Vom Niedergang der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit

Die Bezeichnung „Wissenschaftslügen“ ist hier als Sammelbegriff für alle dubiosen Handlungen gemeint, die dem herkömmlichen Verständnis von Wissenschaft als einer allein der Wahrheit verpflichteten Institution zuwiderlaufen. Bei den manipulativen Eingriffen und missbräuchlichen Nutzungen kann es sowohl um die Interessen einzelner Personen als auch um die Interessen der involvierten Geld- und Arbeitgeber gehen.

Auch wenn die bekannteren Formen unredlicher Vorgehens- und Verhaltensweisen (zum Beispiel Abgabe von Dissertationen, die zu einem großen Teil auf Plagiaten oder anderen Urheberrechtsverletzungen beruhen) für die Allgemeinheit nicht so bedeutsam sind, weisen sie doch darauf hin, dass es mit den eigentlich gebotenen Nachforschungen ebenfalls nicht gut bestellt sein kann. Der als Begründung für derartige Versäumnisse oft angeführte Zeitmangel mag zwar durchaus zutreffen, blendet aber die zugleich in Frage kommenden Faktoren wie Bequemlichkeit oder auch Gutgläubigkeit völlig aus.

Nach Lage der Dinge kann nicht einmal abgeschätzt werden, wie viele Betrugsversuche auf diese Weise unentdeckt geblieben sind. Vermutlich kommt auch deshalb oft Schadenfreude auf, wenn dann doch einmal eine Enttarnung gelungen ist.

Das gilt insbesondere für die „entlarvenden Lügen“, die in diesem Artikel mit zwei Beispielen vertreten sind.

Bei den sich daran anschließenden Beispielen geht es um Enthüllungen, die als Ergebnisse nachkontrollierender Experimente einerseits und investigativer Recherchen andererseits publiziert worden sind.

Abschließend soll der Versuch unternommen werden, sich einem schwer zu benennenden Problem zu nähern.

Krokodil KUNO

Ende 2016 ist den Autoren Katja Koch und Stephan Ellinger ein schier unglaublicher Coup gelungen: In der „Zeitschrift für Heilpädagogik“ (11/2016) veröffentlichten sie einen Artikel zum Thema „Förderung sozial benachteiligter Kinder durch Förderung mathematischer Vorläuferfähigkeiten – Evaluation des Förderprogramms ‘Kuno bleibt am Ball (KUBA)’.“ Kurz darauf gaben die beiden Forscher bekannt, eine komplett erfundene Untersuchung vorgelegt zu haben, aber da war der Artikel bereits veröffentlicht.

Mit Ausnahme einiger zustimmender Kommentare löste dieses Geständnis eine Welle der Empörung aus, deren Heftigkeit vermuten lässt, dass Koch und Ellinger tatsächlich ins Schwarze getroffen haben. In ihrer nachgereichten „Aufklärungsschrift“ weisen sie auf die beiden Hauptmotive ihres Handelns hin: Erstens ging es ihnen um die Bloßstellung der an sich schon widersprüchlichen Idee einer individuellen Förderung sozial benachteiligter Kinder mit Hilfe eines standardisierten Förderprogramms. Und zweitens wollten sie nachweisen, dass selbst unsinnige Publikationen eine Veröffentlichungschance haben, wenn für eine richtige Mischung der wissenschaftlich derzeit angesagten „Ingredienzien“ gesorgt wird. Zu diesen gehören nach Aussagen von Koch und Ellinger folgende Elemente:

• Vernachlässigung pädagogischer Fragestellungen zugunsten einer Fokussierung auf Messbarkeit

• Formelhafte Erwähnung von Schlüsselbegriffen und -namen

• Bevorzugung von Literaturzitaten und -belegen mit internationalen Bezügen

• Nachweis internationaler Vernetzung (internationale Kooperationspartner)

• Hinweis auf (die als Qualitätsmerkmal geltenden) Drittmittel

• Hervorhebung vorhandener (oft unverständlicher) Statistik-Kompetenzen

• Behauptung der Wirksamkeit des vorgestellten Programms

Schlitzohriger Postbote

Ganz anders hatte der gelernte Postbote Gert Postel das „wissenschaftliche Getue“ an den Pranger gestellt. Aber auch in diesem Fall kann man von „entlarvenden Lügen“ sprechen. Nicht ganz klar ist, ob er von Anfang an ein aufklärerisches Ziel verfolgt hat, als es ihm (nach einer vorherigen Anstellung als stellvertretender Amtsarzt in Flensburg) im November 1995 gelang, im sächsischen Zschadraß die Stelle eines Oberarztes im Maßregelvollzug im dortigen Fachkrankenhaus für Psychiatrie anzutreten. Kurze Zeit später (Anfang 1996) wurde ihm sogar eine C4-Professur angetragen, die er aber ablehnte.

