Cum-Ex-Ermittlungen: Kehrtwende des Justizministers

Am 12. Oktober 2023 teilte der Bundesgerichtshof mit, dass die Revision des Cum-Ex-Steuerbetrügers Hanno Berger gegen die vom Landgericht Bonn verhängte achtjährige Haftstrafe verworfen worden sei. Das Verfahren ist damit abgeschlossen und der 72-jährige Berger rechtskräftig verurteilt.

Eine zweite positive Nachricht stellt die neue Entwicklung im Machtkampf um Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker (Staatsanwaltschaft Köln) dar. Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen), Justizminister in NRW, hatte kürzlich überraschend angekündigt, Brorhilkers Hauptabteilung in zwei eigenständige Sektionen aufspalten zu lassen – was bedeutet hätte, dass der wichtigsten Cum-Ex-Ermittlerin ein großer Teil ihrer Fälle weggenommen worden wäre, um diese in die Zuständigkeit eines mit dem Thema wenig vertrauten Juristen zu übergeben. In den Medien war von einer geplanten „Entmachtung“ Brorhilkers die Rede. Nach breiter öffentlicher Kritik hat Limbach nun einen – vorläufigen – Rückzieher gemacht. Am 8. Oktober teilte er mit, dass die Hauptabteilung nun doch als Ganzes beibehalten werden soll. Zudem würde sie vier zusätzliche Planstellen erhalten und somit von derzeit 36 auf 40 Staatsanwält:innen anwachsen. Die Auswirkungen der Maßnahmen sollen laut Limbach im Juli 2024 bewertet werden.

Einige Pressestimmen zur aktuellen Situation:

„Die Darstellung Limbachs, Brorhilker entlasten, die Effektivität der Arbeit steigern und Kontinuität bei einem ‚unvorhergesehenen, etwa krankheitsbedingten Ausfall‘ gewährleisten zu wollen, wirkte nicht überzeugend. Dagegen hatte etwa Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung ‚Finanzwende‘, vor einem schweren Rückschlag bei der Aufklärung des größten Steuerdiebstahls in der deutschen Geschichte gewarnt. Damit stehe die bisherige Linie, alle Cum-ex-Verbrecher vor Gericht zu bringen, zur Disposition, hatte Schick beklagt. Dagegen gebe es Akteure im NRW-Justizapparat, die ‚Deals‘ bevorzugten, mit denen sich Kriminelle von einer angemessen Bestrafung freikaufen könnten.

Nachdem Limbach sein Projekt zuletzt noch verteidigt hatte, gibt er sich nun betont konziliant. Er nehme die Einwände, die selbst von der Generalstaatsanwaltschaft kamen, ‚sehr ernst‘, (…), was auch für die Sorge einiger gelte, die Maßnahme könne die Cum-ex-Ermittlungen beeinträchtigen. Ziel aller Überlegungen und Maßnahmen sei es im Gegenteil, das Fahndungsteam ‚zu stärken, um so noch bessere Bedingungen für die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu schaffen und dadurch umfassende Aufklärung zu ermöglichen‘. Gleichwohl könnte Limbachs Rolle rückwärts auch nur eine auf Zeit sein, bis sich die Wogen geglättet haben. Zunächst wolle er sich mit den Verantwortlichen bei der Generalstaatsanwaltschaft und Staatsanwaltschaft austauschen, bemerkte er. ‚Wenn wir dabei geeignetere Wege finden, bin ich selbstverständlich auch offen dafür, die in Rede stehende Organisationsentscheidung rückgängig zu machen.‘ Und wenn nicht?

Auf alle Fälle erscheint das Verhältnis zwischen Limbach und Brorhilker, die sich den Ruf als unbeugsame Kämpferin gegen die ‚Cum-ex-Bande‘ erworben hat, nachhaltig zerrüttet.“

(junge Welt vom 10. Oktober 2023)

 

