulieferer und Kunden. Shell wurde also auch für deren Klimaschäden verantwortlich gemacht. „Die Aktivistinnen und Aktivisten stützen sich bei dem Prozentsatz auf wissenschaftliche Studien, die genau voraussagen, um wieviel Prozent die Emissionen sinken müssen, damit die globale Erwärmung nicht über 1,5 Grad Celsius steigt.“ (junge Welt)

2021 hatte ein Richter in der ersten Instanz geurteilt, dass die Klimaveränderung Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, in Gefahr bringe. Deshalb könnten einzelne Konzerne auch privatrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden ‒ ein Urteil, das international für Aufsehen gesorgt hatte (vgl. junge Welt).

Die Umweltorganisation „Milieudefensie“ kann als Klägerin noch vor dem Obersten Gerichtshof der Niederlande Revision einlegen.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten über den juristischen Sieg von Shell (und damit der gesamten Öl- und Gasindustrie):

Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024:

„Das Urteil von Den Haag reiht sich ein in weitere gute Nachrichten für die Öl- und Gasindustrie. Gewinne und Börsenkurse stiegen hoch wie nie. Donald Trumps Wahl dürfte das Umfeld von Big Oil in den USA weiter verbessern. Und auf der Weltklimakonferenz in Aserbaidschans Hauptstadt Baku nutzte Präsident Ilham Alijew  seine Willkommensrede am Dienstag zum Frontalangriff auf den Westen. Aserbaidschan ist quasi der Geburtsort des Öl- und Gasgeschäfts, schon vor Jahrhunderten wurde hier nach den fossilen Brennstoffen gegraben. (…) Alijew verbat sich am Rednerpult vor Vertretern von fast 200 Staaten jegliche Kritik. (…) Dabei sei es doch die Europäische Union gewesen, die angesichts der Energiekrise vor zwei Jahren gebeten habe, die Erdgas-Lieferungen bis 2027 zu verdoppeln. (…) Damit stimmt Alijew ein in den Chor aus Staaten- und Konzernlenkern, die das Ende von Öl und Gas trotz der weltweiten Erderwärmung noch in weiter Ferne sehen. Bestätigt wird das von Zahlen der Umweltorganisation Urgewald, die zusammen mit 34 Partnern Geschäftsberichte und Prognosen von fast 1800 Unternehmen weltweit analysiert und am Dienstag veröffentlicht hat. Darin kommen sie zu dem Ergebnis, dass noch nie soviel Öl und Gas produziert wurde wie 2023. Mit 55,5 Milliarden Barrel Öl-Äquivalenten – alle fossile Brennstoffe eingerechnet – seien auch die Höchstwerte von  vor der Corona-Pandemie übertroffen worden. (…) 95 Prozent der  Öl- und Gasfirmen befänden sich weiter auf Expansionskurs, suchten neue Vorkommen oder erschließen sie bereits. Darunter Shell sowie andere europäische Konzerne wie Total Energies, BP, Eni, Equinor oder OMV. Viele Milliarden Euro würden in die Ausweitung der Geschäfte fließen, berichtet Urgewald. Die größten Förderer fossiler Brennstoffe sind demnach Staatsfirmen aus Saudi-Arabien, Iran, Russland, China, gefolgt von den US-Konzernen Exxon Mobil und Chevron. Shell ist Nummer zehn.“

Deutschlandfunk vom 12. November 2024:

„Es scheint gerade alles gegen den Klimaschutz zu laufen: Die mit ehrgeizigen Klimazielen gestartete Bundesregierung ist schachmatt. Der Klimaleugner Trump übernimmt das Ruder in den USA. Klimaschutz ist für viele zum Unwort geworden. Und jetzt gibt auch noch ein Gericht in Den Haag dem Ölmulti Shell recht. Die Ölkonzerne haben eine gewaltige wirtschaftliche Macht – Shell hat sich natürlich die besten Anwälte geholt. Bessere als vor drei Jahren, als der Konzern vor dem Bezirksgericht in Den Haag eine historische Niederlage kassierte. (…) Das hätte bedeutet, dass Shell seine Öl- und Gasproduktion mehr oder weniger hätte beenden müssen. Das Gegenteil ist bei Shell passiert – und nicht nur dort: alle Ölmultis weiten ihre Produktion aus. Denn mit Öl und Gas kann man gerade sehr viel Geld verdienen. So viel Geld, dass man die Rendite sogar ganz offen und kaltschnäuzig über den Klimaschutz stellt, wie es der BP-Chef getan hat.

Doch das neue Urteil, der vermeintliche Sieg von Shell, bedeutet nicht, dass hier ein Gericht eingeknickt ist. Es bedeutet vor allem, dass man sich die Rechtsgrundlage genauer anschauen muss. Wer entscheidet darüber, was private Unternehmen tun oder lassen dürfen, auf welcher Grundlage – und vor allem mit welcher Begründung? Die Begründung für den – je nach Sicht – drastischen oder historischen Schritt der ersten Instanz, einem einzelnen Unternehmen handfeste CO2-Vorschriften zu machen, hat die Vorsitzende Richterin im Berufungsprozess zurückgewiesen. Das konnte sie, weil der Staat beziehungweise staatliche Organisationen es versäumt haben, den Ölmultis klare Grenzen zu setzen. An ihnen ist es aber, jetzt zu handeln.“

Junge Welt vom 13. November 2024:

„‚Gerade Produkte von Unternehmen wie Shell haben ein Klimaproblem hervorgebracht‘, begann das Berufungsgericht laut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk NOS am Dienstag seine Urteilsbegründung. Deshalb sei der Konzern verpflichtet, mehr zu tun als nur das, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gerichtshof stellte jedoch in der Folge überraschend fest, es sei aber nicht erwiesen, ob es einen positiven Effekt auf die Umwelt und den Klimawandel habe, wenn Shell das Erreichen konkreter Prozentzahlen auferlegt bekäme. Die bauernschlaue Begründung: Wenn Shell weniger Öl und Gas verkaufen dürfte, würde eben die Konkurrenz freudig die Lücke füllen. In Sachen Klimawandel ändert sich also überhaupt nichts. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel für Kraftfahrzeuge oder nach Gas für die Heizung könne nicht von einem Gericht gedrosselt werden, widersprach der Gerichtshof dem Urteil aus der ersten Instanz.“

Taz (Marie Gogoll) vom 12. November 2024:

„Shell ist nicht an das Pariser Klimaabkommen gebunden, urteilte ein Gericht – zu Recht. Denn für die Einhaltung müssen die Regierungen sorgen. (…) Shell hat recht: Würde Shell weniger Öl liefern, würden Wohnungen eben mit dem Öl von einem anderen Konzern geheizt. Würde Shell Tankstellen dichtmachen, führen die Leute halt zu Aral. So argumentierte der Konzern schon vor dem Prozess. (…) Ursprünglich hatte die NGO die Klage damit untermauert, dass der Konzern sich an die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens halten müsse. Aber dieses Abkommen haben nun mal Regierungschef*innen unterschrieben, keine CEOs. Und das ist der entscheidende Punkt. (…)

Mit der Bemühung, Unternehmen zu verklagen, versuchen NGOs wie Milieudefensie, eine Lücke zu füllen, die die politischen Entscheidungsträger*innen offen lassen. Nämlich die, Klimaschutzverpflichtungen direkt für Konzerne festzulegen und durchzusetzen. Und zwar nicht nur für einen, sondern für alle.

Zum Beispiel mithilfe einer Steuer auf die Förderung fossiler Brennstoffe. Regierungen müssten dafür sorgen, dass die nicht an Verbraucher*innen weitergegeben wird. Dann könnte eine solche Steuer den sozial gerechten Ausstieg aus fossiler Energie und den Umstieg auf erneuerbare beschleunigen. Und die Unternehmen ließen sich dann auch auf juristischem Wege dazu verpflichten.“

Taz (Tobias Müller) vom 12. November 2024:

„Laut dem Gericht hat Shell, wie andere Unternehmen auch, durchaus eine Verpflichtung, die negativen Folgen des durch CO₂-Ausstoß entstandenen Klimawandels zu begrenzen. Das ‚Menschenrecht auf den Schutz vor gefährlichem Klimawandel‘ gelte nicht nur für Bürger gegenüber ihren Regierungen, sondern auch gegenüber Unternehmen, zumal solchen, deren Aktivitäten zu den Problemen beitragen. Auch durch EU-Gesetzgebung sei Shell gezwungen, ‚immer weniger Treibhausgase auszustoßen‘, so die vorsitzende Richterin de Carla Joustra. Daraus lasse sich allerdings keine Reduzierung um 45 Prozent oder einen anderen konkreten Anteil ableiten. (…)

Es gilt als sicher, dass Hauptkläger Milieudefensie, der niederländische Zweig von Friends of the Earth, nun höchstinstanzlich in Revision geht. Für Milieudefensie ist Shell ‚einer der größten Klimaverschmutzer der Welt‘. Mit dem 2019 begonnenen Prozess legte man den Grundstein für die Strategie, große Unternehmen mit besonders schlechter Emissionsbilanz persönlich für ihren Beitrag zur Erderwärmung verantwortlich zu machen und gegebenenfalls eine Reduzierung gerichtlich einzufordern. Diese Strategie hat man inzwischen auf mehrere andere große Akteure angewendet. Im Januar kündigte man einen Prozess gegen die größte niederländische Bank ING an, der man vorwirft, übermäßig viel mit stark verschmutzenden Unternehmen zusammenzuarbeiten.“

Neues Deutschland vom 12. November 2024:

„Zu Beginn des neuen Prozesses hatte es so ausgesehen, als könnte das Urteil wieder zugunsten der Klägerin Milieudefensie ausfallen. Das Gericht bekräftigte, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein Menschenrecht sei. ‚Es sind gerade die Produkte von Unternehmen wie Shell, die ein Klimaproblem geschaffen haben‘, so das Gericht. Shell sei verpflichtet, mehr gegen den Klimawandel zu tun, als es das Gesetz vorschreibe.

Allerdings soll dies ohne konkrete gerichtliche Auflagen geschehen. Denn allein Shell zu verpflichten, den Verkauf von Öl und Gas zu stoppen, um Emissionen einzusparen, sei sinnlos. Diese Lücke würde von der Konkurrenz sofort wieder gefüllt werden. ‚Es ist unwahrscheinlich, dass die fossilen Brennstoffe den Endverbraucher nicht trotzdem erreichen. Es ist möglich, dass das Öl und Gas über andere Zwischenhändler verkauft wird‘, so das Gericht.

Zudem äußerte die Vorsitzende Richterin Carla Joustra die Sorge des Gerichts, dass eine mögliche Reduzierung von Erdgas zu einem weltweiten Anstieg der Nutzung von Kohle führen könnte. Das sei noch schlechter für das Klima. Weiter tue Shell bereits, was Milieudefensie fordere, so die Einschätzung des Gerichts. (…) Nach Angaben von Juristinnen und Juristen ist dieser Fall weltweit einzigartig. Bereits im Jahr 2015 hatte eine andere niederländische Umweltorganisation vor Gericht gewonnen, mit einer Klage gegen den Staat und dessen Kohlendioxidausstoß. Dies hatte auch international ähnliche Fälle nach sich gezogen. Im Fall von Shell geht es nicht um einen Staat, sondern um einen Konzern – was noch mehr Möglichkeiten für internationale Klagen biete.“

FAZ vom 12. November 2024:

„Das Haager Shell-Urteil ist nur ein Zwischenschritt. Noch ist auch in den Niederlanden das letzte Wort nicht gesprochen, zumal ähnliche Umweltprozesse in vielen Staaten geführt werden. Es ist im Ergebnis richtig, einen Konzern nicht durch eine gerichtliche Entscheidung auf eine bestimmte Menge von schädlichen Emissionen zu verpflichten. (…) Das ändert aber nichts daran, dass die Unternehmen – und zwar alle – sich an die nationalen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen halten müssen. Die müssen auch durchgesetzt werden, soweit sie verbindlich sind. Und natürlich kann dann wieder die Justiz ins Spiel kommen.

Der Schutz der Umwelt darf jedoch nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege erfolgen – drastische Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Im Wege eines selbst erklärten Widerstandsrechts gegen demokratische Entscheidungen wird er nicht gelingen. Und auch nicht über den Weg politisierter Verbände, vor deren Karren sich Parlamente und Justiz nicht spannen lassen sollten. Lobbyarbeit für natürliche Lebensgrundlagen ist Teil einer blühenden Zivilgesellschaft, aber auch für Umweltschutzmaßnahmen muss man Mehrheiten haben und sich im Rahmen der Verfassung halten. Auch Urteile wie das neue aus Den Haag tragen dazu bei, das Thema hochzuhalten. Es ist wichtig, aber nicht das einzige.

Dabei wächst der juristische Druck auf die Konzerne. Mehr als 80 Klagen wurden bereits gegen die weltweit größten Öl-, Gas- und Kohleunternehmen eingereicht – darunter BP, Chevron, Eni, Exxon Mobil, Shell und Total Energies. Shell allein muss sich auf der ganzen Welt mehr als 40 Klimaklagen stellen.“

Handelsblatt vom 12. November 2024:

„Jetzt ist es offiziell: Die Zeiten der grünen Wende sind vorbei. Zumindest in der Ölindustrie. Was vor drei Jahren noch als großer Sieg der Klimaaktivisten gefeiert wurde, hat ein Zivilgericht im niederländischen Den Haag am Dienstag wieder aufgehoben. (…) Steigende Kosten, Stellenabbau und sinkende Wachstumsraten haben die öffentliche Debatte bestimmt, der Kampf gegen den Klimawandel gerät dabei immer mehr ins Hintertreffen. Sehr zur Freude von Big Oil. Die großen Öl- und Gaskonzerne dieser Welt verbuchen Milliardengewinne, während Klimawissenschaftler das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung ausrufen.

Nach dem Ende der Coronapandemie sind die Ölpreise so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Shell, BP, Exxon Mobil und Co. nutzen die Gunst der Stunde und fördern so viel Erdöl wie möglich. Unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump dürfte sich die Freude der Förderer noch weiter steigern.“

Quellen:

Thomas Hummel: „Gute Zeiten für Shell und Co.“, Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024

Dorothee Holz: „Das Gericht ist nicht eingeknickt“, Deutschlandfunk vom 12. November 2024

https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-urteil-shell-100.html

Gerrit Hoekman: „Shell siegt vor Gericht“, junge Welt (Online) vom 13. November 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/487764.kohlendioxidausstoß-shell-siegt-vor-gericht.html?

Marie Gogoll: „Shell hat recht“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Oel-Konzern-muss-CO-Ausstoss-nicht-senken/!6045610&s/

Tobias Müller: „Verantwortung fürs Klima: ja. Konkrete Auflagen: nein“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Revisionsurteil-im-Shell-Prozess/!6045617&s/

Sarah Tekath: „Klimaschutz: Shell muss Schadstoffe doch nicht reduzieren“, Neues Deutschland (Online) vom 12. November 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186699.klimaschutzprozess-shell-klimaschutz-shell-muss-schadstoffe-doch-nicht-reduzieren.html?sstr=shell

Reinhard Müller: „Haager Shell-Urteil: Guter Umweltschutz geht nur demokratisch“, FAZ (Online) vom 12. November 2024

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/shell-urteil-in-den-haag-guter-klimaschutz-110106791.html

Kathrin Witsch: „Das Motto lautet ab sofort wieder – ‚Drill, Baby, drill‘“, Handelsblatt (Online) vom 12. November 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/shell-das-motto-lautet-ab-sofort-wieder-drill-baby-drill/100087840.html

 

 

Bayer AG und andere deutsche Firmen setzen auf Trump

Am 5. November 2024 wird in den USA über die Präsidentschaft und die Zusammensetzung beider Kammern des Kongresses neu entschieden (alle 435 Sitze im Repräsentantenhaus, ein Drittel der Senatssitze). Ein auch für deutsche Unternehmen wichtiger Tag, denn für sie stellen die Vereinigten Staaten der wichtigste Exportmarkt dar:

„Fast 6.000 deutsche Unternehmen schaffen in den Staaten rund 900.000 Arbeitsplätze. Die USA liegen auf dem ersten Platz der deutschen Direktinvestitionen weltweit. Dabei schätzen Unternehmen insbesondere die Größe des US-Marktes und die stabilen wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen, so die Ergebnisse des AHK World Business Outlook Frühjahr 2024.“ (DIHK)

Nach Angaben der Wirtschaftswoche haben Ökonomen, unter anderem vom ifo-Institut, bereits vor Wochen davor gewarnt, „dass ein Wahlsieg Trumps erhebliche Folgen für die ohnehin bedrängte deutsche Industrie haben könnte. Sollte er nach einer Rückkehr ins Weiße Haus sein Wahlversprechen höherer Einfuhrzölle umsetzen, könnten die deutschen Ausfuhren in die USA um knapp 15 Prozent sinken. Trump hat einen Zollsatz von 60 Prozent auf US-Importe aus China und von 20 Prozent auf Importe aus der restlichen Welt angekündigt. Das würde deutsche Produkte in den USA viel teurer machen. Besonders getroffen würden Auto- und Pharmaindustrie.“ (Wirtschaftswoche)

Es überrascht aber nur auf den ersten Blick, dass deutsche Firmen im US-Wahlkampf mehrheitlich für Donald Trump und für Kandidaten der US-Republikaner spenden. Das gilt offenbar auch für den Chemie- und Pharmariesen Bayer. Vor allem stoße sich der Konzern an der Gesundheitspolitik der Demokraten, deren Ziel unter anderem sei, die Lebenshaltungskosten der US-Amerikaner zu senken. In konservativen deutschen Medien werde dies als wirtschaftspolitischer Populismus kritisiert, der unter anderem auch Maßnahmen gegen die hohen Lebensmittelpreise vorsehe (vgl. German Foreign Policy).