Der Rest ist schnell erzählt: Im Juli 1997 wurde Postel zufällig enttarnt und musste eine vierjährige Gefängnisstrafe absitzen. In dieser Zeit schrieb er an seinem 2001 veröffentlichten Buch mit dem Titel “Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers”, das schnell zu einem Bestseller wurde.

Unter dem Aspekt des (noch) vorherrschenden wissenschaftlichen Selbstverständnisses ist vor allem die Frage interessant, wie es Postel gelingen konnte, die diversen Funktionen eines leitenden Oberarztes (Entscheidungen über Medikation und Unterbringung von Patienten, Abnahme von Facharztprüfungen und Gutachtertätigkeiten) auszufüllen, ohne irgendeinen Verdacht zu erregen. Ganz im Gegenteil – ihm wurden nach und nach auch noch weitere Aufgaben übertragen: Weiterbildungsbeauftragter der sächsischen Landesärztekammer im Bereich Psychiatrie, Vorsitzender eines Fachärzteausschusses und Leiter des Maßregelvollzugs.

Nach Postels eigenen Angaben war der über Jahre andauernde Betrug vor allem deshalb möglich, weil die Psychiatrie keine Wissenschaft, sondern eine Kunst sei, deren Vokabular ein mittelmäßig begabter Hauptschüler an zwei Wochenenden erlernen könne. Eine solche Behauptung ist sicherlich übertrieben. Außerdem wird sie der Bedeutung des in der Wissenschaft üblichen Umgangs mit Sprache nicht gerecht: Einerseits herrscht die Neigung vor, selbst einfache Sachverhalte verklausuliert darzustellen, während andererseits niemand gerne zugibt, etwas nicht verstanden zu haben. Auf diesem Nährboden konnte sogar eine von Postel völlig frei erfundenen Wortschöpfung („bipolare Depression dritten Grades“) prächtig gedeihen, ohne je in Zweifel gezogen zu werden.

Unlautere Beeinflussungsversuche

Es gibt Studien, die so klar interessengeleitet sind (Studien der Tabak-, Zucker- und oft auch Pharmaindustrie), dass deren Ergebnisse von vornherein nicht sonderlich ernst genommen werden. Demgegenüber gibt es hoch angesehene Studien mit wegweisendem Charakter, bei denen jeder Nachweis einer Unkorrektheit wie ein Schock empfunden wird.

Um mit einem der bekanntesten Beispiel zu beginnen: Im Laufe der Jahre haben sich die Anzeichen verdichtet, dass es bei dem 1971 von Philip Zimbardo durchgeführten „Stanford-Prison-Experiment“ nicht immer mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Bei diesem Experiment wurden zehn Studenten im Keller der Stanford University eingesperrt und von elf weiteren Studenten bewacht. Der nach sechs Tagen erfolgte Abbruch des Experiments schien zu belegen, dass nicht nur die willkürlich ausgewählten studentischen Wärter, sondern tendenziell alle Menschen zu brutalen Tätern werden, wenn sie die Möglichkeit erhalten, Macht über hilflose Opfer ausüben zu können.

Erste Zweifel an dieser verallgemeinernden Schlussfolgerung tauchten bereits vor 17 Jahren auf. Damals führten Alexander Haslam und Stephen Reicher eine Wiederholung des Experiments durch, die keine Bestätigung der ersten Resultate erbrachte: Die daran als Wärter beteiligten Probanden hielten sich zurück. Das wirft natürlich die Frage auf, wie es 1971 zu den anders lautenden Ergebnissen kommen konnte. Die inzwischen zugänglichen Original-Tonbandaufnahmen ermöglichten es Thibault Le Texier, darauf eine Antwort zu finden: „Wir wollen vor die Welt treten können mit dem, was wir gemacht haben, und sagen können ‘Schaut, das passiert, wenn sich Wärter so verhalten…’ Aber damit wir das sagen können, brauchen wir Wärter, die sich so verhalten“, sagt der Direktor darin zu dem Wärter. (…) Der Wärter antwortet: „Ich bin nicht besonders hart.“ Darauf der Direktor: „Nun, du musst es in dir wecken.“