„Berufspolitiker können in aller Öffentlichkeit ihren ‚Canossa‘-Moment durchleben: Nach der Kritik von Rechts- und Finanzpolitikern sowie dem Widerstand aus den Reihen der Strafjustiz hat Benjamin Limbach (…) eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen. Reumütig erteilte Limbach der geplanten Aufspaltung der Kölner Staatsanwaltschaft, die eine Schlüsselrolle in der Aufklärung des milliardenschweren Steuerskandals ‚Cum-ex‘ spielt, eine Absage. (…) Für einen Sinneswandel hat seinen Worten nach ein Treffen im Ministerium am vergangenen Mittwoch gesorgt, an dem unter anderem auch Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, bisher in Köln alleinige Hauptabteilungsleiterin für die Cum-ex-Fälle, teilnahm. (…) Auf Nachfrage erklärte der Justizminister, er habe deswegen lange nicht das Gespräch mit Brorhilker gesucht, weil dies Aufgabe des Leitenden Oberstaatsanwalts sei. Dies entspreche seiner Ansicht von ‚Führungsmanagement‘ in der Justizverwaltung. Brorhilker hatte sich intern mit einem Brief an den Hauptstaatsanwaltsrat gewandt, der die oberste Personalvertretung innerhalb des Justizministeriums ist. Darin warf sie Limbach Fehler und irreführende Darstellungen zu den Cum-ex-Ermittlungen vor.“ 

(FAZ vom 13. Oktober 2023)

 

„Seit zehn Jahren verfolgt Brorhilker mutmaßliche Steuerdiebe rund um den Globus, bis nach Australien, und hat dabei viel erlebt: einen weinenden Privatbankier; erboste Anwälte, die ihr alles Mögliche vorwerfen; oder widerspenstige Drahtzieher, die sich angesichts drohender Haftstrafen plötzlich in redefreudige Kronzeugen verwandeln. Was die schier ruhe- und rastlose Oberstaatsanwältin in diesen zehn Jahren bislang nicht erlebt hat, das ist ein Minister, der sich ihr gewissermaßen in den Weg stellt. Noch dazu ein Politiker der Grünen, die lange Zeit wie kaum eine andere Partei für Aufklärung gesorgt haben. (…) Jetzt hat Minister Limbach zu spüren bekommen, was es heißt, sich mit Brorhilker anzulegen. (…) Mehr als 60.000 Menschen* haben nach Angaben der Organisation Finanzwende eine von diesem Verein initiierte Eingabe unterschrieben. Darin wird die Landesregierung in NRW aufgefordert, die Cum-ex-Hauptabteilung H bei der Kölner Staatsanwaltschaft nicht aufzuspalten, sondern auzubauen.“

(Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023)

 * (Finanzwende selbst spricht in einer Meldung vom 13. Oktober 2023 von mehr als 80.000 Unterschriften)

 

Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Justiz stellen Süddeutsche Zeitung und Focus Online an:

„Es ist ein seltsamer Termin, der an diesem Mittwoch im nordrhein-westfälischen Justizministerium in Düsseldorf stattfindet. Die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker kommt, und zwar auf Wunsch von Minister Benjamin Limbach. Der Grünen-Politiker will mit der Ermittlerin besprechen, wie in einem der größten Steuerskandale in Deutschland weiter verfahren wird. (…) Der ungewöhnliche Termin und seine Vorgeschichte sind ein Lehrstück darüber, was Minister gerade nicht tun sollten. Sie sollten grundsätzlich nicht in Ermittlungsverfahren von Staatsanwaltschaften eingreifen. Und dies erst recht nicht in politisch heiklen Fällen wie Cum-Ex. (…) In einem der vielen Verfahren dazu geht es auch um merkwürdige Vorgänge bei der Hamburger SPD. Und damit um die Rolle des heutigen Kanzlers Olaf Scholz als damaliger Bürgermeister in Hamburg, gegen den aber nicht ermittelt wird. Die Grünen regieren als Juniorpartner mit der SPD in Hamburg und im Bund in Berlin. In beiden Parlamenten ist in Sachen Cum-Ex vom ursprünglichen Anspruch der Bürgerrechtspartei, für Transparenz zu stehen, nicht viel übrig. Aus Rücksicht auf den Partner halten sich die Grünen bei der Aufklärung fragwürdiger Vorgänge um die SPD und den damaligen Bürgermeister Scholz in der Hansestadt auffällig zurück. Brorhilker hingegen will unbedingt wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der hanseatische Fiskus die dortige Privatbank Warburg zeitweise sehr geschont hat. (…) Dass Limbach sich in dieser Lage als grüner Minister in die Arbeit der Kölner Staatsanwaltschaft einmischt, zeugt von mangelndem Fingerspitzengefühl und fehlender politischen Weitsicht. (…) Was der grüne Minister da treibt, wirft jedenfalls die Frage auf, warum Deutschland als demokratischer Rechtsstaat überhaupt noch am Weisungsrecht von Justizministerien gegenüber Staatsanwaltschaften festhält. (…) Die Weisungsbefugnis sollte stark eingeschränkt werden. Pläne dafür gibt es seit Jahren. Sie sollten endlich umgesetzt werden.“

(Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023)

 

„Während die Deutschen gebannt auf die Wahlergebnisse schauten, machte der grüne nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach am Sonntag einen spektakulären Rückzieher: Er verzichtet auf den Umbau der Staatsanwaltschaft in Köln, der Steuerbetrugsermittlungen behindert hätte. Einer, der jetzt wieder zittern muss, ist Kanzler Olaf Scholz. (…) Mit seiner politischen Kehrtwende gibt er seinen Kritiker Recht: Sie hatten darauf hingewiesen, dass die Umstrukturierung der Abteilung Deutschlands hartnäckigste Verfolgerin der kriminellen Cum-Ex-Geschäfte, die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, in ihrer Arbeit behindern würde.

Der Skandal dahinter ist riesig: Namhafte Adressen aus der deutschen Finanzwelt waren jahrelang an krummen Geschäften zu Lasten des Steuerzahlers beteiligt. Die Politik schaute zu – oder war sogar behilflich. Mancherorts wird deswegen hartnäckig ermittelt, andernorts sieht man keinen besonderen Grund dafür. In Hamburg, wo möglicherweise mit Wissen des ehemaligen Bürgermeisters und heutigen Bundeskanzlers Olaf Scholz der größte Schaden entstanden ist, gehören die Ermittler eher zu der zurückhaltenden Fraktion. In Köln allerdings sitzen die Unbeugsamen. Und ausgerechnet sie wollte der grüne Justizminister ausbremsen. (…)

Mit im Fokus stehen dabei: Der damalige Finanzsenator Peter Tschentscher, heute Hamburger Regierungschef, und sein Vorgänger als Erster Bürgermeister: Olaf Scholz. Gegen sie gab es seit Bekanntwerden des Skandals mehrere Strafanzeigen: Sie hätten Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch das Bankhaus seit 2007 geleistet, und im Falle Scholz auch noch uneidliche Falschaussage geleistet, so formulierte es der Strafrechtler Gerhard Strate in seiner 38-seitigen Strafanzeige zu Jahresbeginn. (…)

Im März 2022 lehnte die Staatsanwaltschaft Hamburg nach nur vier Wochen Prüfung die Eröffnung eines Strafverfahrens ab. Scholz habe glaubhaft gemacht, dass er sich an Gespräche mit dem Warburg-Bankier Christian Olearius 2016 und 2017 nicht erinnern könne. (…)

Staatsanwälte in Deutschland sind weisungsgebunden. Da kommt schnell die Vermutung auf, dass aus der Politik eindeutige Hinweise gegeben wurden, die man nicht ablehnen kann. Jedenfalls in Hamburg. (…)

Ganz anders läuft es in Köln. Hier ermittelt seit Jahren Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker. Zunächst mit einem kleinen Team gegen Verdächtige aus dem Kölner Raum in Zusammenhang mit den Hamburger Vorgängen. Brorhilker ließ sich nicht abwimmeln, und je intensiver in Köln ermittelt wird, umso blamierter steht die Hamburger Justiz da. Und desto gefährlicher wird es für einige prominente Namen. Dann allerdings schien auch die nordrhein-westfälische Politik ihrem Justiz-Star ins Handwerk pfuschen zu wollen.

Justizminister Limbach, heute Grüne, bis 2018 bei der SPD, wollte über den neu ernannten Leiter der Staatsanwaltschaft Köln, Stephan Neuheuser, eine Reorganisation durchsetzen.“

(Focus Online vom 9. Oktober 2023)

 

Das Handelsblatt verweist darauf, wie viel Aufklärungsarbeit bei Cum-Ex noch zu erledigen ist:

„Arbeit gibt es noch reichlich: Die Staatsanwaltschaft verfolgt aktuell rund 120 Ermittlungskomplexe mit etwa 1700 Beschuldigten. Bis heute hat die Behörde zehn Anklagen gegen 13 Angeklagte geschrieben. Es gibt mehrere Verurteilungen, drei davon hat der Bundesgerichtshof bereits bestätigt.