Zitat German Foreign Policy:

„Bereits im Rahmen des Inflation Reduction Acts (IRA) hatte die Biden-Administration der staatlichen Gesundheitsagentur Medicare das Mandat erteilt, mit Pharmakonzernen Arzneimittelrabatte auszuhandeln. Mitte August gaben Joe Biden und Kamala Harris als Ergebnis der jüngsten Verhandlungsrunde erhebliche Preissenkungen für zehn gebräuchliche Medikamente bekannt. Bayer etwa musste einen Abschlag von 517 auf 197 Dollar für eine Monatsration seines Blutverdünners Xarelto hinnehmen. ‚Wir haben Big Pharma besiegt‘, resümierte Biden bei einer Wahlveranstaltung in Maryland.“

Bayer setzt sich auch für Trump ein, um besser vor Glyphosat-Klagen geschützt zu sein und von der angekündigten Deregulierung im Umweltbereich zu profitieren. „2017 hatte Trump in einer seiner ersten Amtshandlungen die Chefin der US-amerikanischen Umweltbehörde EPA abgelöst. Nicht zuletzt setzt der Agrarriese – wie auch BASF, Fresenius und andere – in Sachen Unternehmenssteuer auf die Republikaner. Sie haben eine Senkung von 21 auf 15 Prozent angekündigt. Die Demokraten wollen den Satz hingegen auf 28 Prozent anheben.“ (German Foreign Policy)

Zitat German Foreign Policy:

„Deutsche Firmen spenden im US-Wahlkampf mehrheitlich für Donald Trump und für Kandidaten der US-Republikaner. Am deutlichsten bezogen die DAX-Konzerne Covestro und Heidelberg Materials Stellung; sie verteilten über 80 Prozent ihres Wahlkampfbudgets auf republikanische Kandidaten. Nur die Allianz und SAP zogen die Demokraten den Republikanern vor. Am meisten Geld gab T-Mobile aus. Der Konzern betrieb bisher mit über 800.000 US-Dollar politische Landschaftspflege. BASF investierte 328.000, Fresenius 204.000, Siemens 203.000, Bayer 195.000 US-Dollar. Auch die deutsche Politik umwirbt US-Republikaner – und zwar solche, die im Falle eines Sieges von Trump mäßigend auf den angekündigten protektionistischen Kurs einwirken könnten. Das Wirtschaftsministerium überprüft prophylaktisch die amerikanisch-deutschen Lieferketten und sucht nach alternativen Bezugsquellen für bestimmte Produkte, während die Unternehmen sich darauf einstellen, eventuell mehr vor Ort in den USA produzieren zu müssen. Die EU trifft ebenfalls bereits Vorkehrungen für einen Regierungswechsel. Sie stellt sich auf harte Verhandlungen ein und will auf Importzölle mit Gegenmaßnahmen reagieren.“

Quellen:

„Deutsche Firmen unterstützen Trump“, German Foreign Policy, 22. Oktober 2024
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9729 

„Deutsche Wirtschaft würde von Harris-Sieg mehr profitieren, sagen Experten“, Wirtschaftswoche (Online) vom 20. Oktober 2024
https://www.wiwo.de/politik/ausland/us-wahlen-deutsche-wirtschaft-wuerde-von-harris-sieg-mehr-profitieren-sagen-experten/30046782.html 

„Harris gegen Trump: Auswirkungen der US-Wahl auf die deutschen Unternehmen“, Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), 23. Oktober 2024
https://www.dihk.de/de/aktuelles-und-presse/tdw/harris-gegen-trump-auswirkungen-der-us-wahl-auf-die-deutschen-unternehmen-123202 

Rüstungsindustrie will Waffen als „nachhaltig“ einstufen lassen

„Stellen Sie sich vor, Sie wollen Geld anlegen und lassen sich dazu bei Ihrer Bank beraten. Sie entscheiden sich für einen Fonds mit Nachhaltigkeitszertifikat. Später stellen Sie fest, dass dieser nachhaltige Fonds nicht nur Aktien von Gas- und Atom-Konzernen enthält, sondern auch von Waffenherstellern. Und das ganz legal. Verkehrte Welt? Wenn es nach der Bundesregierung geht, könnte dies bald Normalität sein.“

Das sagt Aysel Osmanoglu, Vorstandssprecherin der GLS-Bank, nach eigenen Angaben die erste sozial-ökologische Bank Deutschlands. Sie verweist damit auf eine massive Lobbykampagne der Rüstungsindustrie, über die aktuell die tageszeitung (taz) und der Verein LobbyControl auf Basis einer gemeinsamen Recherche berichten: „Denn weil Europa mehr für Sicherheit und Aufrüstung machen will, ist der Rüstungslobby ein Coup gelungen: Investitionen in Rüstung sollen als ‚nachhaltige‘ Geldanlagen anerkannt werden – wegen ihres angeblichen Beitrages zum Frieden.“ (Newsletter LobbyControl)

Die Zugänge zu „nachhaltigen“ Fonds an den privaten Finanzmärkten waren für die Rüstungsindustrie bislang weitgehend verwehrt. In Zeiten der geforderten „Kriegstüchtigkeit“ jedoch sieht die Rüstungslobby ihre große Chance, neue Kanäle zu mehr Investitionen zu sichern. Sie argumentiert bereits seit Jahren damit, dass Krieg das Gegenteil von Umweltschutz sei und folglich Rüstung als Garant der Sicherheitspolitik einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leiste (vgl. Newsletter LobbyControl). Durchaus mit Erfolg, denn im European Defense Industrie Programme (EDIP), dem sogenannten Verteidigungsprogramm der EU vom März 2024, lässt sich nachlesen:

Die Verteidigungsindustrie der Union trägt entscheidend zur Resilienz und Sicherheit der Union und damit zu Frieden und sozialer Nachhaltigkeit bei. (zit. n. Nachdenkseiten)

LobbyControl ergänzt:

„Eine Klassifizierung der Rüstungsindustrie als nachhaltig hätte weitreichende Folgen. Aktien der Hersteller von Panzern, Raketen oder gar Nuklearwaffen könnten sich in nachhaltigen Aktienpaketen und Fonds verstecken, ohne dass Anleger:innen sich dessen bewusst sind.

Christian Klein, Professor für nachhaltige Finanzwirtschaft an der Uni Kassel, betont, dass dies nicht im Interesse von deutschen Anleger:innen ist: ‚Wir wissen aus unserer Forschung, dass zumindest deutsche Kleinanleger und Kleinanlegerinnen ,Rüstung’ als das Gegenteil von ,nachhaltig’ empfinden.

Es besteht also die Gefahr, dass durch die Pläne der Kommission, Menschen zu Investitionen in Rüstung gebracht werden, die das eigentlich explizit nicht möchten.‘“ (Aurel Eschmann)

Die taz blickt zurück:

„Die Umsetzung der Pariser Klimaziele von 2015 hat die EU-Politik in vielen Bereichen durchdrungen. 2018 hat die EU einen Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen ins Leben gerufen. Der mündete in einer Verordnung ‚über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor‘. Diese Verordnung hat Transparenzpflichten und Kriterien für Geldanlagen festgelegt, mit denen Greenwashing in der Finanzwelt verhindert werden soll. Die EU will damit sowohl die Verbraucher*innen als auch das Klima schützen. Als die Kommission 2022 Erdgas und Atomstrom als nachhaltig einstufte, gab es unter Umweltverbänden einen Aufschrei. Auch aus der taz kam der ‚Greenwashing‘-Vorwurf.

Bei anderen Branchen ist die EU-Kommission da bislang deutlich härter: Tabak, Glücksspiel und Rüstung gelten bis heute nicht als nachhaltig und sind für ESG-Fonds eigentlich Tabu – bis jetzt.“

Die Einstufung der Rüstungsindustrie als „nachhaltige“ Branche ist zwar noch nicht beschlossen, ihre Aufnahme in die EU-Taxonomie (Verordnung zur Definition von Nachhaltigkeit) könnte aber in den kommenden Monaten erfolgen.

Quellen:

Anton Dieckhoff: „Wie Rüstung nachhaltig werden soll“, taz (Online) vom 8. Oktober 2014

https://taz.de/Waffenlobby-in-der-EU/!6041646/

Aurel Eschmann: „Einfluss der Waffenlobby: EU-Kommission will Rüstungsanlagen als nachhaltig erklären“, LobbyControl e.V., 8. Oktober 2024

https://www.lobbycontrol.de/lobbyismus-in-der-eu/waffenlobby-ruestung-soll-als-nachhaltig-eingestuft-werden-117574/

„Grüne Bomben und Raketen“, Newsletter von LobbyControl e.V. vom 8. Oktober 2013

Aysel Osmanoglu: „Verdrehte Nachhaltigkeit: Erst Gas und Atomkraft, nun Waffen?“, Table.Briefings, 6. September 2024

https://table.media/esg/standpunkt/verdrehte-nachhaltigkeit-erst-gas-und-atomkraft-nun-waffen/

Ralf Wurzbacher: „Von Herzen, Rheinmetall“, NachDenkSeiten, 11. Oktober 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=122927

Tesla: Kranke unter Druck

In den letzten Tagen machte Tesla wieder einmal Schlagzeilen – dieses Mal wegen unangekündigter Hausbesuche bei häufig krankgeschriebenen Beschäftigten des Tesla-Werks in Grünheide bei Berlin. Konzernchef Elon Musk will sich selbst über die Lage informieren, wie er ankündigte. Der Werksleiter wiederum beteuerte, dass Hausbesuche nichts Außergewöhnliches und auch bei anderen Unternehmen üblich seien. Es solle nur an die Arbeitsmoral der Belegschaft appelliert werden. Teilweise habe der Krankenstand bei überdurchschnittlich hohen 15 Prozent oder noch höher gelegen.

Nach Ansicht von Experten für Arbeitsrecht sind Hausbesuche durchaus erlaubt, somit ist das Verhalten von Tesla legal (auch wenn die Praxis von den Mitarbeitern als Eingriff in ihre Privatsphäre erlebt wird).

„In den vergangenen Tagen gab es über Teslas Kontrollbesuche eine große öffentliche Diskussion. Dirk Schulze, Bezirksleiter der IG-Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen bezeichnete das Vorgehen der Führung in Grünheide als abwegig. Christian Görke, parlamentarischer Geschäftsführer der Linken im Bundestag sagte dem ‚Redaktionsnetzwerk Deutschland‘ mit Blick auf Musk: ‚Der reichste Mann der Welt muss endlich merken, dass wir hier nicht im Wilden Westen sind.‘

Zuletzt schaltete sich der deutsche Milliardär Carsten Maschmeyer ein. ‚Bodenlos‘ nannte der aus der Fernsehsendung ‚Höhle der Löwen‘ bekannte Unternehmer die Vorgänge bei Tesla am Freitagmorgen im Kurznachrichtendienst X. ‚Kontrollbesuche des Arbeitgebers helfen wirklich niemandem! […] Das ist ein bedenklicher Vorstoß in die Privatsphäre der Angestellten.‘” (Handelsblatt vom 27. September 2024)

IG-Metall-Vertreter Dirk Schulze berichtet, dass Beschäftigte aus fast allen Bereichen des Werks über eine extrem hohe Arbeitsbelastung klagen. Bei fehlendem Personal würden die Kranken unter Druck gesetzt und die noch Gesunden mit zusätzlicher Arbeit überlastet (vgl. Handelsblatt vom 26. September 2024).

Weitere Auszüge aus Zeitungskommentaren:

„Was eine solche Serie von Hausbesuchen wie jetzt bei Tesla aber in jedem Fall bewirkt, ist Einschüchterung. Eine Kultur des Misstrauens, von der man im Falle Teslas nicht zum ersten Mal hört. Eine ungewöhnliche hohe Arbeitslast verbunden mit einem Klima der Angst am Arbeitsplatz kann dazu beitragen, dass Menschen zusammenbrechen.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Tatsächlich gibt es auch woanders Ausreißer aus der Statistik, und zwar immer da, wo die Arbeitsbedingungen besonders problematisch sind, wie in der Altenpflege oder im Sozial- und Erziehungsdienst. Auch das Fehlen tariflicher Regelungen und Versuche, Gewerkschaften aus dem Betrieb herauszuhalten spielen eine Rolle. Tesla verweigert den knapp 12.000 Beschäftigten in Grünheide bislang einen Tarifvertrag.“ (junge Welt)

„Ja, bei Tesla gibt eine Menge zu tun. Immerhin ist bei der jüngsten Betriebsratswahl die Gewerkschaft sehr gestärkt worden. Aber ein Arbeitgeber wie Elon Musk arbeitet mit allen Tricks, um Mitbestimmung zu torpedieren. Vor der jüngsten Betriebsratswahl wurden an die Beschäftigten Buttons verteilt mit der Aufschrift: ‚No union needed‘, zu Deutsch: Wir brauchen keine Gewerkschaft. Tesla ist ein Beispiel für einen großen Missstand.“ (Frankfurter Rundschau)

„Mögliche Ursachen gibt es viele. Die Unfall- und Verletzungsgefahr bei Tesla ist bekanntermaßen hoch. die Bezahlung schlecht, und CEO Elon Musk hasst und bekämpft Arbeitnehmervertretungen wie die Pest. Wer unter schlechten Bedingungen arbeitet, sich schlecht ernährt, lange und mühsame An- und Abfahrtswege hat, ist schon mal tatsächlich öfter krank als zum Beispiel der Autor dieser Zeilen, der, um 11 Uhr morgens noch im bequemen Nachtgewand an seinem Schreibtisch aus Palisander sitzend, zur Arbeit kolumbianischen Hochlandkaffee und Müsli aus dem Bioladen mit im Garten selbst gepflückten Himbeeren nascht (dies für die zahllosen Interessierten nur am Rande zum Making-of).

