Wirtschaftskriminalität/Business Crime wird gern im “Schattenbereich“, im Milieu, bei der Mafia angesiedelt. Und doch finden wir sie in der Realität mitten in der Gesellschaft.
In dem Ankündigungstext eines Webinars mit Sven Giegold unter der Überschrift: „Too big to jail?“ heißt es:
„CumEx, WireCard, Abgasskandal, Kartellverfahren oder die vielen Bankenskandale: Der Schaden für die Steuerzahler*innen und für die deutsche Wirtschaft durch Wirtschaftskriminalität ist riesig – und auch für Verbraucher*innen, Aktionäre und Arbeitnehmer*innen. Dennoch: Die meisten Verfahren werden von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Wirtschaftskriminalität richtet einen erheblichen Schaden an und scheint dennoch kaum zu bekämpfen zu sein. Verantwortliche in Führungspositionen von Unternehmen können nur selten individuell zur Verantwortung gezogen werden. (…)
Dennoch gibt es auf entsprechende Meldungen in der Öffentlichkeit jeweils sehr unterschiedliche Reaktionen:
- Eher erschrocken ungläubig. Vor allem ungläubig gegenüber der Tatsache, dass regelmäßig und offensichtlich der über alles wachende Staat und seine Rechtsorgane so leicht übertölpelt werden können.
- Oder eher widerwillig hingenommen. Achselzuckend bedauernd als Ausrutscher. Eben als „Skandal“ abgetan.
- Oder heimlich trotzig gerechtfertigt. Wie bei den Steuerhinterziehern. Sind wir das nicht irgendwie alle?!
- Oder eben doch „mit System“. Und zwar ohne Fragezeichen.
Um dieses System, um dieses Systemische geht es mir hier. Davon abhängig die Frage der effektiven Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität – ihren Möglichkeiten oder ihrer Unmöglichkeit. Das Hase-Igel-Spiel. Nur dass es kein Spiel ist. Weil zu viel auf dem Spiel steht (siehe oben): eine soziale Gesellschaft, der Erhalt der Lebensgrundlagen, Recht und Demokratie.
Wenn ein Wirtschaftssystem wie das kapitalistische aus sich heraus kriminelles Handeln nicht nur nicht ausschließt, sondern als Bestandteil seines „Waffenarsenals“ betrachtet, Wirtschaftskriminalität also dem kapitalistischen Wirtschaftssystem inhärent ist, dann gehört es wahrlich auf den Prüfstand.
Zunächst: worin besteht die grundsätzliche „inhärente Kriminalitätsaffinität des Kapitals“?
Im Kern geht es um die Frage, inwieweit sich das Kapital in Gestalt seiner multinationalen weltweit operierenden Konzerne an bestehende Rechtsnormen zu halten gewillt ist, geschriebene wie ungeschriebene. Denn unbestritten sind soziale Gerechtigkeit, der Schutz von Mensch und Umwelt die normativen Vorgaben unserer Gesellschaft. Das durch die kapitalistische Konkurrenz bedingte Ranking von Profiraten als Grundlage für Investitionsentscheidungen ist aber eine völlig andere normative Vorgabe.
16 Jahre ist es her, dass der damalige Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann wie selbstverständlich die Maxime von der 25 Prozent Gewinnmarge öffentlich ausgegeben hat. Dafür wurde er 2005 eher bewundert als kritisiert.
Dazu aus dem 1. Band des Kapitals von Karl Marx eine auch heute noch hochaktuelle Passage, wo Marx den Gewerkschafter Dunning zu Wort kommen lässt:
„Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird das Kapital kühn. 10 Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, und es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren.“
Die Qualität der unheilvollen Macht des Kapitals in Gestalt seiner multinationalen Konzerne ist auch auf dieser Fachtagung von Business Crime Control das Problem, wie anhand der Beispiele von Kali+Salz AG und Tesla gezeigt wurde.
Es geht um nicht mehr oder weniger als darum, ob wir von einer Demokratie überhaupt sprechen können.
Das World Economic Forum – WEF-Davos – (die mächtigste Propaganda-Plattform des privaten Kapitals) stellte 2009 fest:
„Im Fall der Multinationalen Konzerne hat ihre effektive Reichweite als de-facto Institutionen der globalen Governance schon lange die Tätigkeit des UN-Systems überflügelt. (…) Multinationale Konzerne und zivilgesellschaftliche Organisationen müssen als vollwertige Akteure im globalen Governance System anerkannt werden, nicht nur als Lobbyisten.“
Private Unternehmens-Akteure haben inzwischen größeren Einfluss als gewählte staatliche Akteure, fallen aber nicht unter die demokratische Kontrolle!