Der Großteil der Ermittlungen ist noch lange nicht abgeschlossen. Erst in jüngerer Zeit hat die Staatsanwaltschaft zahlreiche an Cum-Ex-Geschäften beteiligte Großbanken durchsucht, zuletzt die französischen Institute Natixis und BNP Paribas und die japanische Großbank Nomura. Anfang 2023 gab es auch eine Razzia bei ehemaligen Topmanagern von HSBC Trinkaus in Düsseldorf.

Das Ausmaß des Skandals ist in Deutschland bisher ohne Beispiel. Die Staatsanwaltschaft stößt deshalb an ihre Kapazitätsgrenzen. Kritiker hatten gemutmaßt, dass die strafrechtliche Aufarbeitung des Skandals vernachlässigt wird. Die Aufteilung der Hauptabteilung unter Leitung eines relativ unerfahrenen Oberstaatsanwalts könne zu schnelleren Einstellungen führen, so die Befürchtung. Doch jetzt bleibt zunächst alles bei der bisherigen Struktur.“

(Handelsblatt vom 12. Oktober 2023)

Auch die Bürgerbewegung Finanzwende betont in einer Mitteilung vom 13. Oktober, dass der Kampf gegen Cum-Ex weiterhin defizitär ist:

„Wirklich unglaublich: Der NRW-Justizminister Limbach plante die Aufspaltung der Abteilung, die bei der Kölner Staatsanwaltschaft für die juristische Aufarbeitung des Cum-Ex-Steuerraubes zuständig ist. (…) Doch dazu ist es nicht gekommen! Finanzwende startete umgehend eine Petition (…) für die politische Rückendeckung Brorhilkers und forderte eine personelle Aufstockung ihrer Abteilung statt der geplanten Umstrukturierung. Über 80.000 Bürger*innen haben sich in kürzester Zeit mit ihrer Unterschrift unserer Forderung angeschlossen, Cum-Ex-Täter*innen nicht davonkommen zu lassen. (…) Trotz dieses Erfolges gibt es aber weiter viel zu tun. Die angekündigten Stellen müssen erst noch besetzt werden. Zudem sollten pro Staatsanwalt und Staatsanwältin mindestens acht Ermittler*innen von anderen Behörden wie Steuerfahndung und Polizei zur Verfügung stehen. Wir sind also noch lange nicht da, wo wir bei der Bekämpfung von CumEx eigentlich sein müssten.“

Zum Schluss sei auf den Hintergrundartikel von Herbert Storn (Business Crime Control) vom 11. Oktober 2023 in Makroskop (Das Magazin für Wirtschaftspolitik) verwiesen:

„Die Cum-Ex-Lobby schlägt zurück“,

https://makroskop.eu/33-2023/die-cum-ex-lobby-schlagt-zuruck/

Die Situation bis zur „Kehrtwende“ des Justizministers von NRW in Sachen Organisationsstruktur der Staatsanwaltschaft Köln beleuchtet detailliert der Podcast „Handelsblatt Crime“ (vom 8. Oktober 2023):

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/eklat-in-der-nrw-justiz/29431978.html

Quellen:

„Cum-ex: Justizminister mit Kehrwende“, FAZ vom 13. Oktober 2023

Klaus Ott: „Machtkampf um die Cum-Ex-Aufklärerin“, Süddeutsche Zeitung vom 10. Oktober 2023

ders.: „Einmischen verboten“, Süddeutsche Zeitung vom 11. Oktober 2023

Ralf Wurzbacher: „Limbach macht halbe Rolle rückwärts“, junge Welt vom 10. Oktober 2023

https://www.jungewelt.de/artikel/460750.korruption-limbach-macht-halbe-rolle-rückwärts.html?

