Um „die Wirtschaft“ abzusichern, werden Milliardenpakete geschnürt und Zuschüsse sowie billige Kredite an Unternehmen verteilt. Die Armen aber müssen warten. Seit Beginn der Ausbreitung des Coronavirus haben sich deshalb Gruppen und Organisationen, die sich für Menschen in prekären Lebenssituationen einsetzen, zu Wort gemeldet, die sich abzeichnende Notsituation Betroffener gegenüber Politik und Öffentlichkeit geschildert und sozialpolitische Forderungen erhoben.
Der Erwerbslosenverein Tacheles e.V. veröffentlichte bereits am 21. März 2020 „29 Vorschläge“, die zum Teil sofort oder aber nach vorheriger Gesetzesänderung umgesetzt werden könnten, um die Versorgung aller einkommensschwacher Haushalte sicherzustellen. Um Preissteigerungen und Mehrkosten (Schließung vieler Tafeln) zu kompensieren, wird beispielsweise eine Einmalzahlung in Höhe von 500 Euro für alle Beziehenden von Grundsicherung, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungen, Wohngeld oder einer niedrigen Rente vorgeschlagen. Daneben sollte während der laufenden Coronakrise der jeweilige Regelbedarf dieser Gruppen temporär um einen Zuschlag von 100 Euro erhöht werden. Damit könnten anfallende Mehrkosten für gesundes, vitaminreiches Essen abgefedert und die wegfallende kostenlose Essensversorgung von Kindern wegen Kita- und Schulschließungen ersetzt werden. Außerdem wären zu erwartende steigende Lebensmittelpreise auszugleichen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert laut Pressemitteilung vom 31. März 2020 ebenfalls „eine sofortige Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung um 100 Euro pro Monat und Haushaltsmitglied, um insbesondere eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen“. Zusätzlich hält er eine Einmalzahlung von 200 Euro für coronakrisenbedingte Mehraufwendungen für notwendig (etwa für Arzneimittel oder zur Begleichung erhöhter Energiekosten).
Auch für den Politologen und Armutsforscher Christoph Butterwegge wirkt sich die Corona-Krise nicht allein auf die Immunschwachen, sondern ebenfalls auf die Einkommensschwachen fatal aus. So verweist er darauf, dass die Einnahmen von Bettler*innen, Pfandsammler*innen und Verkäufer*innen von Straßenzeitungen sinken würden, da die Straßen wegen der Infektionsgefahr leergefegt seien und alle Leute eine Infektion fürchteten. Damit, so Butterwegge, werde die ohnehin brüchige Lebensgrundlage der Ärmsten vollends zerstört. Deshalb fordert auch er einen Rettungsschirm für die Allerärmsten. Konkret erwarte er einen „Ernährungszuschlag“ von monatlich 100 Euro für Hartz-IV-Bezieher*innen sowie Empfänger*innen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
Über 940 gemeinnützige Tafeln in Deutschland sammeln überschüssige Lebensmittel von Händlern bzw. Herstellern und verteilen diese regelmäßig an mehr als 1,6 Millionen bedürftige Menschen. Über 400 davon wurden bis Ende März 2020 wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Auch die Dachorganisation der politisch durchaus umstrittenen Tafelbewegung, die Tafel Deutschland e.V., forderte in einem Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil unter anderem eine vorübergehende Erhöhung der ALG-II-Sätze.
Die Folgekosten der Corona-Krise könnten sich auch für Teile der Mieterschaft dramatisch entwickeln. Unter dem Eindruck der akuten Krisenlage verbesserte die Bundesregierung zwar den Kündigungsschutz für Mieter*innen. Danach dürfen coronabedingte Mietrückstände aus dem Zeitraum von April bis Juni 2020 nicht zu Kündigungen der Wohnungen führen. Die entstandenen Mietschulden müssen jedoch bis Juli 2022 beglichen werden, zuzüglich etwa vier Prozent Zinsen. Die Regelung bedeutet also lediglich eine Verschiebung der Mietzahlungen für Betroffene der Krise, jedoch keinen Erlass. Am 27. März 2020 veröffentlichten deshalb mehr als 150 Wissenschaftler*innen einen offenen Brief „zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, in dem die alleinige Übernahme der angefallenen Mietschulden durch die Immobilienwirtschaft als Folgekosten der Pandemie gefordert wird. Neben einem sofortigen Moratorium von Kündigungen, Zwangsräumungen, Mieterhöhungen, Energie- und Wassersperren für Wohn- und Gewerbemieter*innen wird zudem die Unterbringung Wohnungs- und Obdachloser in Hotels und leeren Wohnungen gefordert.
Mit der Mitteilung vom 7. April 2020 schließt sich ein Zusammenschluss mehrerer sozialer Organisationen (Flüchtlingsrat Berlin, Bündnis solidarische Stadt, Wohnungslosenparlament u.a.) diesen Forderungen an und stellt fest:
“Während zahlreiche Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung zum Schutz vor dem Coronavirus verordnet werden, leben zehntausende Menschen in Berlin in Geflüchteten-, Wohnungslosen- und Obdachlosenunterkünften, auf engstem Raum in Mehrbettzimmern, mit Gemeinschaftsbädern und/oder Gemeinschaftsküchen (…) Kontakt- und Abstandsverbote einzuhalten ist in dieser Situation unmöglich. Hinzu kommen mehrere tausend obdachlos auf der Straße lebende Menschen, die sich so gut wie gar nicht vor dem Virus schützen können.“
Deshalb setzen sich die Organisationen für die umgehende Unterbringung aller Wohnungs- und Obdachlosen in Wohnungen, leerstehenden Hotelzimmern und Ferien- oder Businessappartements ein und fordern die Auflösung von Massenunterkünften, in denen der Infektionsschutz nicht umsetzbar ist.
Quellen:
„Tacheles ‒ Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise für einkommensschwache Haushalte. Ein umfassendes Forderungspaket an die Politik und Verwaltung, 21. März 2020
https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2626/
„Corona-Krise: Paritätischer fordert Notprogramm für Menschen in Hartz IV“, Pressemeldung vom 31. März 2020
Christoph Butterwegge: „Weniger Ungleichheit durch die Corona-Krise? Wirtschaftliche und soziale Folgen der Pandemie“, 8. April 2020
Thoralf Cleven: „Armutsforscher fordert ‚Rettungsschirm für die Allerärmsten‘“, 31. März 2020
„Immobilienwirtschaft an den Kosten der Corona-Krise beteiligen. Offener Brief von Wissenschaftler*innen zur Wohnungsfrage in Zeiten von Corona“, 27. März 2020
https://zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/announcement/view/72
„Tafeln fordern stärkere Hilfen für arme Menschen in der Corona-Krise“, Pressemitteilung der Tafel Deutschland e.V. vom 30. März 2020
„Menschenleben schützen! Massenunterkünfte auflösen! Wohnungen statt Lager!“
Gemeinsame Pressemitteilung von We’ll Come United Berlin und Brandenburg, AK Wohnungsnot, Unter Druck e.V., Women in Exile, Selbstvertretung wohnungsloser Menschen/Wohnungslosentreffen, Wohnungslosenparlament, Bündnis solidarische Stadt, Flüchtlingsrat Berlin e.V., 7. April 2020