Ein weiterer Faktor könnte in einer miesen Identifikation mit dem Arbeitgeber liegen. Man stelle sich vor, der eigene Boss negiert jede Form der Regulierung, kommt mit der Rakete ins Büro, teilt viele Charaktermerkmale mit griechischen Göttern, Waschbären sowie Donald Trump, hofiert Faschisten, gilt als libertärer Rechtsaußen und ist ein pathologisch gekränkter Feind jedes zivilen Sozialbegriffs. (…)

Da ziehe ich doch jeden Tag mit der Tesla-Hymne auf den Lippen frohgemut ins Werk. Nein, wer hier kontrolliert, weiß schon selbst, dass im eigenen System was faul ist; es ist im Grunde ein Offenbarungseid des schlechten Gewissens. Angesichts der exemplarischen Mischung aus Argwohn, öffentlich geschürtem Generalverdacht und Hilflosigkeit können sich die Empfänger:innen von Bürgergeld ja ebenfalls schon mal auf was gefasst machen. Kontrolle ist gut, mehr Kontrolle ist besser. Das Prinzip ist ähnlich wie in einer Diktatur: Ohne Druck, Angst und einen umfangreichen Kontrollapparat droht das System aufgrund seiner immanenten Schwächen sonst schnell instabil zu werden.“ (taz)

Quellen:

Claus-Jürgen Göpfert: „Nach der Landtagswahl in Brandenburg steht fest: Kohleausstieg ‚darf tatsächlich erst 2038 erfolgen‘“, Interview mit Katja Karger (DGB Berlin-Brandenburg), Frankfurter Rundschau (Online) vom 1. Oktober 2024

https://www.fr.de/wirtschaft/nach-der-landtagswahl-in-brandenburg-steht-fest-kohleausstieg-darf-tatsaechlich-erst-2038-erfolgen-93331221.html

Sönke Iwersen/Michael Verfürden: „Elon Musk nennt Krankenstand im Tesla-Werk in Grünheide ‚verrückt‘“, Handelsblatt (Online) vom 27. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/hausbesuche-elon-musk-nennt-krankenstand-im-tesla-werk-in-gruenheide-verrueckt/100073726.html

Dies.: „Tesla-Werksleiter verteidigt Hausbesuche bei krankgeschriebenen Mitarbeitern“, Handelsblatt (Online) vom 26. September 2024

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/tesla-gruenheide-tesla-werksleiter-verteidigt-hausbesuche-bei-krankgeschriebenen-mitarbeitern/100073080.html

Uli Hannemann: „Dein Chef prüft, ob du krank bist“, taz (Online) vom 25. September2024

Susanne Knütter: „Hausbesuche vom Chef“, junge Welt (Online) vom 27. September 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/484606.tesla-in-grünheide-hausbesuch-vom-chef.html?https://taz.de/Wie-Tesla-mit-Krankmeldungen-umgeht/!6035705/2

Ronen Steinke: „Wenn der Chef klingelt…“, Süddeutsche Zeitung vom 28./29. September 2024

Cum-Ex/Cum-Cum: Neues Gesetz lässt Steuerkriminelle jubeln

„Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang – und könnte dennoch schon bald enden.“ Die Befürchtung des Handelsblatts zielt auf die geplante Verkürzung von Aufbewahrungspflichten von steuerlich relevanten Unterlagen von zehn auf acht Jahre. Die bevorstehende Änderung ist Teil des am 26. September im Bundestag beschlossenen „Vierten Bürokratieentlastungsgesetzes“, das laut Webseite des Bundesjustizministeriums „die Wirtschaft, die Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltung von überflüssiger Bürokratie“ entlasten soll.

Die Belege sind aber wichtige Beweismittel bei Verfahren zu Cum-Ex- und Cum-Cum-Aktiengeschäften. Die ehemalige Staatsanwältin und jetzige Geschäftsführerin der NGO Finanzwende, Anne Brorhilker, warnt davor, dass auf Basis des Gesetzes viele der Täter ungeschoren davonkämen und Milliarden an Steuergeldern unwiderruflich verloren seien: „Sobald das Gesetz in Kraft ist, werfen die ihre Schredder an.” (Finanzwende)

Der Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte wird nach Expertenmeinung gewöhnlich auf zehn Milliarden Euro geschätzt, die Steuerausfälle für den deutschen Staat durch Cum-Cum-Deals auf über 28 Milliarden. Diese Zahl, betont Brorhilker, sei vermutlich noch zu niedrig gegriffen. Denn gerade bei Cum-Cum sei bisher nur die Spitze des Eisbergs bekannt – „und den Rest werden wir mit diesem Gesetz vielleicht nie kennenlernen“. (Finanzwende) Zurückgefordert hat der Fiskus bislang nur wenige Hundert Millionen Euro.

Dass die Aufbewahrungsfristen kürzer seien als die Verjährungsfristen, hält Brorhilker ohnehin für unsinnig. Diese Fristen nun noch zu verkürzen, für vollkommen absurd.

Tagesschau.de schreibt:

„Das Pikante: Erst vor wenigen Jahren hatte der Bund die Verjährungsfristen für besonders schwere Steuerhinterziehung noch von zehn auf 15 Jahre angehoben. Mit der Regelung sollte Ermittlern die nötige Zeit verschafft werden, die hochkomplexe Verfolgung der Steuerstraftäter aufzunehmen.

Florian Köbler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, sieht durch den Gesetzesentwurf auch die Gefahr, dass das Vertrauen in die Steuergerechtigkeit untergraben wird. Die Gewerkschaft vertritt die Interessen von Finanzbeamten und Steuerfahndern. ‚Der Gesetzgeber öffnet Straftätern Tür und Tor. Er verspielt leichtfertig die Mittel des Rechtsstaats. Ohne Not und ohne Sinn. Ein Geschenk an Kriminelle‘, sagt Köbler.“

Die Bundesregierung möchte die Wirtschaft mit der Gesetzesnovelle mit rund 944 Millionen Euro jährlich entlasten. Den Großteil, 626 Millionen Euro, soll dabei die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege und Rechnungen ausmachen. Das Einsparpotential ergibt sich nach Auffassung der Bundesregierung vor allem aus geringen Mietkosten für Lagerräume, in denen die Unterlagen aufbewahrt werden (vgl. Süddeutsche Zeitung). Florian Köbler von der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG) glaubt dagegen nicht an die Einsparung. „Das Gros der Wirtschaftsunternehmen habe der DSTG bestätigt, dass sie ihre Belege bereits digital aufbewahren würde. Und das koste vergleichsweise wenig: Bei einem Unternehmen mit digitaler Aufbewahrung werde die Einsparung im Gesetz auf zwölf Euro im Jahr berechnet, so die DSTG. Dies stehe in keinem Verhältnis zum potenziellen Schaden.“ (Süddeutsche Zeitung)

Finanzwende hat im Internet eine Petition gestartet und vor dem Berliner Reichstag gegen das Gesetz protestiert. Im Bundesrat soll das Gesetz Mitte Oktober die letzte Hürde nehmen, bevor es in Kraft treten kann.

Quellen:

Massimo Bognani: „Ein Geschenk an Kriminelle“, tagesschau.de vom 19. September 2024

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buerokratieentlastungsgesetz-100.html

„Neues Gesetz für Bürokratie-Entlastung gefährdet Aufklärung von CumCum-Delikten“, Pressemitteilung  von Finanzwende e.V. vom 20. September 2024

https://www.finanzwende.de/presse/neues-gesetz-fuer-buerokratie-entlastung-gefaehrdet-aufklaerung-von-cumcum-delikten

Volker Votsmeier: „Neues Gesetz könnte Milliarden-Rückforderungen gefährden“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-cum-geschaefte-neues-gesetz-koennte-milliarden-rueckforderungen-gefaehrden/100070984.html

Markus Zydra: „‚Es ist ein Geschenk an Kriminelle‘“‚ Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2024

 

 

 

Justizaffäre um die ehemalige Staatsanwältin Brorhilker

Die beiden Investigativ-Journalisten Sönke Iwersen und Volker Votsmeier beschreiben in einem ausführlichen Artikel des Handelsblatts, wie der Chef der Staatsanwaltschaft Köln sowie der Justizminister in NRW versuchen, das Ansehen der ehemaligen Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die zwischen 2013 und Mai 2024 im Justizskandal um Cum-Ex ermittelte, systematisch zu beschädigen. Brorhilker hatte im April 2024 um die Entlassung aus ihrem Dienstverhältnis gebeten. Als Grund führte sie in einem viel beachteten Interview mit dem WDR an, sie sei überhaupt nicht damit zufrieden, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt werde.

Zitat Handelsblatt:

„Sie war die Staatsanwältin, die Steuerhinterzieher aus der Finanzindustrie am meisten fürchteten. Dann bat Anne Brorhilker plötzlich um ihre Entlassung. Nun tritt ihr Vorgesetzter nach. Eine Justizaffäre nimmt ihren Lauf. (…) Deutschlands bekannteste Staatsanwältin in Sachen Steuerhinterziehung war nach Einschätzung ihres Vorgesetzten offenbar eine ziemliche Niete. ‚Inhaltlich unzulänglich‘, nennt Stephan Neuheuser, Chef der Staatsanwaltschaft Köln, die Arbeit von Anne Brorhilker. Ihre Berichtsentwürfe seien ‚regelmäßig deutlich überarbeitungsbedürftig‘ gewesen. Schon Neuheusers Vorgänger habe mit Brorhilker sprechen müssen, weil sie ihr ‚obliegende zentrale Pflichten nicht erfüllte‘.

Neuheusers Worte stammen aus einer Antwort von Benjamin Limbach auf eine Anfrage an die nordrhein-westfälische Landesregierung. Die FDP-Fraktion legte dem NRW-Justizminister von den Grünen am 23. November 2023 einen 25-seitigen Fragenkatalog vor. Hintergrund war ‚das beherrschende rechtspolitische Thema in Nordrhein-Westfalen‘, schrieben die Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Werner Pfeil: die Aufarbeitung der Steueraffäre Cum-Ex, in der Brorhilker federführend ermittelte.“

Der Staatsanwältin wurde schon zuvor das Leben schwer gemacht. Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) hatte im September 2023 angekündigt, Brorhilkers Abteilung aufzuspalten. Die Hälfte ihrer Fälle sollte sie an einen Kollegen abgeben, dem allerdings die Expertise in Steuerstrafsachen fehlte. Nach öffentlichen Protesten revidierte der Minister seine Entscheidung.

Zitat Handelsblatt:

„Die Abgeordneten fragten nun, wie Limbach überhaupt auf die Idee kommen konnte, seine eigene Koryphäe in Sachen Cum-Ex zu demontieren. Denn alles schien doch auf bestem Weg. Brorhilker hatte Steueranwalt Hanno Berger hinter Gitter gebracht, einen der größten Strippenzieher in der Cum-Ex-Affäre. Mit seiner Revision scheiterte Berger vor dem Bundesgerichtshof. Auch gegen mehrere Manager der Privatbank M.M. Warburg hatte Brorhilker Schuldsprüche erreicht.

Aktuell lief der Prozess gegen den Eigentümer Christian Olearius, dessen Nähe zum heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz den Cum-Ex-Skandal bis ins Kanzleramt trug. Im Frühjahr 2024 folgten in Bonn weitere Schuldsprüche. Das Gericht verurteilte zwei Londoner Investmentbanker zu mehrjährigen Haftstrafen. Außerdem traf es Yasin Qureshi, geständiger Ex-Vorstand der Varengold Bank.“

Die Zahlen, führt das Handelsblatt aus, würden für sich sprechen. „Allein mit den Erkenntnissen aus ihren Ermittlungen und den Informationen der Whistleblower konnten Staatsanwaltschaft Köln und Steuerbehörden 2016 schon Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zurückholen und weitere Auszahlungen durch das Bundeszentralamt für Steuern unterbinden. Brorhilkers Cum-Ex-Projekt ist keine Belastung für die Behörden. Es ist ein Profit-Center.“

Während der Ermittlungen Brorhilkers klagte die Staatsanwaltschaft Köln 16 Männer und eine Frau an. Alle Angeklagten wurden verurteilt, teils zu hohen Haftstrafen. „Kein Ermittler hat eine bessere oder auch nur vergleichbare Bilanz“, resümiert das Handelsblatt. Der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans nannte Brorhilker gar einen „Leuchtturm in der Bekämpfung organisierter Steuerkriminalität“. Auch international wurde die Arbeit der Staatsanwältin bewundernd zur Kenntnis genommen. Andere Kenner ihrer Arbeit werten ihre nachträgliche Demontage schlicht als Unverschämtheit. Das sei üble Nachrede, eine Schmutzkampagne, sagte etwa der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Stefan Weismann, Präsident des Landgerichts Bonn, bestätigte, dass Brorhilker eine Top-Ermittlerin gewesen sei und ihre Arbeit in der Sache hervorragend. Sven Wolf (SPD), Mitglied des Rechtsausschusses im NRW-Landtag, hält den Abgang Brorhilkers für ein „ganz schlechtes Signal“, denn sie habe diese Behörde „zur Speerspitze im Kampf gegen Steuerkriminelle“ gemacht.

Erstaunlich erscheint deshalb, dass die Antworten des Justizministeriums auf die Anfrage der FDP im NRW-Landtag von einer auffälligen Geringschätzung Brorhilker seitens ihres Vorgesetzten zeugen. Denn zur Beantwortung der Fragen der Parlamentarier ließ sich Justizminister Limbach nach eigenen Angaben von dem Leiter der Staatsanwaltschaft Köln informieren. Der „zeichnete von Brorhilker das Bild einer Minderleisterin“.

Zitat Handelsblatt:

„Schriftsätze aus ihrer Abteilung seien ‚oft unvollständig und unklar‘ gewesen, berichtete Neuheuser an Limbach. Er habe ‚einen Verwaltungsvorgang eingesehen‘ und erfahren, ‚dass diese Schwächen bereits länger bestanden‘. Brorhilkers Berichte hätten ein Verständnis für die Besonderheit der Cum-Ex-Verfahren vermissen lassen. Sie sei ‚in dringenden Fällen‘ kurzfristig nicht erreichbar gewesen. Vielmals hätte Brorhilkers Vertreterin die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.“

Nachforschungen in der Finanzbranche, der Politik und in der Justiz ergeben für die Redakteure des Handelsblatts „das Bild einer Schlangengrube“. Jahrelang sei Brorhilker von ihrer eigenen Behörde und dem übergeordneten Justizministerium behindert und angefeindet worden. „Ihre ärgsten Feinde“, zitiert das Blatt einen Insider, „waren selbst Staatsanwälte und Ministerialbeamte.“

Die FDP-Fraktion, so die Zeitung, werde das Thema in der nächsten Plenarsitzung des Landtags auf die Agenda setzen. Es bestehe die Idee, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, damit auch die zu Wort kommen könnten, die bisher weder im Plenum noch im Rechtsausschuss dazu die Gelegenheit gehabt hätten.

Brorhilker betont selbst immer wieder, dass für sie auch nach Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis das Dienstgeheimnis gelte. Sie könne weder jetzt noch in Zukunft über das sprechen, was sich in der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium zugetragen habe.

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Wie Politiker und Vorgesetzte Deutschlands erfolgreichste Staatsanwältin demontierten“, Handelsblatt (Online) vom 31. August 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex-wie-politiker-und-vorgesetzte-deutschlands-erfolgreichste-staatsanwaeltin-demontieren-01/100061787.html

 

 

Lohnbetrug billigend in Kauf genommen

Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zu bekämpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur Bekämpfung von Mindestlohnverstößen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurückgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die Lohndrücker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die Lücke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr Verstöße festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„Schätzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der Größenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen Beiträge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten Schäden auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die Realitäten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle Unterkünfte für ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die Gebäude an holzvertäfelten Garagen. Das Unternehmen ist längst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem ähnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten ausländischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus Rumänien. (…)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das häufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit über die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (…). Immerhin fast fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt.“

Gegenüber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der Universität Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf Bürgergeldbezieher verschoben, die Stütze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verständigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kürzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen über 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 

„Drill, baby, drill“

Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung zu bekämpfen ist Aufgabe der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), angesiedelt beim Zoll. Nach Angaben der Bundesregierung auf eine Anfrage von Die Linke im Bundestag sind Unternehmenskontrollen zur Bekämpfung von Mindestlohnverstößen im Jahr 2023 um rund 20 Prozent auf etwa 42.600 zurückgegangen. Statt der veranschlagten 11.250 Beamten ermittelten im vergangenen Jahr nur 8.900 Fahnder gegen die Lohndrücker, etwa 2400 Stellen blieben unbesetzt. Im Jahr 2022 betrug die Lücke nur knapp 1980 Dienststellen, berichtet die Augsburger Allgemeine Ende Juli. Trotz der geringeren Anzahl an Kontrollen wurden aber deutlich mehr Verstöße festgestellt und Verfahren wegen Mindestlohnbetrugs eingeleitet – etwa ein Viertel mehr als im Vorjahr.

Die Linken-Arbeitsmarktexpertin Susanne Ferschl kommt dennoch zum Schluss, dass durch die Minderbesetzung der Behörde insbesondere durch das Finanzministerium „Lohnbetrug billigend in Kauf genommen“ werde. Betrug bei Löhnen, Steuern und Sozialabgaben sei aber kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.