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Chef-Ermittlerin Brorhilker bekommt plötzlich mehr Macht“, Handelsblatt (Online) vom 12. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-ex-skandal-chef-ermittlerin-brorhilker-bekommt-ploetzlich-mehr-macht/29440496.html

Oliver Stock (Gastautor: Reinhard Schlieker): „Der seltsame Rückzieher des grünen NRW-Ministers – Scholz muss wieder zittern“, Focus Online vom 9. Oktober 2023

https://www.focus.de/finanzen/news/cum-ex-ermittlungen-der-seltsame-rueckzieher-des-gruenen-nrw-ministers-scholz-muss-wieder-zittern_id_221528190.html

„CumEx-Täter*innen nicht davonkommen lassen“, Mitteilung von Finanzwende e.V. vom 13. Oktober 2023

https://www.finanzwende.de/themen/cumex/cumex-taeterinnen-nicht-davonkommen-lassen/

 

Fehlendes Interesse an Whistleblowing: Strafzahlung für Deutschland

Bereits im Dezember 2021 hätte die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern vom Oktober 2019 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Die EU hatte den Mitgliedsstaaten also eine Frist von mehr als zwei Jahren eingeräumt, ihren Auftrag zu erledigen. Der Bundestag verabschiedete das Hinweisgeberschutzgesetz jedoch erst im Dezember 2022. Der Bundesrat, in denen die Union mitregiert, blockierte das Vorhaben dann im Februar 2023.

„Endlich, am 2. Juli 2023, trat das Gesetz in Kraft – nur war beim Europäischen Gerichtshof schon Monate vorher eine Klage der Kommission eingegangen.  Brüssel hatte die Geduld verloren, das politische Versagen bekam eine Zahl: Es war ein Tagessatz, ein bisschen so wie beim Gerichtsvollzieher: 61.600 Euro pro Tag zwischen dem abgelaufenen Stichtag und dem Inkrafttreten verlangte die EU. (…) In Berlin beginnt man sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass dieses politische Versagen echtes Geld kosten wird. Gerechnet wird so: 560 Tage Verspätung mal 61.600 Euro macht 34.496.000 Euro. Vorsichtshalber aufgerundet auf 35 Millionen.“ (Süddeutsche Zeitung)

Offiziell geht Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof juristisch gegen die Strafzahlung vor. Vorsorglich ist die Summe im Haushalt des Justizministeriums aber bereits eingestellt – die Bundesrepublik nimmt den Vorgang also ernst.

Mit 35 Millionen Euro, so die Süddeutsche Zeitung, ließe sich dagegen viel Gutes tun. Ausgerechnet Organisationen, die sich dem Kampf gegen Hass im Netz verschrieben hätten, würden darüber klagen, dass die Förderung ihrer Arbeit im kommenden Haushaltsjahr gekürzt oder gestrichen werden solle.

Die Sache könnte nach Meinung der SZ sogar noch viel teurer werden. Um 240.240 Euro täglich, für den Fall, dass der Europäische Gerichtshof es ebenso sähe wie die EU: „Dass die deutsche Regelung nämlich bis heute nicht gut genug ist, weil die vorgeschriebenen Meldestellen für Whistleblower in vielen Gemeinden bis heute nicht existieren. (…) Noch mal eine knappe Viertelmillion täglich, was soll‘s. Es wäre dann das ebenso teure wie beschämende Finale einer ohnehin beschämenden Geschichte.“

Quelle:

Georg Mascolo: „Das wird jetzt wehtun“, Süddeutsche Zeitung vom 7./8. Oktober 2023

 

 

Elon Musk: Rücksichtslos gegen Flüchtende und eigene Beschäftigte

Felix Klopotek schreibt in der Augustausgabe 2023 der Konkret über Elon Musk, den reichsten Menschen der Welt:

„Bewundernd, distanziert, zweifelnd und staunend schaut die hiesige Elite auf Musk. Wie soll man ihn einschätzen? Was kann man von ihm erwarten? Man weiß es nicht – und man soll es auch gar nicht wissen. Das ist die Pointe: Diese Fragen sollen unbeantwortet bleiben. Noch für eine Selbsteinschätzung, eine Erklärung in eigener Sache, ein definitives Leitbild ist Musk zu groß. So bleibt offen, wofür er steht. Ultraelitär oder lässig antibürgerlich? Globalistische Tech-Elite oder lieber Trump-Kumpel? Auf seiten der Ukraine oder doch Sympathien für Putin und Xi Jinping, weil die so harte Machertypen sind? Lächerliche Fragen aus der Sicht von Musk. Er ist da, wo er seine Chancen sieht, immer bereit zu zerstören, um Neues zu schaffen. Er verkörpert die Vision einer kapitalistischen Welt, die nach Jahren, Jahrzehnten des Klein-Kleins im Westen sich endlich entkoppeln muss von politischen Restriktionen – Liberalismus, Konservatismus, Demokratie, gar Sozialismus. All diese Begriffe stehen für die Beschränkung der privaten unternehmerischen Initiative. Musk ist noch nicht mal antipolitisch, er ist radikal apolitisch.“ (Seite 16)