Auch die als Ergebnisse anderer weltberühmter Experimente präsentierten Schlussfolgerungen haben späteren Nachforschungen nicht standgehalten. Vergleichbare Verzerrungen wurden inzwischen sowohl bei dem 1961 durchgeführten Milgram-Experiment (Probanden traktieren auf Befehl des Versuchsleiters die ihnen ausgelieferten Opfer mit immer stärkeren Stromstößen) als auch beim „Marshmallow-Test“ (Überprüfung der Selbstbeherrschungsfähigkeit von Kindern angesichts einer bei Verzicht in Aussicht gestellten späteren Belohnung) festgestellt. Dabei sind derartige Experimente schon an sich fragwürdig, weil die dazu erdachten Testsituationen einen entwürdigenden Charakter haben.

Geschäfte mit der Wissenschaft

In Zeiten, in denen besonders junge Wissenschaftler*innen oft sehr lange nur prekär beschäftigt sind, kommt es mehr denn je darauf an, sich einen Platz an der Sonne durch Vorträge und zahlreiche Veröffentlichungen zu erkämpfen. Der Journalist Peter Onneken hat (auch in Form von Selbstversuchen) beide Seiten dieser wissenschaftlichen „Währung“ durchleuchtet und ist dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen gekommen (siehe den Spiegel-Bericht „Professor Fake“ vom 14. Juli 2018).

Im Rahmen eines in Frankfurt am Main abgehaltenen Kongresses zum Thema Brustkrebs hielt der als Forschungsdirektor des deutschen „Institute of Diet and Health“ getarnte Journalist im Mai dieses Jahres einen etwa zehnminütigen Vortrag, in dem es um den Einfluss der vom Gewächs Salvia hispanica stammenden Samen auf den weiblichen Östrogenhaushalt ging. Mit seinem Vortrag kam Onneken problemlos durch, obwohl es gar kein „Institute of Diet and Health“ gibt und sein Vortragstext aus einer leicht veränderten Version eines Wikipedia-Eintrags zu dem erwähnten Gewächs bestand.

Im Februar dieses Jahres hatte der Journalist im Rahmen einer Londoner Konferenz bereits einen ähnlich gestrickten Vortrag gehalten (Effekt von Chiasamen auf die menschliche Intelligenz). Da dieser Vortrag nun auch noch veröffentlicht werden sollte, wandte sich Onneken an den in Indien beheimateten Verlag Omics International, dessen Unseriosität ihm schon damals hinlänglich bekannt war. Nach nur einer Woche traf ein Formschreiben mit der Mitteilung ein, dass die Arbeit akzeptiert worden sei und veröffentlicht werde. Auch in anderer Hinsicht erwies sich der Verlag als großzügig: Von den ursprünglich verlangten 3.393 Euro für eine Veröffentlichung ließ er sich auf 281 Euro herunterhandeln. Dieser Preis war sogar deutlich günstiger als die 560 Euro, die Onneken für seinen Auftritt in Frankfurt bezahlen musste.

Dubiose „Fachverlage“ fahren weltweit riesige Gewinne ein. Das Entstehen eines solchen Geschäftszweiges ist sowohl auf den bereits erwähnten Veröffentlichungsdruck zurückzuführen als auch darauf, dass die seriösen (mit echten peer reviews arbeitenden) Fachverlage absurd teuer geworden sind. Trotz des massiven Ausweichens auf zweifelhafte Verlage sind diese lange Zeit (auch von vielen ihrer Kunden) gar nicht als solche erkannt worden. Mittlerweile beruhen ganze Karrieren auf Veröffentlichungen in Fake Journals, was zwangsläufig die Frage nach der Qualität der dort publizierten wissenschaftlichen Erkenntnisse aufwirft. Und das kann sehr viele Veröffentlichungen betreffen, wenn man bedenkt, dass (nach firmeneigenen Angaben) allein bei Omics International 700 so genannte Open-Access-Journale herausgegeben werden.