Oder wie es Rainer Mausfeld zuspitzt:
„Mit transnationalen Großkonzernen schuf er (der Neoliberalismus, H.S.) eine neue Klasse von Akteuren, die formal abgesicherte Freiheitsrechte erhielten, die weit über Rechte natürlicher Personen hinausgehen. Diese Akteure genießen einen einzigartigen Schutz vor öffentlicher Transparenz und staatlichen Eingriffen in ihre Arbeitsbereiche. Sie haben die Rechte von Übermenschen erhalten, und sind jeder gesellschaftlichen Verantwortlichkeit und Kontrolle entzogen. Sie sind rechtlich verpflichtet, sich gesellschaftlich pathologisch zu verhalten, Macht und Reichtum zu maximieren und zugleich eigene Kosten zu externalisieren, also auf die Allgemeinheit abzuwälzen. So entstanden in den vergangenen Jahrzehnten die totalitärsten Strukturen, die der Mensch je geschaffen hat. Ihre globale Vernetzung hat die eigentlichen Zentren der Macht einer Verstehbarkeit durch die Öffentlichkeit entzogen und sie damit gleichsam unsichtbar gemacht. Indem Herrschaft zunehmend anonymisiert wurde, entfällt die Möglichkeit, Verantwortlichkeiten zuzuweisen und damit auch grundsätzlich die Möglichkeit demokratischer Kontrolle.“
(Rainer Mausfeld: Die neoliberale Mitte als demokratische Maske einer radikal antidemokratischen Gegenrevolution, in: Ali, Flassbeck, Mausfeld, Streeck, Wahl: Die extreme Mitte: Wer die westliche Welt beherrscht, Wien 2020, S.147)
Und die Übergänge zwischen der kriminellen und der legalen Wirtschaft sind fließend, wie die folgende Meldung zeigt:
„Banken helfen Terroristen und Drogendealern“, titelte die Frankfurter Rundschau vom 23. September 2020 in einem Bericht über die „FinCEN-Files“. Dafür haben mehr als 400 JournalistInnen recherchiert. Die Recherche zeigte, wie kaputt das System der internationalen Geldwäscheüberwachung ist, denn beteiligt waren auch fünf der mächtigsten Banken der Welt. Und alle erklärten, sie nähmen die Geldwäschebekämpfung sehr ernst.
Ein Grund für die fehlende Wirkungsmächtigkeit alternativer kritischer Ansätze und damit das Demokratie-Defizit liegt vermutlich in der unzureichenden Wahrnehmung der Dreistigkeit und der Militanz der neoliberalen Politik.
Die heute vorgetragenen Beispiele betreffen ja nicht nur eine Schädigung der Umwelt, sondern auch den Umgang mit Rechtsvorschriften. Sie zeigen, dass die Verteidigung von Ökologie und Recht heute von ehrenamtlichen Initiativen getragen werden muss, weil die meisten Parteien bereits zu stark in die ökonomischen Verhältnisse eingebunden sind. Das bedeutet natürlich einen ungeheuren Arbeitsaufwand und ungleiche Kampfbedingungen (David gegen Goliath).
Für BCC heißt das keine abnehmende, sondern eine zunehmende Bedeutung, das Problem stärker in der Öffentlichkeit, in der öffentlichen Wahrnehmung und vor allem im öffentlichen kritischen Diskurs zu verankern.
Ein Institut, wie es heute schon von einigen NGOs gemacht wird, wäre durchaus wünschenswert. Und wenn man träumen darf, wäre eine wissenschaftliche Beauftragung und Betreuung in einem solchen Rahmen eine wichtige Stütze – auch für eine sozial-ökologische Transformation.
Wenn noch die unabdingbare Vernetzung mit Initiativen dazukäme, wäre die „kritische Masse“ nicht unerheblich gestärkt.
Was tun?
Das bereits genannte WEF (das übrigens von rund 1.000 Großkonzernen finanziert wird) organisiert und betreut seit 1992 (also etwa so lang wie es BCC gibt) sogenannte „Young Global Leaders“, darunter in der ersten aufgemachten Klasse Angela Merkel, die von Kohl damals als „mein Mädchen“ bezeichnet wurde. Zur Zeit sind es 1.300 Leaders, die in dieser Verbindung sind, darunter vier Gesundheitsminister aus Deutschland (Andrea Fischer, Daniel Bahr, Philipp Rössler, Spahn), aber auch Macron, Özdemir und viele andere Politiker, aber auch Medienleute wie Maischberger.
Seit 2012 hat das WEF zusätzlich noch die „Global Shapers“ installiert. Das sind z.Zt. rund 10.000 junge Nachwuchskräfte unter 30 Jahren in 400 Städten weltweit.
Warum ich das ausführe:
Wenn wir die kapitalinhärente Wirtschaftskriminalität mit all den auch heute geschilderten dramatischen Auswirkungen wirklich überwinden wollen, also David gegen Goliath, dann kommen wir nicht darum herum, wenigstens ansatzweise solchen Influencern wie dem WEF durch die Verbindung von Wissenschaft, aktiven Gruppen, kritischen Medien und PolitikerInnen mit eigenem Verstand entgegenzutreten.
Nehmen wir uns ein Beispiel an der MEMORANDUM-Gruppe, die 1975 der Einleitung des Sozialabbaus ein erstes Memorandum der Professoren Huffschmid, Hickel und Schui entgegensetzte und das bis heute tut.
Ein sogenannter Think-Tank einer wirtschaftskritischen Denkgruppe aus Sozialwissenschaftlern, NGO-Vertretern, Publizisten und Journalisten, die sich mit den gesellschafts- und demokratietheoretisch relevanten Problemen der weltweit wirksamen Wirtschaftsverbrechen, mit Konzern-Verbrechen befassen und sie eben nicht durch Selbstkontrolle oder immer schärfere Strafgesetze, sondern durch Kapital-Kontrollräte, kriminalpräventive Mitbestimmung, Globalsanktionen (denen das Kapital nicht ausweichen kann, also Internationalisierung der kriminalpräventiven Wirtschaftsdemokratie) zu bekämpfen versucht.
Das wäre doch was!
Herbert Storn
ist Mitglied im Landesvorstand der GEW Hessen, aktiv bei Gemeingut in BürgerInnenhand und Vorstandsmitglied von Business Crime Control e.V.
Wir dokumentieren hier seine Rede auf der Fachtagung von BCC, die zum Thema: „Vergehen an Klima und Umwelt – staatlich genehmigt und gefördert? Die Fällte Gigafactory Tesla und Kali + Salz AG“ am 28. August 2021 in Frankfurt am Main stattfand.