Rechte Verschwörungserzählungen

Letztere Behauptung lässt sich angesichts aktueller Äußerungen des Tech-Milliardärs bezweifeln. So teilte Musk Ende September den hetzerischen Post eines offenbar rechtsextremen Nutzers seiner Internetplattform X (vormals Twitter), in dem zur Wahl der AfD aufgerufen wird, und kritisierte scharf die deutsche Migrationspolitik. Der User behauptet in seinem Tweet, dass derzeit acht Schiffe deutscher NGOs auf dem Mittelmeer „illegale Einwanderer“ aufnehmen und in Italien absetzen würden. „Hoffen wir“, so der User, „dass die AfD die Wahlen gewinnt, um diesen europäischen Selbstmord zu stoppen.“ Musk kommentierte mit Blick auf die deutschen Schiffe: „Ist die deutsche Öffentlichkeit sich dessen bewusst? (…) Sicherlich ist es eine Verletzung der Souveränität Italiens, wenn Deutschland große Mengen illegaler Einwanderer auf italienischen Boden transportiert? Das hat etwas von Invasionsstimmung.“ (Handelsblatt vom 30. September 2023)

Musk bezieht sich dabei auf die Kritik der italienischen Regierung am Auswärtigen Amt, das in diesem Jahr Seenotrettungsorganisationen mit bis zu zwei Millionen Euro unterstützt. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte sich gegenüber Bundeskanzler Olaf Scholz irritiert über die finanziellen Hilfszahlungen gezeigt. Das Handelsblatt kommentiert Musks enorme Meinungsmacht vor dem Hintergrund der politischen Aktivitäten, Flüchtende von Europa fernzuhalten: „Mit dem Tweet von Musk gewinnt die Debatte nun deutlich an Schärfe.“

 Die taz stellt klar, dass die Behauptungen von Musk & Co schlicht falsch sind:

„Tatsächlich sind von den bisher in diesem Jahr rund 133.000 an Italiens Küsten angekommenen Flüchtlingen und Migrant:innen nur rund 8 Prozent von NGO-Schiffen nach Italien gebracht wurden. (…) Zur Zeit des Tweets (…) waren nicht sieben oder acht, sondern fünf von deutschen Vereinen betriebene Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer unterwegs: die ‚Louise Michel‘, ‚Aurora‘, ‚Nadir‘ und ‚Trottamar III‘, dazu die von den Behörden festgesetzte ‚Humanity 1‘. Bisher erhielt kein Schiff deutsche Staatshilfe. Geplant sind Zahlungen an den Verein SOS Humanity, der die ‚Humanity 1‘ betreibt. Ob das Geld tatsächlich fließt, ist aber offen.“

Nach Auffassung der Frankfurter Rundschau  bedient sich der von Musk geteilte Aufruf zur Wahl der AfD eines Vokabulars, das an die von Rechtsextremen verbreitet rassistische und antisemitische Verschwörungserzählung des sogenannten Großen Bevölkerungsaustauschs angelehnt ist. „Unter diesem Narrativ propagieren Rechtsextreme einen angeblichen Versuch einer ‚globalen Elite‘, weiße Bevölkerungen gegen Geflüchtete ‚auszutauschen‘. Insbesondere Anhänger:innen der Identitären Bewegung verbreiten dieses Narrativ – vor allem in den sozialen Netzwerken. Auch in Bekennerschreiben rechtsextremer Terroristen findet es sich seit Jahrzehnten. (…) Elon Musk fiel bereits in der Vergangenheit immer wieder durch das Verbreiten von Verschwörungserzählungen auf: So verbreitete er einen antisemitischen Vergleich zwischen dem Comic-Bösewicht Magneto und dem liberalen Milliardär und Philanthropen George Soros. Soros – ein Überlebender des Holocaust – ist eine Hassfigur der extremen Rechten und wird in der Verschwörungserzählungen des ‚Großen Bevölkerungsaustausches‘ oft als Sinnbild ‚der Elite‘ verunglimpft. Am prominentesten in Orbàns Ungarn.“