Studien der Bertelsmann-Stiftung

Eine besondere Stellung nehmen die (immer zahlreicher werdenden) Studien der Bertelsmann-Stiftung zu Bildungs- und Erziehungsfragen ein. Ob es nun um den Grad der Zufriedenheit von Kindern und Jugendlichen oder um die Wirksamkeit bestimmter Unterrichtsmethoden geht: Die in den Bertelsmann-Studien vorgestellten Ergebnisse vermitteln stets den Eindruck absoluter Neutralität. Und das passt so gar nicht zum sonstigen Wirken dieses inzwischen weltweit agierenden Konzerns, der in Deutschland einen so massiven Einfluss auf die Bildungspolitik ausübt, dass das stiftungseigene „Centrum für Hochschulforschung“ schon vor vielen Jahren als „heimliches Bundesbildungsministerium“ bezeichnet worden ist.

Nach den dort entwickelten Vorstellungen soll Bildung immer effizienter – sprich: wettbewerbsorientierter – werden. Fast alle der seit der Jahrtausendwende in den Schulen durchgepeitschten Reformen gehen auf das Betreiben von Bertelsmann und anderen Wirtschaftslobbyisten zurück. Dazu gehört die Vorstellung, dass Schule „outputorientiert“ (also in möglichst enger Anlehnung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes) vorzugehen hat und dass Schulen wie Geschäftsbetriebe zu führen sind. Ausdruck dieser Bestrebungen sind nicht zuletzt die vielen englischsprachigen Begriffe, mit denen unsere Schulen seither geflutet werden.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Funktion die wissenschaftliche Arbeit der Bertelsmann-Stiftung erfüllen soll. Liegt hier ein Versuch vor, die wahren (rein wirtschaftlichen) Interessen eines weltweit agierenden Großkonzerns durch beeindruckende wissenschaftliche Studien so gründlich zu verschleiern, dass diese von der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr wahrgenommen werden? Und wenn ja: Wie müsste eine diesem Ziel dienende wissenschaftliche Tätigkeit dann bezeichnet werden? Schließlich ginge es in einem solchen Fall nicht um Fälschungen, sondern eher um einen Missbrauch der Glaubwürdigkeit. Also vielleicht als „scheinredliche Wissenschaft“?

Schlussfolgerungen

Noch ist der gute Ruf der Wissenschaft nicht gänzlich ruiniert. Aber je mehr wissenschaftliche Fakes in der Öffentlichkeit bekannt werden, desto mehr schwindet das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit ihrer Ergebnisse und in die Unbestechlichkeit ihrer Vertreter*innen.

Obwohl hier nur einige Beispiele vorgestellt werden konnten, lässt sich erahnen, dass es eine enorme Spannbreite an Betrugsversuchen und -möglichkeiten gibt. Neben den geisteswissenschaftlichen Bereichen sind davon auch die naturwissenschaftlichen Bereiche betroffen, bei denen es häufiger zu Abänderungen der zuvor selbst ermittelten Daten kommt, wenn die gewünschte Ergebnisplausibilität anders nicht zu erreichen ist.

Vor allem zwei Gründe liegen dem unethischen Verhalten zugrunde: persönliche Eitelkeit einerseits und die verheerenden Folgen der zunehmenden Privatisierung der Hochschullandschaft andererseits. Damit einhergehend hat sich so allmählich auch das Menschenbild gewandelt, worauf das „KUNO-Experiment“ nachdrücklich (aber ohne größeren Widerhall) hingewiesen hat: Nicht mehr der Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen steht im Mittelpunkt der forschenden Betrachtung, sondern dessen Messbarkeit.

Angesichts der zunehmenden Verfehlungen muss befürchtet werden, dass die Wissenschaft (mehr oder weniger freiwillig) im Begriff steht, ihre aufklärerische Funktion gegen eine bemäntelnde Funktion einzutauschen. Jedenfalls lässt sie sich immer häufiger dazu herab, uns Dinge und Verhaltensweisen schmackhaft zu machen, die uns gar nicht gut tun. Aus dieser Perspektive ist es fast schon wieder tröstlich, dass sich die wissenschaftliche Zunft im Zuge ihrer eigenen Beteiligung am Niedergang ihrer Glaubwürdigkeit allmählich selbst das Wasser abgräbt.

Die Autorin
Magda von Garrel ist Sonderpädagogin und Diplom-Politologin. Sie lebt und arbeitet in Berlin.