„Schätzungen von Ökonomen gehen davon aus, dass etwa zehn Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung an Recht und Gesetz vorbei erbracht werden. Das entspricht einem Wert von rund 500 Milliarden Euro. Das wiederum deckt sich mit der Größenordnung des Bundeshaushalts. Durch die Schattenwirtschaft entgehen dem Staat Steuereinnahmen und den Sozialkassen Beiträge. Der Zoll selbst beziffert die aufgedeckten Schäden auf 615 Millionen Euro, die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen.“ (Augsburger Allgemeine)

Besonders die Baubranche steht dabei im Fokus der Fahnder. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt eindrucksvoll die skandalöse Situation:

„Es ist ein unscheinbarer Eingang. Doch hier, direkt neben einer Bahnstrecke in Frankfurt am Main, hinter einem alten metallenen Rolltor, gibt es einen Einblick in die Realitäten des deutschen Niedriglohnsektors. Vor Jahrzehnten hat eine Baufirma an dieser Stelle Unterkünfte für ihre Angestellten errichtet. Auf den ersten Blick erinnern die Gebäude an holzvertäfelten Garagen. Das Unternehmen ist längst pleitegegangen, die Anlage schimmelt seitdem vor sich hin, vermietet wird sie trotzdem noch. 800 Betten gibt es in den Baracken und dem ähnlich heruntergekommenen Wohnblock daneben, drei bis vier pro Zimmer. Es ist das Zuhause von Hunderten ausländischen Bauarbeitern, die allermeisten von ihnen aus Rumänien. (…)

Alle, die hier wohnen, verdienen weit unter dem Tariflohn, teilweise auch unter dem Mindestlohn. In der Baubranche mit ihren vielen Subunternehmern kommt das häufiger vor. Doch das Problem des Lohnbetrugs geht weit über die Baustellen hinaus: Mehr als zwei Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen wurden 2021 unter Mindestlohn bezahlt (…). Immerhin fast fünf Prozent der arbeitenden Bevölkerung – ein Wert, der deutlich über dem EU-Durchschnitt liegt.“

Gegenüber der SZ stellt der Wirtschaftssoziologe von der Universität Duisburg, Gerhard Bosch, einen „politischen Unwillen“ bei der Verfolgung von Lohn- und Sozialversicherungsbetrug fest. „Manche meinen“, so Bosch, „das sei ein Standortvorteil, wenn man nicht so genau hinschaut“. Auch Finanzminister Lindner (FDP) beklagte wiederholt, in Deutschland werde zu viel am Fiskus vorbei gearbeitet. Die Augsburger Allgemeine kommentiert spöttisch: „Zuletzt hat sich der Fokus auf Bürgergeldbezieher verschoben, die Stütze kassieren und sich nebenher schwarz etwas hinzuverdienen. Die Ampel-Koalition hat sich darauf verständigt, ihnen die Leistung um 30 Prozent zu kürzen, wenn ein Sozialbetrug aufgedeckt wird.“

Quellen:

Christian Grimm: „Zoll fehlen über 2000 Beamte im Kampf gegen Schwarzarbeit“, Augsburger Allgemeine (Online) vom 30. Juli 2024

https://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/schattenwirtschaft-zoll-fehlen-ueber-2000-beamte-im-kampf-gegen-schwarzarbeit-102924229

 Leonard Scharfenberg: „Außer Kontrolle“, Süddeutsche Zeitung vom 17./18. August 2024

 

Union-Busting und dunkle Geschäfte beim Discounter

Vor fast zehn Jahren, im Dezember 2004, stellte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di das „Schwarzbuch Lidl“ vor und erntete ein beeindruckendes Medienecho. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete damals über skandalöse Arbeitsbedingungen, systematische Schikanen, unbezahlte Mehrarbeit sowie Maßnahmen, die Wahl von Betriebsräten zu verhindern. Zwei Jahre später veröffentlichten Journalisten das „Schwarzbuch Lidl Europa“. Danach trat Lidl selbst in Billiglohnländern Süd- und Osteuropas als Lohndrücker auf und machte damit einheimischen Einzelhändlern das Leben schwer.

Die gewerkschafts- und betriebsrätefeindliche Haltung des Konzerns bekamen vor wenigen Monaten auch die über 200 Beschäftigten im Lager von Lidl in der Ruhrgebietsstadt Herne zu spüren.

„39 Lager und Verteilzentren sorgen bundesweit für die Belieferung der mehr als 3000 Filialen. Nur in vier dieser Verteilzentren werden die Beschäftigten von einem Betriebsrat unterstützt. Beim Rest: gähnende Leere, was die gesetzliche Interessenvertretung der Belegschaft betrifft. Und in den Filialen: überhaupt kein Betriebsrat. Nirgends. Wenn man weiß, dass in Betrieben ohne Betriebsrat die Löhne meist niedriger, die Arbeitsbedingungen schlechter und das Betriebsklima unangenehmer ist als in Betrieben mit Betriebsrat, dann kann die Frage, ob sich Lidl lohnt, für die Lidl-Beschäftigten also mit einem ‚nicht wirklich‘ beantwortet werden.“ (Albrecht Kieser)

Der Eigentümer des Konzerns, Dieter Schwarz, installierte 2022 in Herne einen neuen Betriebsleiter, der prompt versuchte, den dort bestehenden Betriebsrat zu liquidieren.

„2022 wurde er offenbar in Herne als Mann fürs Grobe benötigt, da Lidl dort ein neues, erheblich größeres Lager baut. ‚Von Anfang an stellte der neue Chef klar, dass kritische Nachfragen zum Umzug weder vom Betriebsrat noch von der Gewerkschaft erwünscht sind‘, sagt Azad Tarhan, ver.di-Sekretär für den Handel im Bezirk Mittleres Ruhrgebiet. In den neuen Hallen, direkt gegenüber des heutigen Lagers, sollen zukünftig mindestens 400 Menschen mit neuester Technik arbeiten. Der Umzug beginnt voraussichtlich im September. ‚Ab 2026 wird es dann wohl ein großes Frischelager mit Kühlbereich im neuen Gebäude geben. Solche gravierenden Veränderungen bringen auch immer Veränderungen für die bestehenden Beschäftigten mit sich‘, erläutert Azad Tarhan. Arbeit bei Kühlschranktemperaturen ertrage nicht jede*r. Auch weitere Änderungen, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und der Wochenendarbeit wolle Lidl zu Lasten der Beschäftigten durchsetzen.“ (Gudrun Giese)

Zu den Versuchen, den Betriebsrat in Herne einzuschüchtern, gehörten auch Unterstellungen gegen dessen Vorsitzenden, der angeblich die Geschäftsführung, den Abteilungsleiter sowie Kolleg*innen beleidigt und beschimpft haben soll. Der Beschuldigte wurde gekündigt, eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung folgte. Das Arbeitsgericht lehnte Ende des letzten Jahres den Kündigungsversuch erstinstanzlich ab. Das Verfahren befindet sich aktuell offensichtlich in der zweiten Instanz.

Ver.di-Sekretär Tarhan startete auf Campact eine Petition. Darin wird die sofortige Rücknahme aller Kündigungen und Klagen gegen Betriebsratsmitglieder, ein Beenden des Union-Busting und der gewerkschaftsfeindlichen Propaganda gefordert.

Auch aus einem anderen Grund macht Lidl aktuell von sich reden. Einem Bericht des Manager Magazins zufolge soll der Konzern jahrzehntelang in vielen Filialen mit illegalen Tricks seine Verkaufsflächen vergrößert haben, um den Umsatz zu steigern und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nach Angaben eines ehemaligen Managers des Konzerns habe Lidl bis Ende der 2000er-Jahre deutschlandweit und ohne Genehmigung der Behörden in 300 bis 400 Filialen Lagerflächen zu Verkaufsflächen umgewidmet. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter sprach sogar von 550 Märkten. Die Lager seien zum Teil nur mit einfachen Trennwänden von den Verkaufsräumen abgetrennt gewesen und teils über Nacht entfernt worden. Die in den Plänen als Lager ausgewiesenen Fläche habe also insgeheim als Ausbaureserve gedient. „Laut Insidern“, heißt es in der Wirtschaftszeitschrift, „soll der Umsatz in den betroffenen Filialen durch das Manöver um 10 bis 20 Prozent gestiegen sein. Schätzungen zufolge könnte Lidl so mehr als 2,5 Milliarden Euro zusätzlich erlöst haben“.

In mehreren Fällen seien die Betrügereien bereits aufgeflogen. Offensichtlich zeigen sich die zuständigen Ämter aber weitgehend desinteressiert, die Verstöße aufzuklären: „Die Strafen, die Lidl dort zahlen musste, wo Behörden die Trickserei bemerkten, wirken im Vergleich zu den Mehrerlösen wie Peanuts.“ Die Stadt Herne etwa habe lediglich Bußgelder von rund 4.500 bis 7.600 Euro für Erweiterungen in drei Filialen verhängt, die in den Jahren 2000 bis 2006 aufgeflogen waren. In Leipzig habe der Konzern 2006 wegen den illegal vorgenommenen baulichen Veränderungen zur Vergrößerung der Verkaufsfläche in vier Märkten insgesamt nur 20.000 Euro Strafe zahlen müssen. Vier Kommunen legalisierten im Nachhinein sogar die Erweiterungen.

„Dass Lidls Manöver“, so das Manager Magazin weiter, „so lange unentdeckt blieb, hat offenbar noch einen anderen Grund. Wie es scheint, hat Hauptkonkurrent Aldi den Trick kopiert. (…) Kein Wunder, dass der Erzrivale womöglich wenig Interesse hatte, die Schwarz-Märkte zu enttarnen.“ 

Einen Rückblick auf die kriminellen und beschäftigtenfeindlichen Praktiken einer anderen Handelskette bietet ein Podcast des Handelsblatts. In zwei Folgen werden Aufstieg und Abstieg Anton Schleckers nachgezeichnet – sein „Weg vom Metzger zum Kopf eines Drogen-Imperiums“. Im Jahr 2012 folgte die Insolvenz: „Anton Schlecker, seine Frau Christa und seine Kinder kamen wegen Insolvenzverschleppung, Untreue und Bankrott vor Gericht. 2017 wurde Anton Schlecker zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, seine Kinder kamen ins Gefängnis.“ Auch Schlecker versuchte systematisch, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Das Geschäftsmodell war offenkundig auf eine besonders intensive Ausbeutung der sogenannten Schlecker-Frauen getrimmt.

Als einer der bekanntesten Sprüche der im operativen Geschäft aktiven Ehefrau des Firmengründers, Christa Schlecker, gilt: „Mitarbeiter sind wie Möbel. Wenn sie einem lästig werden, wirft man sie einfach raus!“

Quellen:

Albrecht Kieser: „Lidl lohnt sich nur für Dieter Schwarz“, Soz Nr. 03/2024

https://www.sozonline.de/2024/03/betriebsratsmobbing/

Gudrun Giese: „Team Lidl – nur leere Worte“, ver.di-Publik, 21. März 2024

https://publik.verdi.de/ausgabe-202402/team-lidl-nur-leere-worte/

„Stoppt Union-Busting im Lidl Lager Herne – Betriebsräte schützen!“,

https://weact.campact.de/petitions/stoppt-union-busting-im-lidl-lager-herne-kundigungen-und-klagen-gegen-betriebsrate-zurucknehmen

Tobias Bug: „Aus Lager mach Laden“, Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Juni 2024

Martin Mehringer: „Schwarz-Markt“, Manager Magazin, Juli 2024

Handelsblatt Crime: „Der Fall Schlecker: Teil 1 – der Aufstieg“, Podcast vom 16. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-der-fall-schlecker-teil-1-der-aufstieg/29851740.html

Handelsblatt Crime: Der Fall Schlecker: Teil 2 – der Abstieg, Podcast vom 30. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-fall-schlecker-teil-2-der-abstieg/29874088.html

 

 

 

 

 

 

Nachschlag: Anne Brorhilker im Handelsblatt-Interview

Nach ihren Interviews vom 27. Juni mit der Wochenzeitung Die Zeit und vom 4. Juli mit der Süddeutschen Zeitung führte Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker auch ein längeres Gespräch mit dem Düsseldorfer Handelsblatt: über ihre „erstaunlichen Erfahrungen mit der Finanzelite“ und der deutschen Justiz.

Hier folgen einige Zitate.

Brorhilker auf die Frage, ob sie mehr Beamte im Kampf gegen Cum-Ex fordern würde:

„Mehr und besser ausgebildet. Wenn man als Staat eine Kontrolle haben möchte, müsste man erst mal ganz genau wissen, was die Banken da machen. Dieses ganze Geplapper erst mal übersetzen. Normalerweise sitzt da ein Finanzbeamter, der völlig alleingelassen ist und der jetzt konfrontiert wird mit einer teuren Anwaltskanzlei und 1000 Seiten Gutachten, vollgestopft mit Fremdwörtern. Wie soll der das in seinem Alltag schaffen neben Dutzenden anderen Fällen?

(…)

Der Staat muss ernst nehmen, welche Interessen da auf der anderen Seite im Hintergrund stehen. Wie wichtig dieser Bereich, also steuergetriebene Geschäfte, für Banken ist. Weil sie einen erheblichen Teil ihrer Profite mit solchen Tax-Trades erzielen. Geschäfte, die einfach darauf abzielen, den Staat auszuplündern. Wenn wir das so behandeln wie normale Einkommensteuererklärungen, können wir das nicht abwehren.

Brorhilker auf den Hinweis des Handelsblatts, betroffene Banken, Wirtschaftsprüfer und Kanzleien hätten gegenüber der Redaktion immer wieder behauptet, sie würden „vollumfänglich“ mit den Behörden zusammenarbeiten.

„Meine Erfahrung ist anders. Im Gegenteil: Es wurde häufig alles getan, um unsere Arbeit zu erschweren und in die Länge zu ziehen. Wir haben etwa häufig erlebt, dass Dokumente ins Ausland geschafft wurden und angeblich nicht mehr nach Deutschland zurückgeholt werden konnten. In einem Fall kamen rund 100 Anwälte einer Kanzlei herbeigeeilt. Die haben sich uns teilweise in den Weg gestellt und die Durchsuchung aktiv gestört. Einmal habe ich einen bewaffneten Polizisten zur Hilfe geholt. Grundsätzlich gilt außerdem, dass bei Durchsuchungen maximal drei Anwälte erlaubt sind. Das habe ich ihnen klargemacht.“

Brorhilker zur Ankündigung des ehemaligen NRW-Justizministers Biesenbach vom 17. September 2019, „Anklagen im Akkord“ folgen zu lassen (das Handelsblatt hat mitgezählt: Bislang sind es zwölf):

„Also, von mir hätten Sie so etwas nicht gehört. Ich glaube, da war der Wunsch Vater des Gedankens. Ermittlungen in komplexen und sehr umfangreichen Wirtschaftsstrafverfahren sind immer langwierig, und die Beschuldigten haben oft exzellente finanzielle Möglichkeiten für massive Konfliktverteidigung.

(…)

Eine sehr laute und destruktive Art, Mandanten zu verteidigen. Angriffe auf die Staatsanwaltschaft, auf das Gericht. Eine Flut von Anträgen, Medienstrategien. Sie legt es darauf an, von der Sache abzulenken und auf Nebenkriegsschauplätze auszuweichen. Das frisst unglaublich viele Ressourcen, und darauf zielt die Strategie ab. Da kann man als Staatsanwalt oder als Richter so eingearbeitet sein, wie man will. Das Verfahren wird in die Länge gezogen.“

Brorhilker zur Frage, ob unter diesen Umständen nicht vollkommen unrealistisch erscheint, die noch offenen 130 Ermittlungsverfahren mit 1.700 Beschuldigten jemals abzuschließen:

„Die Zahl mag auf den ersten Blick hoch erscheinen. Aber warum eigentlich? Weil man sich nicht vorstellen kann, dass so viele Banker und Berater beteiligt waren? Die Steuerhinterziehung mit Cum-Ex-Geschäften hatte industriellen Charakter, das haben auch die Strafgerichte festgestellt. Das waren eben nicht wenige schwarze Schafe. Außerdem kann man nicht einfach so Ermittlungen einleiten. Dafür braucht es einen begründeten Anfangsverdacht. Den hat die Staatsanwaltschaft in jedem Fall sorgfältig geprüft. Bei Beschwerden, die häufig eingelegt wurden, ist dies von Gerichten überprüft und bisher in allen Fällen bestätigt worden.

Brorhilker zur Aussicht, dass die Welle von Anklagen jemals kommt:

„Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Man darf nicht vergessen, dass die Staatsanwaltschaft Köln zahlreiche Banken erst 2021 und 2022 durchsucht hat. Meist dauert es eine Zeit, bis die beschlagnahmten Daten ausgewertet werden können, auch weil sich die Banken dagegen mit Händen und Füßen wehren.