„Produktionshölle“

Ein anderer Schauplatz: Ende September veröffentlichte das Magazin Stern die Ergebnisse einer Recherche über das Tesla-Werk im brandenburgischen Grünheide. Danach wurden gravierende Verstöße von Elon Musks Unternehmen gegen Arbeitsschutz- und Umweltauflagen festgestellt – die die Politik offenbar tatenlos hinnimmt. Die Vorwürfe des Stern beruhen teils auf Dokumenten, die Reporter:innen des Magazins offenbar einsehen konnten, teils auf Aussagen von Betroffenen, die über selbst erlittene Unfälle berichteten. Daneben, so der Stern, konnten zwei Reporterinnen in die Gigafabrik eingeschleust werden und deshalb gravierende Mängel selbst beobachten.

Das nd kommentiert die Veröffentlichung des Stern:

„Wie viel unattraktiver kann Elon Musk das Arbeiten in seiner Tesla-Gigafabrik in Grünheide noch gestalten? Keine Tarifbindung trotz Automobilindustrie, Verschwiegenheitserklärung im Arbeitsvertrag, Ellbogenmentalität gemischt mit autoritärer Führung, heiße Sommer und kalte Winter in den Fabrikhallen: Tesla scheint ein richtig mieser Arbeitgeber zu sein. Nun glänzt die Gigafabrik in Grünheide mit hohen Zahlen meldepflichtiger Arbeitsunfälle und Gruselgeschichten von Verunglückten.“ (nd vom 5. Oktober 2023)

Der von Tesla-Gründer und Provokateur Musk selbst stammende Begriff „Produktionshölle“ bezeichnet anschaulich die seit Jahren berüchtigten Arbeitsunfallstatistiken und Produktionsvorgaben des seit März 2022 produzierenden Werks von Tesla (vgl. nd vom 8. Oktober 2023).

Eine Auswahl der Vorwürfe der investigativen Stern-Recherche gegen Tesla in Grünheide:

– Tesla durfte in nicht einmal zwei Jahren die Fabrik in ein Trinkwasserschutzgebiet setzen – Das Landesamt für Umwelt und die untere Wasserbehörde des Landkreises hebelten mit etlichen Sondergenehmigungen dafür große Teile ihrer Wasserschutzverordnung aus. Zum Teil erteilten die Behörden  für illegale Bauarbeiten nachträglich Ausnahmegenehmigungen. 

– Das Werk gefährdet Mitarbeiter:innen, Umwelt und Anwohner gleichermaßen: Fast täglich ereignen sich Unfälle mit schweren und schwersten Verletzungen. Giftstoffe, Öle und Diesel versickern wegen eines zum Teil nachlässigen Umgangs im Erdreich. „Allein zwischen Juni und November 2022 gab Tesla selbst demnach 190 meldepflichtige Unfälle an. (…) Die Daten der Rettungsstellen sprechen eine ähnliche Sprache. Man kann dort nachlesen, dass Musks Fabrik im ersten Jahr nach der Eröffnung 247 Mal einen Rettungswagen oder Hubschrauber anforderte. Auf die Mitarbeiterzahl umgerechnet, sind das in einem ähnlichen Zeitraum gut dreimal so viele Notfälle wie beispielsweise in Audis Werk in Ingolstadt.“ (Seite 32)

Nach Aussage eines Gewerkschafters verletzten sich in keinem anderen Autokonzern in Deutschland so viele Menschen wie bei Tesla. Es handelt sich dabei unter anderem um Verletzungen durch Stromschläge, Verbrühungen, Salzsäure, amputierte Gliedmaßen.

– Der Konzern wurde vom Stern mit dessen Recherchen und den Vorwürfen der Mitarbeiter:innen konfrontiert, reagierte aber nicht darauf. Tesla hat mit Hilfe von Politik und Brandenburgs Behörden ein System des Schweigens geschaffen. Hinweisgeber, die über Sicherheitsmängel informierten, verloren ihren Job. Aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln in Arbeitsverträgen können von Unfällen betroffene Beschäftigte nicht offen mit Journalisten sprechen. Mitarbeitende, die über interne Vorgänge reden, müssen mit ihrer Entlassung und Schadensersatzklagen rechnen. Tesla schottet sich gegenüber der Öffentlichkeit nahezu ab „wie ein Gefängnis“. (Seite 26).

