Seit geraumer Zeit sei in Wirtschaftspolitik und -wissenschaft vom Comeback des Staates die Rede, heißt es in einem Beitrag in der Septemberausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik. Dahinter verberge sich aber keinesfalls eine linke Agenda, sondern eine auf die Profitinteressen großer Konzerne  ausgerichtete Politik. Insbesondere während der Corona-Pandemie und im Zuge des Ukrainekriegs sei den Rufen nach „mehr Staat“ von der Politik im großen Stile gefolgt worden. Als Beispiel wird die Subventionspolitik der Bundesregierung angeführt, so etwa die Förderung des Baus der Intel-Chipfabrik in Magdeburg. Dabei gehe es um fast zehn Milliarden Euro, ergänzt die Süddeutsche Zeitung (SZ), „eine Summe, die doppelt so groß ist wie der gesamte Bau- und Wohnungsetat des Bundes in diesem Jahr“. Im vergangenen Jahr, so die SZ mit Bezug auf den jüngsten Subventionsbericht der Regierung, seien Finanzhilfen von knapp 21 Milliarden an die gesamte deutsche Wirtschaft geflossen – „also gerade einmal das Doppelte dessen, was nun ein einziges Unternehmen erhalten soll“. Industriepolitik sei wieder ganz klar en vogue.

Diese hilft allerdings nicht der Armutsbevölkerung oder den im Niedriglohnsektor Beschäftigten, sondern ist einseitig auf Unternehmen und ihre Kapitalgeber ausgerichtet. Die Förderung der IT-Branche mittels  Subventionen ist so gigantisch wie legal – die illegale Verstrickung staatlicher Stellen mit der Digitalwirtschaft zeigt jedoch die andere, „schmutzige“ Seite des engen Zusammenspiels von Unternehmen, Märkten und Staat auf. Als Paradebeispiel lässt sich – wenig überraschend – das Verhältnis der Geheimdienste zum ehemaligen Dax-Konzern Wirecard anführen. 

Vor allem der ehemalige Abgeordnete der Partei Die Linke im Bundestag, Fabio De Masi, widmet sich seit Jahren der Aufklärung des Wirecard-Skandals. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Falter betonte er jüngst, dass Finanzkonzerne im digitalen Zeitalter nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine geopolitische Rolle spielen würden. Auf diesem Spielfeld hätte sich auch Wirecard getummelt. Der flüchtige ehemalige Chef für das operative Geschäft bei Wirecard, Jan Marsalek, habe versucht, in allen möglichen Ländern, die sicherheitspolitisch exponiert sind – China, Saudi-Arabien, Naher und Mittlerer Osten – Zahlungsströme abzuwickeln. Nach De Masi würden Experten die These vertreten, dass Marsalek vielleicht ein Strohmann sei, der versucht habe, in die Zahlungsströme dieser Länder hineinzukommen. Es gebe Indizien dafür, dass er das mit Unterstützung der Bundesregierung getan habe. Schließlich habe die Bundesregierung ihr volles diplomatisches Gewicht für Wirecard in die Waagschale geworfen, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel eingeschlossen.

Gegenüber dem WDR zeigte sich De Masi überzeugt davon, dass Marsalek auch Kontakt mit deutschen Sicherheitsbehörden hatte, die das allerdings abstreiten würden. Zwei ehemalige deutsche Geheimdienstkoordinatoren seien schließlich im Umfeld von Wirecard aufgetaucht. Es sei daher keinesfalls zufällig, dass Deutschland nicht genug tun würde, um Marsalek zu finden. Für Sicherheitsbehörden sei es ein „Jackpot“, so De Masi mit Blick auf den Aspekt der Geldwäsche, „wenn sie einmal im trüben Teich des Online-Glückspiels und der Online-Pornografie fischen können“.