(…)

Drehen wir das doch mal um. Was wäre denn, wenn es hier um Drogenkriminalität ginge? Wenn ein Händler bei der Vernehmung sagt: ‚Ich hatte mit denen und denen und denen zu tun, und die haben das Zeug abgenommen. Hier sind dazu meine Unterlagen.‘ Soll der Staatsanwalt dann sagen: ‚Nein, 100 Abnehmer sind uns zu viel, dafür haben wir keine Kapazitäten?‘ Was würde das wohl für einen öffentlichen Aufschrei geben, wenn der Staat sich weigert, dem nachzugehen?“

Brorhilker zur Weigerung der Staatsanwaltschaft Hamburg gegen Cum-Ex zu ermitteln, obwohl sich mehrere Fälle direkt vor ihrer Haustür abspielten:

„Das liegt sicherlich nicht an mangelnder fachlicher Expertise. Es ist daher zu vermuten, dass andere Gründe dafür ausschlaggebend waren. Ich befürchte, es hat mit einer zu großen Nähe zwischen Politik und Banken in Hamburg zu tun.“

Brorhilker zu der Tatsache, dass Steuerhinterziehung seit einigen Jahren nicht mehr als Verbrechen gilt, sondern als milder Betrug:

„Ich halte das nicht für sinnvoll. Bei organisierter Steuerhinterziehung entstehen unfassbar hohe Schäden für uns alle. Es ist deshalb ungerecht, derart schwere Fälle – anders als beim Betrug – nicht als Verbrechen einzustufen. Der Gesetzgeber sollte das ändern. Auch, damit Einstellungen gegen Geldbuße bei derart schweren Fällen organisierter Steuerhinterziehung nicht mehr möglich sind.“

Brorhilker zu den sogenannten Cum-Cum-Geschäften:

„Hier ist leider bisher viel zu wenig passiert. Dabei sind die Schäden aus Cum-Cum-Geschäften nach Schätzungen ungefähr dreimal so hoch wie bei Cum-Ex. Sowohl der Bundesfinanzhof als auch das Bundesfinanzministerium haben längst klargestellt, dass auch diese Geschäfte rechtswidrig sind. Ich würde mir hier mehr Anstrengungen von den Finanzämtern wünschen, das Geld für uns alle zurückzuholen.“

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „‚Die Banken wehren sich mit Händen und Füßen‘“, Interview mit Anne Brorhilker, Handelsblatt (Online) vom 10. Juli 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/interview-anne-brorhilker-die-banken-wehren-sich-mit-haenden-und-fuessen/100049880.html

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Kampf gegen Cum-Ex: Anne Brorhilker in aktuellen Interviews

Anne Brorhilker, ehemalige Chefermittlerin im Cum-Ex-Steuerskandal, wechselte im April 2024 zur NGO Finanzwende und begründete ihren Schritt öffentlichkeitswirksam. Unter anderem kritisierte sie massive strukturelle Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. In aktuellen Interviews mit Die Zeit und der Süddeutschen Zeitung (SZ) äußert sie sich zur Frage, was sich in Deutschland in Sachen Cum-Ex ändern sollte.

Die Ermittler müssten in die Lage versetzt werden, Fachkompetenz aufzubauen, so Brorhilker gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit. Bei ihr hätte es Jahre gebraucht, bis sie sich in die hochkomplexen Vorgänge der Cum-Ex-Geschäfte eingearbeitet hätte. Das könne ein Ermittler nicht mal so neben dem Alltagsgeschäft schaffen. Es brauche dafür Spezialisten. Das Fachwissen könne auch nicht jede Staatsanwaltschaft, Steuerfahndung oder Polizei einzeln aufbauen.

Brorhilker in Die Zeit auf die Frage, was sie fordere:

„Dass nicht mehr jeder in seinem Bundesland und in seiner Behörde relativ allein vor sich hin wurschtelt, sondern dass Kräfte gebündelt werden und man über längere Zeit Personen in dieser Materie ausbildet, die dann auch an dem Thema dranbleiben. Derzeit machen Behörden aber das Gegenteil. Sie wechseln Personal regelmäßig aus, weil das in vielen Personalentwicklungskonzepten so angelegt ist.“

Zum Aufbau eines von der Bundesregierung angekündigten Bundesfinanzkriminalamts und der Frage, ob damit das Problem schon gelöst wäre, stellt Brorhilker fest. „Damit hätte man es lösen können. Aber der Straftatbestand der Steuerhinterziehung gehört leider nicht zu dessen Aufgabengebiet. Dabei wäre das sinnvoll gewesen.“

Ein Expertenteam solle auf Bundesebene angesiedelt werden, weil es sich um international organisierte Kriminalität handele. Das BKA sei für international organisierte Geldwäsche zuständig, warum dann nicht auch für international organisierte Steuerhinterziehung?

In der SZ beantwortet die ehemalige Staatsanwältin die Frage so:

„Ich finde es suboptimal, dass wir damit eine weitere Behörde gegen Geldwäsche bekommen sollen, obwohl wir dafür schon das Bundeskriminalamt haben. Es wäre sinnvoller gewesen, auch den Bereich der Steuerkriminalität mit reinzunehmen in die neue Behörde, was aber nicht geplant ist. Es braucht bundesweit eine zentrale Stelle für solche Ermittlungen. Es kann nicht sein, dass eine lokale Staatsanwaltschaft wie Köln in diesen Fällen für das ganze Bundesgebiet zuständig ist. Wir sollten das auch auf europäischer Ebene verfolgen, so wie die Europäische Staatsanwaltschaft das bei Umsatzsteuerkarussellen bereits tut.“

Brorhilker bewertet in Die Zeit auch die Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen, wie etwa den Aufbau des Landeszentralamts zur Bekämpfung der Finanzkriminalität in NRW und der dortigen Taskforce Geldwäsche:

„Ich will das Erreichte nicht schmälern, die Errichtung des neuen Landeszentralamts finde ich richtig. Aber schauen Sie sich die Cum-Cum-Geschäfte an (…) da liegt noch viel im Argen! Der Bundesfinanzhof hat schon 2015 entschieden, dass solche Geschäfte steuerrechtlich nicht in Ordnung sind. Daher muss der Staat das Geld zurückholen. Es gab dann weitere Urteile und auch konkrete Vorgaben des Bundesfinanzministeriums, zuletzt 2021. Wir haben jetzt 2014. Wo ist denn das Geld? Welche Bank musste denn zahlen? Nichts hören wir davon.“

In der SZ nimmt Brorhilker Stellung zur Frage, was sie sich nach ihrem Abschied als Staatsanwältin vorgenommen habe:

„Ich will das Übel an der Wurzel packen. Ich will darauf hinwirken, dass sich deutschlandweit die Strukturen der Justiz verändern. Diese Defizite bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sind extrem sozialschädlich. Bei Cum-Ex schätzt man konservativ mit zehn Milliarden Euro Schaden für den Fiskus. Die Schäden von Cum-Cum, einer weiteren Steuerhinterziehungsmethode, die noch nicht gestoppt ist, sind mindestens dreimal so hoch, auch konservativ geschätzt. Es macht das Zusammenleben in Deutschland nicht besser, wenn uns dauerhaft Geld aus der Kasse fließt.“

Quellen:

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

„Ich will das Übel an der Wurzel packen“, Interview von Meike Schreiber mit Anne Brorhilker, Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2024, Seite 18

 

Cum-Ex-Verfahren gegen Warburg-Banker Olearius eingestellt

Am 24. Juni 2024 entschied das Landgericht Bonn, das Verfahren wegen schwerer Steuerhinterziehung gegen den ehemaligen Chef der Hamburger Warburg-Bank Christian Olearius einzustellen. Die angeschlagene Gesundheit des 82-jährigen prominenten deutschen Bankers lässt es nach Auffassung des Gerichts nicht zu, den Prozess fortzusetzen. Die Schuldfrage bleibt damit juristisch ungeklärt.

Olearius wurde Steuerhinterziehung in 15 besonders schweren Fällen vorgeworfen. Insgesamt ließ sich  die Warburg-Bank zwischen 2006 und 2011 vom Staat 280 Millionen Euro Steuermittel erstatten, die sie zuvor gar nicht gezahlt hatte. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft Köln warf ihm vor, Cum-Ex-Deals initiiert und abgesegnet zu haben. Der Banker bestritt stets alle Vorwürfe. Olearius hätte im Fall einer Verurteilung mit einer Haftstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen müssen.

Vor allem hat das Gericht einen entscheidenden Punkt nicht ausermittelt. So wies es das Begehren der Staatsanwaltschaft zurück, von Olearius 43 Millionen Euro als dessen mutmaßliche persönliche Taterträge einzuziehen. Olearius hatte offensichtlich selbst fünf Millionen Euro in die illegalen Cum-Ex-Deals investiert und einen entsprechenden „Gewinn“ erschwindelt.

Das Handelsblatt dazu (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt vorerst die Frage, ob Olearius seine persönlichen Profite in Höhe von 43 Millionen Euro zurückzahlen muss. Das fordert die Staatsanwaltschaft – unabhängig von den inzwischen erfolgten Steuerrückzahlungen der Bank. Die Ankläger hatten am vorletzten Verhandlungstag die Überleitung des Verfahrens in ein sogenanntes selbstständiges Einziehungsverfahren beantragt. Die Kölner Behörde wollte so erreichen, dass Olearius zumindest die zu Unrecht erlangten Taterträge zurückzahlen muss.

Der bisherige Verfahrensstand erschien den Richtern jedoch nicht ausreichend fortgeschritten, um sicher feststellen zu können, welchen Tatbeiträgen welche Einnahmen zuzuordnen sind. Daher lehnten sie den Antrag der Staatsanwaltschaft ab.

Der Staatsanwaltschaft bleibt somit nur der Weg, ein neues Einziehungsverfahren zu beantragen. Persönlich in Bonn erscheinen müsste Olearius dann allerdings nicht. Für ihn geht es nur noch um Geld, nicht mehr um seine Freiheit.“

Die Süddeutsche Zeitung verweist auf die guten Beziehungen von Olearius zu Regierung und Justiz in Hamburg:

„Einst war Christian Gottfried Olearius, wie er vollständig heißt, einer der wichtigsten Bankiers Deutschlands. Er galt als Helfer in schwierigen Situationen, gern gesehener Gesprächspartner der Politik und das Idealbild eines hanseatischen Kaufmanns. Dass der Prozess in Bonn allerdings so viel Öffentlichkeit auf sich zog, lag nicht nur am Privatbankier und Elbphilharmonie-Mäzen selbst, sondern auch an dessen Kontakte zum jetzigen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).“ (Max Fluder)

Zur Erinnerung: Hamburgs Steuerbehörde hatte in den Jahren 2016 und 2017 auf eine Rückforderung von der Warburg-Bank in Höhe von 47 Millionen Euro verzichtet – in einer Zeit, als sich Scholz als damaliger Erster Bürgermeister der Stadt mehrmals mit Olearius getroffen hatte. Scholz hat bislang jede Einflussnahme auf das Steuerverfahren bestritten und kann sich an Details der Treffen nicht mehr erinnern.

Ohne die hartnäckigen Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft wäre der Banker wohl nie angeklagt worden. Das Neue Deutschland hält fest:

„Mit der Einstellung des Verfahrens gegen Christian Olearius, Ex-Chef der Hamburger Privatbank Warburg, bleibt die Schuldfrage offen. Dies ist Ergebnis der jahrelangen Untätigkeit der hanseatischen Behörden, die erst die illegalen Steuergewinne nicht zurückforderten und dann auch juristisch nicht aktiv wurden. Letztlich war es das Verdienst der Schwerpunktstaatsanwälte in Köln, dass der Prozess wegen schweren Steuerbetrugs überhaupt zustandekam.“

Auch die junge Welt bezieht sich auf den viel zitierten Skandal im Skandal:

„Der Skandal besteht dabei darin, dass der Prozess zunächst um Haaresbreite überhaupt nicht eröffnet worden wäre und dann über Jahre verzögert wurde, bis es 2023 doch noch losging. Andernfalls hätte das Verfahren deutlich früher beendet werden können, als sich der Bankster noch besserer Gesundheit erfreute.

So entgeht ein ganz dicker Fisch im ‚Cum-ex‘-Sumpf dem Strafvollzug.“

Das Handelsblatt äußert sich zur Frage, wer für die Kosten des Prozesses aufzukommen hat (Iwersen/Votsmeier):

„Offen bleibt auch, wer das Verfahren bezahlen muss. ‚Die notwendigen Auslagen des Angeklagten werden ersetzt‘, sagte Richterin Slota-Haaf. Das könnte noch zu Diskussionen führen. Olearius gab Prozessbeobachtern zufolge einen siebenstelligen Betrag pro Monat aus – über Jahre. Vor Gericht hatte er vier als besonders teuer geltende Anwälte an seiner Seite: Peter Gauweiler, Bernd Schünemann, Klaus Landry und Rudolf Hübner.

Für den Steuerzahler wird der Fall Olearius damit noch teurer, als er ohnehin schon ist. Die Staatsanwaltschaft Köln warf Olearius vor, für einen Steuerschaden von 280 Millionen Euro verantwortlich zu sein.“

Nach Aussage eines ZDF-Rechtsexperten sind die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeklagten tatsächlich von der Staatskasse zu erstatten. Sie werden in einem gesonderten Kostenfestsetzungsbeschluss festgestellt. Dabei werden aber offenkundig nicht die Kosten der Wahlverteidiger, sondern nur die der Pflichtverteidigung übernommen.

Volker Votsmeier vom Handelsblatt bestreitet in einem Kommentar, dass der Prozess aus medizinischen Gründen eingestellt werden musste. Der Abbruch würde das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben:

„Der Fall Olearius offenbart einen Makel im deutschen Strafrecht. Die Strafprozessordnung sieht vor, dass einem Angeklagten nur dann der Prozess gemacht werden darf, wenn er persönlich an der Hauptverhandlung teilnehmen kann. Diese Vorschrift ist im Grundsatz richtig. Nur so kann sich der Beschuldigte in einem öffentlichen Verfahren gegen die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft wehren. (…) Gerade bei einem Mann wie Olearius freilich sieht die Wirklichkeit im Gericht ganz anders aus. Gleich vier Anwälte vertreten ihn dort. Der Bankier hat in den neun Monaten kaum ein Wort gesagt. Seine Verteidiger dagegen zogen alle Register, um ein Urteil so lang wie möglich hinauszuzögern.

Das könnten sie auch ohne ihn tun. Der Paragraph 230, der in unserer Strafprozessordnung die Anwesenheit des Beklagten festschreibt, stammt aus 1877. Es gab damals kein Internet, auch Videokonferenzen waren unbekannt.

Olearius könnte sich heute problemlos aus Hamburg zuschalten. Das würde ihm auch die vierstündige Anreise ersparen. Fühlt er sich auch dafür zu schwach, könnte Olearius darauf vertrauen, dass ihn seine vier hochbezahlten Anwälte angemessen vertreten und über den Prozessverlauf informieren.

Das wird nicht passieren. Olearius fährt nach Hause. Jahrelange Ermittlungen, mehr als zwei Dutzend Prozesstage, ganze Aktenberge mit Zeugenaussagen und Beweisen – alles vergebens. (…) Ein Blick über die Grenze zeigt, dass es auch anders geht. In Frankreich, Italien, Belgien, Portugal und anderen Ländern ist es selbstverständlich, Verhandlungen ohne den Angeklagten zu führen. Auch in den USA wurden schon Menschen verurteilt, ohne dass sie anwesend waren. Es wird Zeit, die Anwesenheitspflicht in ein Anwesenheitsrecht umzuwandeln.“

Votsmeier kommt zu dem Schluss:

 „Gerade komplexe Wirtschaftsstrafverfahren sind für die Justiz herausfordernd. Ermittlungen dauern oft zehn Jahre und mehr. Weitere Jahre vergehen, bis die Hauptverhandlung eröffnet wird. Olearius‘ potenzielle Taten liegen heute bis zu 17 Jahre zurück.

Sie wiegen deshalb nicht weniger schwer. Es steht zu befürchten, dass weitere Cum-Ex-Verfahren enden wie das von Olearius. Strafrechtlich ist der größte Steuerskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte noch lange nicht aufgearbeitet. Mit jedem Jahr, das verstreicht, steigt das Risiko, dass die Gerichte selbst in schwerwiegenden Fällen kein Urteil mehr sprechen können.