– Brandenburgs Behörden nehmen ihre Kontrollfunktion offensichtlich nicht ernst. Aus ihren Akten, so der Stern, gehe hervor, dass seit Januar 2022 mindestens ein Mitarbeiter des Landesamts für Arbeitsschutz  mehrmals im Monat zu Tesla fährt, um die Arbeitssicherheit zu prüfen – zumeist allerdings erst nach vorheriger Ankündigung und Angabe darüber, was genau er sich ansehen will.

Dazu der Kommentar des Stern:

„Es ist das eine, dass die Regierung eines Bundeslandes stolz ist auf die Ansiedlung eines Weltkonzerns, den Regierungen und Regionen in ganz Europa umworben haben. Und gute Beziehungen zu diesem Konzern zu unterhalten, weil es allen Seiten nutzt. Etwas ganz anderes ist es, wenn Politiker und Behörden dabei zusehen, wie ein Unternehmen systematisch Menschen und die Umwelt in Gefahr bringt und gegen Auflagen und Gesetze verstößt. Oder sogar mithelfen, dass diese Missstände möglichst nicht auffallen.“ (Seite 35)

Stephan Kaufmann bilanziert nüchtern für das nd:

„Tesla unterscheidet sich von der deutschen Konkurrenz nur dadurch, dass es die geltenden Regeln des kapitalistischen Geschäfts besonders konsequent umsetzt. Genau deswegen ist der Konzern ja auch besonders erfolgreich: Umsatz in drei Jahren verdreifacht, Gewinn versiebenfacht. ‚Es sind die Leute in diesen Fabriken, die unseren Wohlstand schaffen‘, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz bei der Werkseröffnung im März 2022. Seitdem hat sich Teslas Börsenwert um 170 Milliarden Dollar erhöht.“

Eine positive Meldung zum Schluss: Nach Angaben der IG Metall forderten am 9. Oktober mehr als 1.000 Beschäftigte von Tesla „bei einer erstmaligen Aktion in der Fabrik in Grünheide gemeinsam bessere Arbeitsbedingungen“. (Handelsblatt vom 9. Oktober 2023) Sie hätten sich mit einem Slogan auf IG-Metall-Aufklebern und T-Shirts gezeigt: „Gemeinsam für sichere & gerechte Arbeit bei Tesla“.

Quellen:

Christian Esser/Manka Heise/Tina Kaiser: „Außer Kontrolle“, Stern vom 26. September 2023, Seite 24-37 

Kilian Beck: „Musk teilt AfD-Wahlaufruf und liefert sich Schlagabtausch mit deutschen Außenministerium“,

Frankfurter Rundschau (Online) vom 3. Oktober 2023

https://www.fr.de/politik/gegen-baerbock-ministerium-verschwoerungserzaehlung-musk-schiesst-92552088.html

Christian Jakob: „Elon Musk hetzt gegen Seenotrettung“, taz (Online) vom 2. Oktober 2023

https://taz.de/Elon-Musk-hetzt-gegen-Seenotrettung/!5964281/

Stephan Kaufmann: „Tesla: Weltweit berüchtigte Arbeitsunfallstatistiken“, Neues Deutschland (Online) vom 8. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176660.gruenheide-tesla-weltweit-beruechtigte-arbeitsunfallstatistiken.html?

Felix Klopotek: „Logik des Schreckens“, Konkret 8/2023, Seite 16-18

Jule Meier: „Arbeitsunfälle bei Tesla in Grünheide: Arm ab und arm dran“, Neues Deutschland (Online) vom  5. Oktober 2023

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176737.arbeitsschutz-arbeitsunfaelle-bei-tesla-in-gruenheide-arm-ab-und-arm-dran.html?

Dietmar Neuerer: „Elon Musk teilt Beitrag mit Aufruf zur Wahl der AfD – Kritik von den Grünen“, Handelsblatt (Online) vom 30. September 2023

https://www.handelsblatt.com/politik/international/tesla-chef-elon-musk-teilt-beitrag-mit-aufruf-zur-wahl-der-afd-kritik-von-den-gruenen/29421492.html

„Über 1000 Tesla-Mitarbeiter für bessere Arbeitsbedingungen“, Handelsblatt (Online) vom 9. Oktober 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ig-metall-ueber-1000-tesla-mitarbeiter-fuer-bessere-arbeitsbedingungen/29434870.html