Kein Wunder also, dass die staatlichen Instanzen recht wenig Interesse an einer umfassenden Aufklärung des Falls Wirecard zeigen – und vielleicht nicht allzu freudig auf ein Wiederauftauchen des weltweit gesuchten Jan Marsalek warten. Denn laut De Masi könnte Marsalek „ein paar schmutzige Geheimnisse an die Öffentlichkeit zerren“ und den laufenden Prozess gegen den Ex-CEO Markus Braun beeinflussen. Als „Finanzdetektiv“ ziemlich auf sich allein gestellt wendet sich De Masi direkt an den flüchtigen Marsalek, den er in einem offenen Brief fragt:

„Hat mittelbar oder unmittelbar eine Zusammenarbeit zwischen Ihnen und deutschen, österreichischen oder anderen Sicherheitsbehörden stattgefunden? Haben Sie die Kundendaten damals tatsächlich für den BND oder eine andere Sicherheitsbehörde angefordert, wie aus Ihrer Kommunikation überliefert ist? Waren Sie gar ein Strohmann von Sicherheitsbehörden? Wenn ja, welche Verantwortlichen oder Politiker hatten Kenntnis über eine solche Zusammenarbeit?“

Von Antworten ist bislang nicht bekannt. Über ein anderes industriepolitisches Feld, dem Energiesektor, sprach De Masi mit dem Nachrichtendienst Business Insider. Er kritisiert, dass Bundeskanzler Scholz versuche, „dubiose“ Termine mit zwei Unternehmern aus Potsdam, dem Wahlkreis von Scholz, zu verheimlichen. Scholz behaupte, die Treffen mit den beiden Betreibern von LNG-Terminals in Lubmin (Ostsee) seien in seiner Funktion als Bundestagsabgeordneter erfolgt, weshalb die Termine nicht hätten veröffentlicht werden müssen. „Der Kanzler wäre größenwahnsinnig, wenn er die Zuverlässigkeit zweier Glücksritter auf dem Gas-Markt persönlich überprüfen wollte. Das ist die Aufgabe von Sicherheitsbehörden“, wird De Masi zitiert. Die beiden bislang branchenfremden Unternehmer Stephan Knabe und Ingo Wagner, ein Steuerberater und ein Immobilienmanager, hatten im Frühjahr 2022 die Deutsche Regas gegründet und erhielten mittlerweile auch den Zuschlag für den Bau eines Flüssigerdgas-Terminals im Industriehafen Mukran (Rügen).

Die SZ schrieb im Juli: „Fragen richten sich auch an den Kanzler, der dieses Projekt quasi zur Chefsache gemacht hat. Je tiefer man sich in die Vorgeschichte der Regas, in die immer wieder umbenannten, neu gegründeten Gesellschaften eingräbt, desto größer werden die Fragezeichen. Gerade auch mit Blick auf einen von Wagner geführten Fonds namens Cirsio auf den Cayman Islands. Die Regas betont, daraus seien keine Geldmittel geflossen, um die LNG-Projekte zu finanzieren.“

Es sei, so die SZ, ungewöhnlich, dass sich ein Kanzler so stark in ein privatwirtschaftliches Projekt einschalten würde, aber aus dessen Sicht seien die von der Deutschen Regas geplanten LNG-Terminals auf Rügen wegen der ausbleibenden russischen Gaslieferungen essenziell für die Energieversorgung. Aus Sorge für den Tourismus und die Umwelt, so die Zeitung weiter, habe eine vom Ostseebad Binz beauftragte Anwaltskanzlei im Juli bei der Staatsanwaltshaft Stralsund eine Strafanzeige „wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Geldwäsche“ gegen den Geschäftsführer der Regas gestellt.

Quellen:

Jonas Becker/Rouven Reinke: „Die Rückkehr des Staates – fürs Kapital“, in: „Blätter für deutsche und internationale Politik“, 9/2023, Seite 41-44

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/september/die-rueckkehr-des-staates-fuers-kapital

Caspar Busse/Alexander Hagelüken/Claus Hulverscheidt: „Deutschland haut die Milliarden raus“, Süddeutsche Zeitung vom 24./25. Juni 2023

Georg Ismar: „Volldampf im ‚Deutschlandtempo‘“, Süddeutsche Zeitung vom 24. Juli 2023

Fabio de Masi, „Brief an Jan Marsalek, 1. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/topic/110.wirecard.html

„Jan Marsalek und Wirecard: Das perfekte Verbrechen?“, Fabio De Masi spricht mit Falter-Politikchefin Eva Konzett, Falter-Radio vom 30. Juli 2023

https://www.falter.at/falter/radio/64c3afad8ad4d40011398f15/jan-marsalek-und-wirecard-das-perfekte-verbrechen-981

„Scholz versucht, dubiose Termine zu verheimlichen“, Gespräch von Fabio De Masi mit Business Insider vom 3. August 2023

https://www.fabio-de-masi.de/de/article/4328.scholz-versucht-dubiose-termine-zu-verheimlichen.html