Eines ist gewiss: Das Ende des Verfahrens gegen Olearius schadet unserem Rechtsstaat. Mancher Außenstehende mag das Treiben beobachten und zu dem Schluss kommen, mit dem sich schon zu viele abgefunden haben: Die Großen lässt man laufen.“

Nicht überraschend zeigte sich auch der ehemalige CSU-Politiker Peter Gauweiler, einer von Olearius‘ vier hochpreisigen Verteidigern, staatskritisch. Für ihn fehlt der Anklage jede Glaubwürdigkeit, da die Cum-Ex-Geschäfte der staatlichen Landesbank WestLB bis heute nicht strafrechtlich verfolgt würden: „Das Land NRW klagt Taten an, die es selbst begangen hat.“ (zit. nach taz)

Tatsächlich werden Cum-Ex-ähnliche Steuerraub-Modelle nicht nur von großen Banken, sondern auch von Volksbanken und Sparkassen genutzt (vgl. auch den BIG-Artikel vom 19. Dezember 2022). Der Verein Finanzwende berichtet, dass nach neuen Schätzungen für den Zeitraum von 2000 bis 2020 allein in Deutschland der Schaden aus Cum-Cum-Geschäften bei etwa 28,5 Milliarden Euro liegt.

Nach dem Eindruck von Ex-Staatsanwältin Anne Brorhilker, als engagierte Aufklärerin in Sachen Cum-Ex bekannt geworden, laufen die kriminellen Geschäfte weiter. So hätte sich das System weiter perfektioniert und verschiedene Varianten hervorgebracht. Sie kritisiert das fehlende staatliche Verfolgungsinteresse scharf:

„Bei Cum-Ex ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft inzwischen gegen 1.700 Beschuldigte. Jetzt stellen Sie sich mal vor, es wären 1.700 Drogendealer gewesen. Da wäre in Köln aber was los gewesen! Das hätte selbstverständlich sofort lückenlos aufgeklärt werden müssen. Aber bei Wirtschaftsstrafsachen passiert das oft nicht. Es wird zwar immer gesagt, vor dem Gesetz sind alle gleich, aber ich habe festgestellt: In Fällen, in denen es schwieriger, komplizierter und langwieriger wird, da kapituliert der Staat häufig.“

Abschließend noch einmal die Junge Welt:

„‚Cum-ex‘-ähnliche Steuerraub-Modelle florieren also weiterhin – und mit dem Wissen um den politischen Unwillen zur Strafverfolgung wohl jetzt erst recht. Schließlich waren die Einstellung des Verfahrens gegen Olearius und die Degradierung Brorhilkers nicht die einzigen erfreulichen Signale, die Steuerdiebe in letzter Zeit vernehmen durften. So wurde Mitte Juni bekannt, dass nach mittlerweile zwölf Jahren Ermittlungsarbeit gerade einmal 17 Verfahren gegen ‚Cum-ex‘-Verbrecher eröffnet wurden. Von den bislang rund 1.700 Verdächtigen muss sich also gerade mal ein Prozent vor Gericht verantworten. Aufstockung der Ermittlungskapazitäten? Pustekuchen.“

 

Quellen:

Klau Ott: „Der Skandal hinterm Skandal“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni

Hermannus Pfeiffer: „Olearius kommt so davon“, taz (Online) vom 24. Juni 2024

https://taz.de/Archiv-Suche/!6016239&s/

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Gericht stellt Verfahren gegen Olearius wegen Krankheit ein“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-gericht-stellt-verfahren-gegen-olearius-wegen-krankheit-ein/100046417.html

Volker Votsmeier: „Das Ende des Prozesses gegen Olearius schadet dem Rechtsstaat“, Handelsblatt (Online) vom 24. Juni 20254

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-das-ende-des-prozesses-gegen-olearius-schadet-dem-rechtsstaat/100046968.html

„Cum-Ex-Deals ohne Konsequenzen?“, Interview mit dem ZDF-Rechtsexperten Christoph Schneider, ZDF-heute live vom 24. Juni 2024

https://www.zdf.de/nachrichten-sendungen/zdfheute-live/cum-ex-prozess-schneider-video-100.html

Sebastian Edinger: „Einladung zum Steuerraub“, junge Welt vom 1. Juli 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/478421.cum-ex-und-cum-cum-einladung-zum-steuerraub.html?

„Sie war Deutschlands bekannteste Ermittlerin im Kampf gegen milliardenschweren Steuerbetrug. Hier sagt sie, wie der Staat sich wehren kann“, Interview mit Anne Brorhilker, Die Zeit vom 27. Juni 2024, Seite 17f.

Betrugsdelikte im Pflegebereich

Es gibt bereits zahllose Reportagen und Untersuchungen über die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Altenheimen und die schlechten Zustände in der ambulanten Pflege. Und auch über kriminelle Netzwerke im Gesundheitswesen bzw. im Pflegesektor wurde in den letzten Jahren häufig berichtet.

Mitte Mai legte nun die KKH Kaufmännische Krankenkasse – mit 1,6 Millionen Versicherten eine der größten bundesweiten Krankenkassen – einen neuen Report vor, nach dem kriminelle Machenschaften im Gesundheitswesen und speziell im Pflegebereich „als einem Brennpunkt mit hohem Risiko für Bedürftige“ deutlich zunähmen.

In einer Pressemeldung der KKH heißt es:

„Ob Pseudo-Pflegepersonal eingesetzt, Arzneien gepanscht, Versichertenkarten missbraucht, nie erfolgte Behandlungen abgerechnet oder Berufsurkunden gefälscht werden: Betrug und Korruption ziehen sich quer durch alle Leistungsbereiche des Gesundheitssystems – von Arztpraxen und Apotheken über Pflegeeinrichtungen, Kranken- und Sanitätshäuser bis hin zu Praxen für Physio- und Ergotherapie. Allein im zurückliegenden Jahr gingen bundesweit 553 neue Hinweise auf möglichen Betrug bei der KKH-Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation ein. Die meisten davon betreffen die ambulante (179) und die stationäre Pflege (167). Damit gehen rund zwei Drittel aller Neufälle auf das Konto von Pflegeeinrichtungen. Rang drei belegen Krankengymnastik- und Physiotherapiepraxen mit 74 Hinweisen.“

Durch Betrug, Korruption oder Urkundenfälschung entstand der KKH damit allein im vergangenen Jahr ein Schaden von rund 3,5 Millionen Euro. 2022 wurde der Schaden auf mehr als einer Million Euro beziffert, ein Jahr zuvor lag er bei 4,7 Millionen Euro (vgl. Die Welt).

Anfang April 2024 hatte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der KKH bundesweit 1.004 Personen repräsentativ zum Thema befragt. Das Ergebnis:

„Die Mehrheit der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren (58 Prozent) hat laut der forsa-Umfrage selbst schon einmal Erfahrungen mit Betrugsdelikten im Gesundheitswesen gemacht oder kennt Betroffene im eigenen Umfeld. Besonders auffällig auch hier der Pflegebereich. So geben 41 Prozent der Befragten an, dass aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis jemand trotz zuerkanntem Pflegegrad nicht ausreichend versorgt wurde – sei es aufgrund unzureichend ausgebildeter Pflegekräfte oder nicht erbrachter Leistungen.“ (Pressemeldung KKH)

Die Welt zitiert Silke Kühlborn von der Staatsanwaltschaft Leipzig, Leiterin einer Abteilung für Wirtschaftsstrafrecht zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen. „Es ist erschreckend festzustellen, welche kriminelle Energie die Beschuldigten bei ihren Taten teilweise an den Tag legen.“ Andererseits sei auffallend, dass viele Betrugstaten nicht heimlich begangen würden. Mitarbeitende wüssten das in aller Regel und wunderten sich, dass das hingenommen werde.

In der Titelgeschichte der Zeitschrift Focus vom 10. Mai 2024 geht es einmal mehr um die „Tricks der Pflege-Mafia“, um das löchrige Kontrollsystem und das Versagen der Politik. Das deutsche Gesundheitssystem wirke wie ein alles verschlingender Moloch: „Jährlich frisst es 500 Milliarden Euro – mehr als der gesamte Bundeshaushalt mit 477 Milliarden Euro.“ Nach offiziellen Schätzungen würden die Betrüger zwischen 18 und 20 Milliarden Euro aus dem System ziehen. Europäische Untersuchungen sprächen sogar von sechs Prozent der jährlichen Gesundheitsausgaben, die auf den Konten der Betrüger landeten – also fast 30 Milliarden Euro.

Auch der Pflegebereich als drittgrößtes Segment im Gesundheitswesen sei ein „Schlaraffenland für Kriminelle“, wie es ein Vertreter der Staatsanwaltschaft München ausdrückt. Nach Schätzung eines Experten beim LKA Berlin sind von den knapp 700 Pflegediensten in der Hauptstadt etwa 90 dem kriminellen Bereich zuzurechnen. Viele der bis zu 600.000 zumeist osteuropäischen Betreuungskräfte, die rund um die Uhr in deutschen Haushalten arbeiten, so die Zeitschrift, würden um ihre Rechte betrogen (Tricks bei Bezahlung und Arbeitszeit).

Das Versagen der Politik beim Abrechnungsbetrug zeige sich allein darin, dass der Gesetzgeber erst 2016 auf die ausufernden Milliardenschäden reagiert und Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen ins Strafgesetzbuch aufgenommen habe. Ein AOK-Ermittler weist auf die Notwendigkeit einer gesundheitsökonomischen und kriminologischen Forschung zu den vielfältigen Deliktsbereichen hin. Aber das Gesundheitsministerium schiebe die Verantwortung dafür ans Justizministerium ab – und das schiebe sie wieder zurück.

 

Quellen:

„Betrüger ergaunern Millionen aus Gesundheitstopf“, Pressemeldung der KKH Kaufmännische Krankenkasse vom 15. Mai 2024

https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/betruggesundheitswesen

„Krankenkasse KKH meldet Millionenschäden durch Betrüger“, Die Welt (Online) vom 16. Mai 2024

https://www.welt.de/regionales/niedersachsen/article251520800/Krankenkasse-KKH-meldet-Millionenschaeden-durch-Betrueger.html

Christoph Elflein: „Der große Betrug“, Focus vom 10. Mai 2024, Seite 42-52

Großbritannien: Das Scheitern der Privatisierung

„Stinkende Flüsse, stillstehende Züge und unbezahlbare Energiepreise: Angesichts dieser Bilanz hat selbst eine Mehrheit konservativer Wähler im Königreich nach Meinungsumfragen die Nase voll von der Privatisierung einstmals öffentlicher Dienstleistungen. Viele Bürger fordern zumindest eine Teilverstaatlichung der privaten Wasser-, Bahn- und Energieversorgung. ‚Der Fall von Thames Water zeigt, dass die Privatisierung gescheitert ist‘, titelte kürzlich das Magazin ‚The Spectator‘, das intellektuelle Sprachrohr der britischen Konservativen.“ (Handelsblatt vom 10. Mai 2024)

Der ehemals öffentliche britische Wasserversorger Thames Water wurde 1989 unter Premierministerin Thatcher privatisiert und galt als ein Vorzeigeprojekt. Derzeit steht er stellvertretend für das Desaster der Privatisierungspolitik bei öffentlichen Versorgungsunternehmen im Allgemeinen und der Wasserwirtschaft im Besonderen im Königreich. Kritische Stimmen betonen, dass private Eigentümer, wie Pensionsfonds oder Private-Equity-Gesellschaften, enorme Schulden aufgenommen und diese den übernommenen Unternehmen aufgeladen hätten. Deshalb sei zu wenig in die Infrastruktur investiert worden, um zugleich hohe Dividenden an die Aktionäre ausschütten zu können.

Thames Water versorgt rund 16 Millionen Menschen in London und im Südosten Englands mit Wasser, steht aber wegen einer Verschuldung von inzwischen rund 18 Milliarden Pfund vor der Pleite. Die konservative britische Regierung in London will eine Verstaatlichung offensichtlich unbedingt vermeiden, da ein solcher Schritt die Tories vor den vermutlich noch 2024 anstehenden Parlamentswahlen in Erklärungsnöte bringen könnte.

Die Folgen der Wasserprivatisierung in Großbritannien beschreibt ein ARD-Beitrag:

„In England werden Millionen Kubikmeter ungeklärtes Wasser in Flüsse und das Meer geleitet. Jetzt gibt es Widerstand: Vielerorts weigern sich Anwohner, ihre Wasserrechnungen zu bezahlen. (…)

Eigentlich ist Whitstable ein idyllischer Bade- und Hafenort nur anderthalb Stunden östlich von London mit einem wunderbar breiten Strand. Das Ganze hat nur einen Schönheitsfehler, den man allerdings nicht sehen kann: Es stinkt. Denn wann immer es stark geregnet hat, leiten die Wasserfirmen ungefilterte Fäkalien in den Hafen und damit ins Meer. (…)

Allein im Jahr 2023 wurde offiziell 400.000 Mal derart ungereinigtes Abwasser in Flüsse und ins Meer abgelassen. Und das sind nur die Fälle, die registriert wurden. Da das nur in wenigen Fällen in diesem Ausmaß legal ist, müssen die Firmen zwar Strafen zahlen, die allerdings meist so gering sind, dass sie sie locker wegstecken. (…)

Denn seit Margaret Thatcher die englischen Wasserfirmen 1989 privatisiert hat, haben die umgerechnet mehr als 70 Milliarden Euro an ihre Aktionäre ausgezahlt, in Abwasser-Rohre und Infrastruktur allerdings nur marginal investiert. Weshalb englische Flüsse und das Meer mittlerweile im Dreck versinken. Immer häufiger landen Briten, die einfach nur schwimmen waren, im Krankenhaus, oft mit schweren Lebervergiftungen, denn im ungeklärten Abwasser sind jede Menge Bakterien. Im vergangenen Sommer kam es so an vielen Stränden, auch in Whitstable zu für englische Verhältnisse ungewohnt lautem Protest, tausende versammelten sich am Hafen um gegen die chronische Wasserverschmutzung zu protestieren. (…) Eine der Demonstrantinnen ist Elaine Hefemann. Sie sei im vergangenen Jahr derart krank geworden, dass sie über Wochen nicht zur Arbeit konnte. Seitdem boykottierte sie einfach ihre Wasser-Rechnung: ‚Ich habe gezahlt, seit die Wasserversorgung privatisiert wurde, die Firmen haben das alles damals schuldenfrei übernommen, wir haben jahrelang geblecht, damit sie in die Infrastruktur investieren und sie haben einfach nichts gemacht. Warum sollte ich dafür jetzt nochmal zahlen?‘“

Ein Artikel auf den „NachDenkSeiten“ beleuchtet den politischen Hintergrund:

„Die Probleme bei Thames Water kommen jedoch nicht von ungefähr, sondern sind das Ergebnis einer verfehlten und ideologiegetriebenen Privatisierungspolitik. Um das zu verstehen, ist es notwendig, sich die Besonderheiten des Wassermarktes einmal genauer anzuschauen. So ist die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser ein natürliches Monopol. Das liegt daran, dass es – ähnlich wie bei der Versorgung mit Strom und Gas – schlichtweg ökonomisch ineffizient ist, mehrere Leitungsnetze parallel zu betreiben. Das heißt, derjenige, der das Netz besitzt, ist Monopolist. Er kann potenzielle Konkurrenten vom Markt fernhalten und die Preise diktieren. Deswegen wird der Bereich der leitungsgebundenen Versorgung gesondert geregelt. In Deutschland etwa befindet sich die Wasserversorgung in kommunaler Hand. (…)

England und Wales sind jedoch Ende der Achtzigerjahre einen anderen Weg gegangen. Dort hat die damalige Premierministerin Margaret Thatcher eine breite Privatisierungsoffensive angestoßen, bei der mehr als 50 öffentliche Unternehmen in private Hand übergingen, darunter sämtliche Versorger. Das Vorgehen war ideologisch motiviert. Thatcher, die den Ideen des österreichischen Ökonomen Friedrich August von Hayek anhing, verfolgte die Vision einer ‚property-owning democracy‘. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Unternehmergeist und private Initiative grundsätzlich zu besseren Ergebnissen führen als staatliches Engagement – selbst im Bereich der leitungsgebundenen Monopole.

