Beschäftigte des Online-Versandhändlers Amazon haben sich in einer mit Spannung erwarteten Abstimmung mehrheitlich gegen die Einführung einer Gewerkschaftsvertretung ausgesprochen. Abgestimmt wurde unter den Angestellten eines Logistikzentrums in Bessemer im US-Bundesstaat Alabama. Es hätte die erste Arbeitnehmervertretung in der mittlerweile 26-jährigen Unternehmensgeschichte werden können. Die Handelsgewerkschaft RWDSU (Retail, Wholesale and Department Store Union) kündigte an, das Ergebnis anzufechten. Amazon ist weltweit wegen schlechter Arbeitsbedingungen und der Verhinderung der gewerkschaftlichen Organisierung von Mitarbeiter*innen in der Kritik. In den USA beschäftigt der Konzern etwa 950.000 Menschen, weltweit fast 1,3 Millionen Voll- und Teilzeitkräfte. Nach Medienberichten sprachen sich 738 Beschäftigte für die Gewerkschaftsvertretung aus, 1.798 stimmten dagegen. Etwas mehr als 55 Prozent der rund 6.000 Angestellten des Logistikzentrums hatten sich an der Briefwahl beteiligt. (Neues Deutschland vom 11. April 2021)
Das Neue Deutschland kritisiert die Gewerkschaftsstrategie:
„Der Kampf der mit 100.000 Mitgliedern vergleichsweise kleinen Handelsgewerkschaft RWDSU für das Recht auf gewerkschaftliche Vertretung beim zweitgrößten Arbeitgeber der USA hatte nicht nur ein enormes landesweites Medieninteresse ausgelöst. Er hat auch Hoffnungen befeuert, die über 25 Jahre andauernde gewerkschaftliche Bedeutungslosigkeit bei Amazon beenden zu können. (…) Dass Amazon Millionen in eine Anti-Gewerkschaftskampagne investiert hat, steht außer Frage. Ebenso bekannt ist, dass Beschäftigte mit allerlei Methoden direkt und indirekt unter Druck gesetzt wurden. Doch mit dem alleinigen Verweis auf das sogenannte Union-Busting macht es sich die Gewerkschaft zu einfach. Nicht nur, weil viele von Amazons Maßnahmen in den USA weder verboten sind noch unerwartet waren. Vor allem verstellt die Kritik den Blick auf die strategischen Fehler der Gewerkschaft.“
Die RWDSU, so setzt das Neue Deutschland fort, hätte von Beginn an auf eine klassische Top-down-Kampagne gesetzt. Die Kommunikation mit den Beschäftigten sei vor allem vor dem Logistikzentrum oder über die Medien gelaufen. Entschieden worden sei die Angelegenheit aber unmittelbar im Logistikzentrum, wo Amazon das Kommando habe. Amazon zahle derzeit einen Stundenlohn von 15,30 US-Dollar – mehr als das Doppelte des in Alabama gültigen nationalen Mindestlohns von 7,25 US-Dollar. „Natürlich ist die Arbeit bei Amazon anstrengend, es fehlen Pausenzeiten, um auf die Toilette zu gehen und der Druck, die durch Algorithmen kontrollierten Leistungsvorgaben zu erfüllen, ist enorm. Doch dass die Stimme für die Gewerkschaft daran etwas ändert, ist zunächst nur ein Versprechen. Gerade um Beschäftigte ohne Bezug zu Gewerkschaften zu überzeugen, reicht es nicht, sie am Autofenster vor oder nach der Arbeit anzusprechen. (…) Dass sich lediglich 16 Prozent der 6000 Beschäftigten in Bessemer für die Gewerkschaft ausgesprochen haben, sollte anregen, die Bedeutung von PR-Kampagnen und gewerkschaftsfreundlicher Medienberichterstattung nicht zu überschätzen. Gewerkschaften müssen wieder stärker in die Lebensrealität jener Menschen eintauchen, die sie vertreten wollen.“ (Neues Deutschland vom 11. April 2021)
Die Kritik wird in einem weiteren Kommentar der Zeitung fortgesetzt:
„Die Gewerkschaft selbst hat Fehler gemacht. Man versuchte die anfängliche Empörung über fehlenden Arbeitsschutz in der Corona-Pandemie zu nutzen, um innerhalb nur eines Jahres ‚schnell‘ die Gewerkschaft zu etablieren. Das Abstimmungsergebnis zeigt: Die Gewerkschaft ist vor Ort und bei den Beschäftigten nicht genug sozial verankert, ihr wurde nicht vertraut oder zugetraut, Verbesserungen zu bringen. Sie hat zudem handwerkliche Fehler gemacht, etwa den Verzicht auf persönliche Haustürbesuche bei Arbeitern trotz Pandemie – die sind möglich und nötig. Vertrauen lässt sich nicht mit einem kurzen Flyer-Zustecken von hauptamtlichen Gewerkschaftsmitarbeitern vor dem Werkstor unter den Augen der Überwachungskameras von Amazon oder hastig in Autofenster hinein gesprochene Kurzansprachen aufbauen.“ (Neues Deutschland vom 12. April 2021)
Das wirtschaftsliberale Handelsblatt nimmt das Vorgehen Amazons aufs Korn:
„Die Gewerkschaft beschuldigte Amazon bereits, ‚illegal‘ Einfluss auf die Abstimmung genommen zu haben und kündigte energischen Widerstand an. Beobachter halten ein langwieriges rechtliches Nachspiel für möglich. Amazon hatte schon vor der Wahl mit aller Kraft versucht, das Votum zu verzögern, war jedoch mit einem Einspruch bei der Arbeitnehmerschutzbehörde NLRB gescheitert. (…) Auch wenn Amazon sich gegen die RWDSU zunächst durchsetzen konnte, verlief der Wahlkampf in vielerlei Hinsicht peinlich für den Konzern. So musste Amazon nach einer hitzigen Twitter-Auseinandersetzung mit einem US-Abgeordneten zugeben, dass Lieferfahrer mitunter keine Toiletten fänden und somit erstmals Berichte bestätigen, wonach Mitarbeiter unter hohem Zeitdruck und Arbeitsstress in Flaschen urinieren. Dass dies zunächst über einen offiziellen Twitter-Account abgestritten wurde, sei ein ‚Eigentor‘ gewesen, räumte Amazon ein.“
Quellen:
Jörn Böwe/Johannes Schulten: „Amazon in den USA: Promi-Beifall reicht nicht“, Neues Deutschland (Online vom 11. April 2021)
Moritz Wichmann: „Eine Schlacht verloren“, Neues Deutschland vom 12. April 2021 (Online vom 10. April 2021)
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150599.amazon-eine-schlacht-verloren.html?sstr=Schlacht
„Amazon-Mitarbeiter in den USA stimmen gegen Gewerkschaftsgründung“, Handelsblatt vom 9. April 2021