Bei den britischen Wasserversorgern ist heute jedoch genau das Gegenteil zu beobachten. Denn hier treten inzwischen all die negativen Begleiterscheinungen auf, die Monopolen gemeinhin zugeschrieben werden – hohe Preise, eine schlechte Produktqualität, geringe Investitionen sowie eine Selbstbedienungsmentalität bei Managern und Eigentümern. Ablesen lässt sich dies unter anderem am schlechten Zustand der Infrastruktur, die zusehends auf Verschleiß gefahren wird. Im vergangenen Jahr etwa hat die nationale Umweltbehörde mehr als 300.000 Vorfälle festgestellt, bei denen Millionen Liter Dreckwasser in Flüsse, Seen und an die Küste geleitet wurden. Der Branchenverband Water UK musste sich sogar für die Verschmutzung von Flüssen und Stränden entschuldigen.“

Wie geht es weiter? Sollte Thames Water kein neues Geld von seinen privaten Investoren erhalten, so das Handelsblatt am 10. Mai 2024, erledige sich die Sache von selbst. Die Regierung in London wäre dann gezwungen, den größten britischen Wasserversorger in staatliche Zwangsverwaltung zu nehmen. Weiter schreibt das wirtschaftsliberale Blatt:

„Seit Pandemie, Energiekrise und Kriege die Bürger in den westlichen Industrienationen verunsichert haben, feiert der Staat zwar auch in der Wirtschaftspolitik ein Comeback. Eine Rückverstaatlichung der Versorgungsbetriebe gerade in Großbritannien wäre jedoch eine Wende von historischer Bedeutung.

War es doch die frühere britische Premierministerin Margaret Thatcher, die mit ihrer radikalen Privatisierungspolitik in den 1980er-Jahren ein neoliberales Zeitalter der Marktgläubigkeit rund um den Globus einleitete.“

Quellen:

Anette Dittert: „Widerstand gegen private Wasserkonzerne“, tagesschau.de vom 22. April 2024

https://www.tagesschau.de/ausland/europa/england-wasser-verschmutzung-100.html

Thorsten Rieke: „Thatchers Erblast – warum Großbritannien viele Privatisierungen gerade zurückdreht“, Handelsblatt (Online) vom 10. Mai 2024

https://www.handelsblatt.com/politik/international/grossbritannien-thatchers-erblast-warum-grossbritannien-viele-privatisierungen-gerade-zurueckdreht/100035651.html

Thomas Trares: „Der Versorger Thames Water – Vorzeigeprojekt der Thatcher-Ära und Sinnbild einer gescheiterten Privatisierung“, NachDenkSeiten vom 9. April 2024

https://www.nachdenkseiten.de/?p=113562

Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur Bürgerbewegung

Anne Brorhilker, Kölner Oberstaatsanwältin und erfolgreichste Cum-Ex-Aufklärerin in Deutschland, möchte Ende Mai 2024 den Staatsdienst verlassen, um als Geschäftsführerin bei der „Bürgerbewegung Finanzwende“ aktiv zu werden. In einem Interview mit dem WDR begründete sie am 22. April ihre Entscheidung. Wegen der schwach aufgestellten Justiz sieht sie größte Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität in Deutschland: Der Förderalismus führe etwa zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten, so dass eine Bündelung von Ermittlungen nicht möglich sei. Auch fehle eine europäische Koordination sowie Personal, um sich auf Augenhöhe mit den Kriminellen und ihren Anwälten bewegen zu können. Deshalb verliere die Allgemeinheit das Vertrauen in den Rechtsstaat (z. B. weil sich Verdächtige oft mit Deals aus den Verfahren herauskaufen würden). Es sei ungerecht, wenn Steuerhinterzieher in Deutschland deutlich besser wegkämen als Sozialhilfebetrüger, ganz nach dem Motto: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“.

Die 50 Jahre alte Juristin engagiert sich seit 2013 gegen die Cum-Ex-Geschäfte und erwirkte 2019 das erste rechtskräftige Urteil. Zurzeit ermitteln nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Köln über 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ihrer Abteilung gegen etwa 1.700 Beschuldigte in 135 Verfahrenskomplexen (vgl. Handelsblatt vom 22. April).

 

Auszüge aus Pressekommentaren

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024:

„Der 22. April 2024 war ein schwarzer Tag für den deutschen Rechtsstaat. Die Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker bat um ihre Entlassung. Der Abschied der Oberstaatsanwältin nährt erneut die Zweifel am politischen Willen zur Aufklärung dieses größten deutschen Steuerskandals. (…)

Vertreter aller Parteien beklagen mit scharfen Worten die Mängel der Aufklärung, wenn die politische Verantwortung gerade nicht in den eigenen Reihen liegt. Ihr Gedächtnis ist kurz.

In Nordrhein-Westfalen war es Thomas Kutschaty von der SPD, der sich als NRW-Justizminister bis 2017 praktisch gar nicht für die Arbeit von Brorhilker interessierte. Später nannte Kutschaty die schleppende Aufklärung ‚skandalös‘.

Sein Nachfolger Biesenbach von der CDU sagte einmal, er habe vor seinem Antritt kaum gewusst, was Cum-Ex eigentlich ist. Zwei Jahre gingen ins Land. Immerhin: Als Biesenbach den Milliardenskandal 2019 bemerkte, gewährte er Brorhilker mehr Stellen.

Der amtierende NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) versuchte dann 2023, das Cum-Ex-Rad wieder zurückzudrehen. Er unterstellte Brorhilker organisatorische Mängel, wollte die Hälfte ihrer Ermittlerstellen einem Mann ohne Vorwissen beim Thema Cum-Ex anvertrauen. Nur ein öffentlicher Aufschrei verhinderte das Schlimmste.

Wer in dieser Aufzählung die FDP vermisst, kann sich an Wolfgang Kubicki wenden. Auch der Anwalt und Finanzexperte der Liberalen sah 2013 einen Aufklärungsskandal, als er einen politischen Gegner betraf. Nur Monate später hatte Kubicki einen neuen Mandanten: Hanno Berger, den größten aller deutschen Steuerräuber. Mit einem Mal hielt Kubicki Cum-Ex öffentlich für eine ‚Gesetzeslücke‘. (…)

Warum ist der Staat so zögerlich? Warum wird nicht ein Heer von Steuerfahndern und spezialisierten Staatsanwälten gebildet? Es kann nicht an den Kosten liegen. Diese Art von Beamten finanziert ihre Stellen selbst und zehn andere dazu.

Der Abgang Brorhilkers offenbart auch ein politisches Problem. Deutsche Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Besonders forsche Ermittler können jederzeit aus dem Justizministerium zurückgepfiffen werden. Manche vermuten genau dieses Phänomen beim Cum-Ex-Fall von Bundeskanzler Olaf Scholz rund um die Hamburger Privatbank M.M. Warburg.

Der Europäische Gerichtshof hat seine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland schon 2019 verschriftlicht. Das höchste EU-Gericht urteilte, deutsche Staatsanwaltschaften dürften keine Europäischen Haftbefehle mehr ausstellen. Grund sei, dass es ‚keine hinreichende Gewähr für eine Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive‘ gebe.

Diese Durchlässigkeit der Gewaltenteilung ist untragbar. Schon der Anschein, dass ein Minister Einfluss auf die Arbeit einer Staatsanwaltschaft nimmt, ist schädlich. Vielleicht kann das Dienstende von Anne Brorhilker wenigstens dies bewirken: Das ministerielle Weisungsrecht gehört abgeschafft.“

 

Die Zeit vom 25. April 2024:

„Man kann nur hoffen, dass die beim Thema Cum-Ex oft mindestens tollpatschig agierende Politik ihr gut zuhört. Denn die große Frage hinter ihrem Rückzug lautet: Ist die deutsche Justiz strukturell überhaupt in der Lage, ein Jahrhundert-Wirtschaftsverbrechen wie Cum-Ex aufzuklären, bei dem weit mehr als tausend Täter sich hemmungslos vom Staat viele Milliarden an Steuern zurückerstatten ließen, die sie zuvor nie gezahlt hatten? Anne Brorhilker hält das nicht nur für eine Frage der Gerechtigkeit. Sondern auch für eine Frage des Selbstrespekts einer Demokratie. Für diese Ziele will sie weiter kämpfen.“

 

Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024:

„Anne Brorhilker hat sich für die große Bühne entschieden, um ihren Abgang zu verkünden: Deutschlands wichtigste Cum-ex-Ermittlerin hat dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) ein 17-minütiges Interview gegeben, in dem sie erläutert, warum sie nicht länger als Staatsanwältin wirken mag.

Und in dem sie den Staat für dessen angeblich stümperhaften Umgang mit Finanzkriminalität abwatscht. Entsprechend groß ist die mediale Erregung, seitdem der WDR das Interview am Montagmittag veröffentlicht hat. Bloß: Brorhilkers Kritik ist zwar richtig, ihr Auftritt aber dennoch selbstgerecht. Die Vorzeige-Staatsanwältin aus Köln hätte sich die Watsche besser gespart – und stattdessen über ihre eigenen Fehlentscheidungen räsonieren sollen, die zur schleppenden Aufklärung des Cum-ex-Deals beigetragen haben. Die Republik hätte daraus eine Menge lernen können: für künftige Mega-Verfahren im Wirtschaftsstrafrecht. Dabei hat sich Brorhilker unstreitig bundesverdienstkreuzwürdige Verdienste in der Causa erworben. (…)

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn Brorhilker nicht wiederholt Fehler begangen hätte, wären die Ermittlungen heute womöglich weiter. (…)

Nach immer neuen Aufstockungen durch die nordrhein-westfälische Landespolitik aber verfügt ihre Abteilung inzwischen über 40 Stellen – gemessen an den Maßstäben einer Staatsanwaltschaft ist das luxuriös. Schließlich leiten Staatsanwälte die Ermittlungen bloß, während Polizisten, Spezialisten von Landeskriminalämtern und Steuerfahnder die Detailarbeit erledigen. Zwar sind manche der 40 Stellen bis heute unbesetzt, aber das hat Brorhilker auch selbst zu verantworten.

Ihr Führungsstil, den Insider als beinahe autoritär beschreiben, soll wiederholt erfahrene Staatsanwälte vergrätzt haben, die ihre Ermittlungsautonomie verletzt sahen, ist auf den Fluren der Kölner Staatsanwaltschaft zu hören. Mit der Folge, dass in Brorhilkers Abteilung immer wieder Berufsanfänger angeheuert haben sollen, die sich Top-Anwälten entgegenstellen müssen. Und mit der Konsequenz, dass Brorhilker zur Alleinherrscherin über die Ermittlungen geworden sein soll, die sich dadurch verzögert haben sollen. Mitunter soll auch Brorhilkers Organisation der Ermittlungen chaotisch angemutet haben, berichten Beteiligte. (…)

Zudem fächerte Brorhilker die Ermittlungen immer weiter auf, ließ die Zahl der Verdächtigen auf 1700 anschwellen – selbst für 40 Staatsanwälte eine schier wahnsinnige Aufgabenfülle. Brorhilker selbst gab sich in dem WDR-Interview zwar überzeugt, die Verdächtigen-Zahl müsse derart hoch liegen. Sie sei verpflichtet, Verfahren einzuleiten, wenn es einen Verdacht gebe.

Das stimmt auch. Aber natürlich haben Staatsanwaltschaften einen Spielraum dabei, ob sie einen sogenannten Anfangsverdacht erkennen, der Ermittlungen notwendig macht. Diesen Spielraum hätte Brorhilker besser nutzen müssen.

Auch hätte die Juristin Verfahren gegen Geldzahlungen einstellen müssen. Sie hält das für unfair, weil sie nicht will, dass Steuersünder davonkommen, die den Staat um viele Millionen geprellt haben. Und natürlich müssen die Drahtzieher der Cum-ex-Deals vor Gericht gestellt werden, das ist klar. Aber Einstellungen von Verfahren gegen Mitläufer, von denen manche die Details der hochkomplexen Börsengeschäfte weder verstanden noch gewusst haben dürften, hätten Brorhilker die Chance gegeben, sich auf die Haupttäter zu fokussieren.“

 

Der Stern (Online) vom 23. April 2024:

„Der Wechsel einer der prominentesten Staatsanwältinnen, deren Namen seit Jahren eng mit der Aufklärung des größten Steuerskandals der Republik verbunden ist, direkt an die Spitze einer NGO ist ein spektakulärer Schritt. Dass Ermittler in großen Wirtschaftsfällen im Laufe der Zeit abgezogen werden oder innerhalb des Justizapparats den Posten wechseln, kommt durchaus vor. (…)

Aber dass eine Oberstaatsanwältin nach elf Jahren Ermittlungsarbeit in einem Fall wie Cum Ex, in dem es um den größten Steuerraub in der deutschen Geschichte und um politische Verwicklungen bis hin zum heutigen Bundeskanzler geht, nicht erst um Versetzung bittet, sondern gleich den Staatsdienst verlässt, hat es wohl so noch nicht gegeben. (…)

Auch im Fall Cum Ex, das macht sie in dem WDR-Interview deutlich, vermisst Brorhilker den Rückhalt aus der Politik. Sie habe gemerkt, wie ‚schwer es ist, Unterstützung für die Cum-Ex-Ermittlungen zu bekommen‘, sagt sie – obwohl allen klar sei, dass das Thema angesichts des Milliardenschadens sehr wichtig sei. (…)

Als einen Grund dafür führt sie die Zersplitterung der Zuständigkeiten in der Justiz durch den Föderalismus an – wohl eine Andeutung dafür, dass sich Kollegen in den Justizbehörden anderer Länder eher bemühten, die Ermittlungen ihres Kölner Teams zu bremsen, als diese zu unterstützen. Etwa die in Hamburg, wo die Privatbank Warburg tief in die illegalen Cum-Ex-Deals verstrickt war, sich aber auf das Wohlwollen des Senats unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz verlassen konnte.

Die Konsequenzen der Tatsache, dass Staatsanwaltschaften in Deutschland der Politik unterstellt sind, musste Brorhilker zuletzt aber auch daheim in NRW feststellen. Im September 2023 sorgte Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne) mit einem geplanten Eingriff bei der Kölner Staatsanwaltschaft für Schlagzeilen. Chefermittlerin Brorhilker sollte einen Kollegen an die Seite gestellt bekommen – angeblich, um die Ermittlungen gegen die bundesweit rund 1800 Beschuldigten zu beschleunigen. Doch von vielen wurden Limbachs Pläne als Entmachtung der Cum-Ex-Jägerin und politische Sabotage ihrer Ermittlungen interpretiert – durchaus auch von Brorhilker selbst.

(…)

Schon 2020 war die Ermittlerin einmal von Vorgesetzten zurückgepfiffen worden, als sie im politisch besonders brisanten Fall der Warburg Bank eine Razzia in Hamburg plante.

Was Brorhilkers Kündigung so bemerkenswert macht, ist, dass sie offenbar überzeugt ist, an der Spitze einer NGO jetzt mehr für den Kampf gegen Finanzkriminalität bewirken zu können als in ihrer Ermittlerrolle. (…)

Es könnte sein, dass Deutschlands mächtigste Staatsanwältin außer Dienst bald nicht nur in der Öffentlichkeit bisherigen Kolleginnen und Kollegen auf die Füße tritt, wenn diese aus ihrer Sicht zu rücksichtsvoll mit Finanzkriminellen umgehen – sondern sich auch mit den Bremsern in der Politik anlegt.“

 

Taz (Online) vom 23. April 2024:

„2023 konterte Brorhilker den Versuch des grünen NRW-Justizministers Benjamin Limbach, der ihre Abteilung teilen und eine Anzahl Verfahren in andere Hände legen wollte. Limbachs Motiv bestand wohl auch darin, die Ermittlungen zu beschleunigen. Brorhilker wehrte sich erfolgreich, Limbach ließ seinen Plan fallen und stockte die Stellen der Staatsanwaltschaft auf.

Vielleicht spürte Brorhilker trotzdem einen Mangel an langfristiger Unterstützung. Jetzt wechselt sie die Ebene der Auseinandersetzung. Im Einklang mit Gerhard Schick betonte sie, sich politisch, öffentlich und mit Kampagnen für die Stärkung des Rechtsstaates einsetzen zu wollen. Ein Ziel könnte darin bestehen, dass irgendwann eine Bundesanwaltschaft gegen Finanzkriminalität gegründet wird – ähnlich dem Generalbundesanwalt, der sich unter anderem um Terrorismus kümmert.“

 

Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024:

„Es ist ein vernichtendes Urteil für Justiz und Politik: Die oberste Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur NGO Finanzwende – dort könne sie mehr ausrichten denn als Oberstaatsanwältin. Im Interview mit WDR-Investigativ betont Brorhilker zwar, die Kölner Staatsanwaltschaft sei auf dem richtigen Weg und gut aufgestellt, um die Cum-Ex-Ermittlungen weiter voranzutreiben. Ihr Frust über deren Ablauf blieb dennoch unverhohlen. Brorhilker sei ‚mit Leib und Seele‘ Staatsanwältin gewesen. Sie sei aber nicht damit zufrieden, wie Finanzkriminalität in Deutschland verfolgt wird. ‚Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen. Das ist einfach ungerecht‘, stellte sie fest. Damit kommt Brorhilker dem Vorwurf der Klassenjustiz wohl so nah, wie sie es in ihrer jetzigen Position kann. Auch die Beeinflussung der Politik durch die Finanzbranche sei systemisch, führte sie weiter aus. (…)

Jetzt will die Staatsanwältin die Justiz besser für den Kampf gegen Finanzkriminalität rüsten, die Finanzlobby zurückdrängen und für Gerechtigkeit vor Gericht sorgen. Das scheint sie sich als Geschäftsführung einer zivilgesellschaftlichen Organisation eher zuzutrauen.“

 

Die Welt vom 24. April 2024:

„Dass eine Beamtin nach Jahrzehnten im Staatsdienst ihren Abschied einreicht, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass der Westdeutsche Rundfunk ihr zu diesem Anlass ein ausführliches Interview einräumt, ist ein Signal fast schon zeitgeschichtlicher Relevanz. Anne Brorhilker nutzt diesen Anlass noch einmal für eine Art letzter Abrechnung. (…)

Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen, die meisten von ihnen drehen sich um die Vorkommnisse bei der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. (…)

Die von Brorhilker nun wieder beklagten fehlenden Ressourcen dürften nur eine Ursache dafür sein. In der Justiz hieß es schon vor Monaten, dass es auch interne Gründe dafür gebe, dass es nicht so richtig vorangehe.  Brorhilker werde nicht nur ausgebremst , sondern bremse mit ihrer Detailversessenheit womöglich auch selbst. Überlegungen, wenigstens relevante Fälle zügig abzuarbeiten und womöglich in größerem Stil gegen Geldbußen einzustellen, soll sie wenig zugeneigt gewesen sein.“  

 

Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024:

„Bei der 50-jährigen Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker müssen Ärger und Enttäuschung riesengroß gewesen sein. (…)

Jetzt wechselt sie zur Bürgerbewegung Finanzwende. Ihre Begründung ist eine Ohrfeige für die deutsche Politik: ‚Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird.‘ Bundesregierungen aller Couleur haben Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zu einem Geldumschlagplatz für Kriminelle und Demokratiegegner verkommen lassen. Mafiabanden, Menschenhändler und Drogenkartelle erwirtschaften kriminelle Vermögen, deren Herkunft, Aufbewahrung und Einsatz im internationalen, westlich dominierten Finanzsystem verschleiert werden.  (…)

Es ist vieles falsch gelaufen bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. Das hat auch bei anderen Beamten, die kriminelle Vermögen und verdächtige Zahlungsströme jagen wollten und dabei politisch ausgebremst wurden, zu Frustration und Enttäuschung geführt. Es gibt viele ‚Brorhilkers‘ in Deutschland. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang als Oberstaatsanwältin zeigt: Es braucht mehr Druck auf Politiker. Was zu tun ist, steht in mit Erfahrungen aus dem Ausland angereicherten Berichten der Fachleute. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sie alle vorliegen, seit über zwei Jahren.“

 

Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024:

„Anne Brorhilker hat auch nicht die Seiten gewechselt, sie geht also nicht in eine Steuergroßkanzlei, um dort das große Geld, das x-Fache des Gehalts zu verdienen, das sie als Oberstaatsanwältin verdient hat. Sie wird nun Co-Geschäftsführerin eines Vereins namens ‚Finanzwende‘ (…); sie will ihre bisherige juristische Arbeit in diesem Verein politisch weiterführen. (…)

Der Verein, der gegen solche Räubereien anrennt, versteht sich als zivilgesellschaftliches  und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby; er will das tun, was die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat, aber partout nicht tut: ‚Deutschland wird‘, so heißt es da, ‚beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrolle einnehmen.‘ Anne Brorhilker hat erlebt und erfahren, wie das in der Realität aussieht. (…)

Es geht im Fall Brorhilker  nicht einfach um interne Rangeleien, nicht nur um Animositäten innerhalb und außerhalb von Justiz, Justizverwaltung und der sie dirigierenden Politik. Es geht um viel mehr, nämlich um Grundfragen der Gerechtigkeit. (…)

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verkündet die Wirtschaftswende und versteht darunter unter anderem scharfe Kürzungen des Bürgergelds bei Verfehlungen arbeitsloser Menschen; er fordert ein Moratorium, also einen Stopp bei den Sozialleistungen. Bei den sogenannten kleinen Leuten muss sich da das Gefühl aufdrängen, dass zwar bei ihnen sehr genau hingeschaut und abgerechnet wird – bei den Geldreichen aber nicht. Die Kündigung der Cum-Ex-Ermittlerin legt da den Finger in diese Wunde, in einen bösen Riss zwischen denen da oben und denen da unten. Sie provoziert die Frage, ob es bei uns gerecht zugeht. Es ist dies eine neuralgische Frage für die Demokratie.“

 

Quellen:

Exklusiv-Interview: Cum-Ex Chefermittlerin spricht über ihre Kündigung, WDR vom 22. April 2024

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFiNDIzNDg5LTdjYjUtNGVkZS05ZGQ2LTg0OGI2ODdiMjA4Ng

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker hat gekündigt“, Handelsblatt (Online) vom 22. April 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steueraffaere-cum-ex-chefermittlerin-brorhilker-hat-gekuendigt/100034223.html

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die Zermürbungstaktik der Täter geht auf“,

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Marc Widmann: „Die Anklägerin“, Die Zeit vom 25. April 2024

Lukas Zdrzalek: „Die Cum-ex-Starermittlerin wählt den Heldinnen-Notausgang“, Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024

https://www.wiwo.de/my/unternehmen/dienstleister/anne-brorhilker-die-cum-ex-starermittlerin-waehlt-den-heldinnen-notausgang-/29766800.html

Thomas Steinmann: „So fädelte die Cum-Ex-Jägerin ihren Wechsel zu einer NGO ein“, Stern (Online) vom 23. April 2024 (Der Artikel ist eine Übernahme  des Wirtschaftsmagazins Capital. Stern und Capital gehören zu RTL Deutschland)

https://www.stern.de/wirtschaft/anne-brorhilker–das-macht-die-cum-ex-jaegerin-jetzt-34653970.html

Hannes Koch: „Die Banklägerin“, taz (Online) vom 23. April 2024

https://taz.de/Cum-Ex-Staatsanwaeltin-Brorhilker/!6003474&s

Sarah Yolanda Koss: „Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker: Frau Gleichheit“, Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181701.personalie-cum-ex-ermittlerin-anne-brorhilker-frau-gleichheit.html?

Cornelius Welp: „Abschied und Abrechnung“, Die Welt vom 24. April 2024

Markus Zydra: „Gefahr für die Demokratie“, Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024

Heribert Prantl: „Frustriert“, Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024

Vgl. auch BIG-Artikel vom 19. Juli 2022: „Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und ‚Sozialbetrug‘ im Vergleich“

https://big.businesscrime.de/artikel/systematische-ungerechtigkeit-steuerhinterziehung-und-sozialbetrug-im-vergleich/

 

Anstieg der illegalen Gewinne aus Zwangsarbeit

Nach einer im März dieses Jahres herausgegebenen Studie der International Labour Organization (ILO) erzielt die Privatwirtschaft durch Zwangsarbeit jährlich 236 Milliarden US-Dollar an illegalen Gewinnen. Dies sei ein dramatischer Anstieg um 37 Prozent seit dem Jahr 2014 – „angetrieben sowohl durch eine wachsende Zahl von Menschen, die zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, als auch durch höhere Gewinne erzielt durch die Ausbeutung der Opfer“. (Pressemitteilung vom 19. März)

Wie es in der genannten Pressemitteilung weiter heißt, sind die jährlichen illegalen Profite pro Opfer in Europa und Zentralasien am höchsten, gefolgt von den Arabischen Staaten, Nord- und Südamerika, Afrika sowie Asien und dem Pazifik.

Zwangsarbeit ist in fast allen Bereichen der Wirtschaft zu finden. Mehr als zwei Drittel der gesamten illegalen Gewinne entfallen auf die kommerzielle sexuelle Zwangsausbeutung, obwohl sie nur 27 Prozent der Gesamtzahl der Opfer von privater Zwangsarbeit ausmacht. Über die Dunkelziffer ist naturgemäß nichts bekannt:

„Nach der kommerziellen sexuellen Zwangsausbeutung ist die Industrie mit 35 Milliarden US-Dollar der Sektor mit den höchsten jährlichen illegalen Gewinnen aus Zwangsarbeit, gefolgt vom Dienstleistungssektor (20,8 Milliarden US-Dollar), Landwirtschaft (5,0 Milliarden US-Dollar) und Hausarbeit (2,6 Milliarden US-Dollar). Bei diesen illegalen Gewinnen handelt es sich um die Löhne, die rechtmäßig in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören, stattdessen aber bei den Ausbeutern verbleiben.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Als Zwangsarbeit definiert die ILO „jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe verlangt wird und für die sich diese Person nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ (junge Welt). Im Jahr 2021 waren danach an  jedem Tag 27,6 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen.

Die ILO-Studie stellt flüchtende Menschen als besonders gefährdet heraus, da sie häufig kommerziellen Fluchthelfern ausgeliefert sind und ihre Schulden durch Zwangsarbeit zurückzahlen müssen (vgl. Studie, Seite 19ff.).

Die junge Welt ergänzt: 

„Schuldenknechtschaft kann (..) praktisch überall dort entstehen, wo der Ausbeuter finanziell in Vorleistung tritt. Sei es, dass er die Reisekosten und die Gebühren für das Visum bezahlt oder korrupte Beamte bestochen hat. Oft müssen Arbeiter auch für ihre Ausrüstung oder Arbeitskleidung selbst aufkommen und nehmen dafür einen Kredit auf. Ist die Arbeit informell, was laut ILO beispielsweise auf 80 Prozent der Hausangestellten zutrifft, sind zu geringe Löhne und unbezahlte Überstunden üblich. ‚Das Fehlen formeller Verträge bedeutet weniger Lohntransparenz und eine größere Anfälligkeit für Lohnmissbrauch‘, stellen die Studienmacher fest. Ähnliches gelte auch für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.“

Die Studie äußert sich auch zu notwendigen Gegenmaßnahmen:

„In dem Bericht wird die dringende Notwendigkeit betont, in Vollstreckungsmaßnahmen zu investieren, um illegale Gewinnströme einzudämmen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Er empfiehlt die Stärkung des Rechtsrahmens, die Schulung von Vollzugsbeamten, die Ausweitung der Arbeitsaufsicht auf Hochrisikosektoren und eine bessere Koordinierung zwischen arbeitsrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgung.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Quellen:

„Profits and Poverty. The economics of forced labour“, hrsg. von International Labour Office (ILO), März 2024

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—ipec/documents/publication/wcms_918034.pdf

„Jährliche Gewinne aus Zwangsarbeit steigen um 236 Milliarden US-Dollar nach Daten der ILO“, Pressemitteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 19. März 2024

https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_920156/lang–de/index.htm

Gerrit Hoekman. „Das Joch der Jobs“, junge Welt vom 21. März 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/471841.mehrwertproduktion-das-joch-der-jobs.html?

 

Staatlicher Handel mit Einbürgerungen

Im Herbst 2023 legte die Politikwissenschaftlerin Kristin Surak von der London School of Economics eine umfangreiche Studie über das staatliche Geschäft mit Einbürgerungen bzw. den sogenannten Goldenen Pässen vor (engl. Citizenship by investment, CBI). In einer Buchrezension schreibt dazu Claus Leggewie:

„Surak ist nicht die Erste, die sich mit gekauften Pässen befasst, aber sie hat das Phänomen empirisch untersucht, die Motive der Antragsteller wie der Aufnahmestaaten sortiert und die sukzessive Normalisierung des Bürgerschaft-Marktes belegt. Man wird fast erschlagen von ihrer Detailkenntnis, die jedoch in eine gut lesbare Erzählung eingebaut ist. Ihr Blickwinkel ist dabei ökonomisch: Was bedeutet es, wenn Staaten ihre Souveränität vermarkten und finanzialisieren und so durch ‚citizenship by investment‘ im Aufenthaltsrecht verankern, was in der globalen Wirtschaft ohnehin gang und gäbe ist?“

Im Folgenden einige Feststellungen Suraks aus ihrem Buch:

– In mindestens 22 Länder der Erde gab es im Jahr 2022 eine gesetzliche Grundlage für die Einbürgerung von Personen, die einen bestimmten Betrag in dem jeweiligen Land investieren.

– Bisher waren CBI-Programme vor allem in kleinen Inselstaaten üblich, für die Finanzspritzen aus dem Ausland relevant waren. Als Extremfall nennt Surak den Kleinstaat Nauru, der heute die Hälfte seiner Staatseinnahmen mittels Aufnahme von Asylbewerbern erwirtschaftet – welche von Australien zurückgewiesen wurden. Mittlerweile beteiligen sich aber auch Länder wie vor allem Russland und Ägypten am Handel mit ihrer Staatsbürgerschaft.

– Jedes Jahr werden allerdings nur etwa 50.000 Menschen per CBI-Programm eingebürgert. Bei den Käufern handelt es sich vor allem um Neureiche aus Ländern außerhalb des Globalen Nordens (China, Südostasien, postsowjetische Staaten sowie Naher Osten).

„Zwar bewerben sich auch einige Menschen aus wohlhabenden Demokratien im Globalen Norden, darunter immer mehr US-Bürgerinnen und -Bürger. Wirklich befeuert wird die Nachfrage jedoch von einer kleinen Gruppe wohlhabender Menschen aus Ländern mit als ‚schlecht‘ angesehenen Pässen, beispielsweise aus autoritär regierten Staaten. Es sind nicht-westliche Gewinner der Globalisierung (…) Für die Regierungen, die goldene Pässe ausgeben, sind diese globalen Eliten das Zielpublikum für gekaufte Staatsbürgerschaften.“ (Surak)

– Für Surak ist eine globalisierte Welt nicht verknüpft mit dem Entstehen einer „Weltbürgerschaft“. „Stattdessen“, so die Autorin, „spaltet die Nationalität. Sie beeinflusst, wohin wir reisen können, wie wir behandelt werden und welche Rechte wir haben – nicht nur zu Hause, sondern überall auf der Welt. Für einige bietet sie zahlreiche Chancen und Privilegien, für andere bringt sie Sanktionen und Einschränkungen mit sich.“

Auch Claus Leggewie bezieht sich auf diesen Gedanken in seiner Rezension:

„Eine Überwindung nationaler Grenzen in Richtung eines transnationalen Weltbürgertums kann man sich von dieser Flexibilisierung der Staatsbürgerschaft nicht erhoffen. Sie verwischt eher die alten Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Es ist erstaunlich, wie die lotterieartige Banalisierung von Staatsangehörigkeit mit dem Verdacht kontrastiert, der doppelten Staatsangehörigkeiten eingebürgerter Migranten oft noch entgegengebracht wird. Ihnen verlangt man mehr Loyalität und affektive Zuwendung zur neuen Heimat ab, als angestammte Bürger jemals aufbringen müssen. Die oligarchische Distribution erblicher Aufenthaltstitel beseitigt die generelle Wirksamkeit nationalstaatlicher Grenzen und Gesetze natürlich nicht, sie verschärft vielmehr die inner- und zwischengesellschaftliche Ungleichheit.“

Quellen:

Kristin Surak: „Der globale Reisepass ist die neueste Boom-Branche für Superreiche“, in: Jacobin, 7. Oktober 2023, Übersetzung von Tim Steins. Auszug aus Kristin Suraks Buch: The Golden Passport:

Global Mobility for Millionaires. Harvard University Press, Cambridge, 2023

https://jacobin.de/artikel/pass-passport-staatsbuergerschaft-reisen-freiheit-handel-superreiche

Klaus Leggewie: „Käufliche Pässe: Wie Superreiche neue Staatsangehörigkeiten erwerben“, FAZ (Online) vom 26. März 2014

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/kristin-suraks-buch-the-golden-passport-19541117.html