In einer Artikelserie widmet sich der Blog „The Lower Class Magazine“, betrieben von einem unabhängigen Medienkollektiv, traditionsreichen deutschen Familienunternehmen: „Ihre Anführer scheuen oft das Licht der Öffentlichkeit, doch sie besitzen immense Macht. Konten gefüllt mit Milliarden aus Geschäften, die in aller Herren Länder verrichtet werden; tausende Untergebene, die auf Gedeih und Verderb dem Richterspruch der Männer und Frauen an der Spitze ausgeliefert sind; sie blicken oft auf eine mehr als hundertjährige Geschichte krimineller Machenschaften zurück, sind für Millionen Tote mitverantwortlich: Deutsche Kapitalisten-Clans.“
Am 9. März schrieb die Autorin Nelli Tügel darüber, wie die Bielefelder Unternehmerfamilie Oetker, deren Firma heute als eines der größten deutschen Traditionsunternehmen gilt, vom Nationalsozialismus profitierte. August Oetker gründete das Pudding-Imperium im Jahr 1891. Auf ihn folgte sein Sohn Rudolf an der Spitze des Konzerns. Nach dessen Tod im Jahr 1916 wurde Richard Kaselowsky, den Rudolf Oetkers Witwe Ida Oetker nach dessen Tod geheiratet hatte, Geschäftsführer. Er war ein glühender Nazi, ebenso wie seine Ehefrau Mitglied der NSDAP und gehörte ab 1941 der Waffen-SS an.
Kaselowskys Stiefsohn Rudolf-August Oetker übernahm 1944 die Konzernleitung – und verhinderte fortan jede Aufklärung über die Verstrickungen des Oetker-Clans in den deutschen Faschismus. Auch er, Jahrgang 1916, war ein überzeugter Nazi, Mitglied der NSDAP und ab 1942 der Waffen-SS. Nach einer kurzzeitigen Internierung nach Kriegsende konnte er im Jahr 1947 seine Tätigkeit fortsetzen. Erst 2009, sieben Jahre nach dessen Tod, beauftragte die Oetker-Familie den Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, den Historiker Andreas Wirsching, mit einer Studie zu diesem Thema. Im Jahr 2013 wurden die Ergebnisse publiziert.
In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung der Studie stellte Wirsching fest, dass zwischen Oetker und dem NS-Regime kein Blatt Papier gepasst hätte. Es habe keinen einzigen Beleg für eine Abgrenzung gegeben. „Bemerkenswert ist dabei“, schreibt Nelli Tügel, „dass die Oetkers in der Studie als in keiner Weise außergewöhnlich beschrieben werden: Kaselowsky sei zwar kein reiner Opportunist, sondern überzeugter Nazi gewesen, doch sei er damit laut Wirsching ‚ein typisches Beispiel für den fließenden Übergang von national-liberalem Bürgertum zu den Nationalsozialisten‘. Wie viele andere habe er sich ‚von einem eher nationalliberalen Standpunkt aus nach rechts orientiert (…), die nationalsozialistische Alternative erschien als Chance‘.“
So profitierte Oetker ab 1933 mehrfach von sogenannten Arisierungen, war daneben an verschiedenen Firmen beteiligt, die Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge ausbeuteten. Im Jahr 1937 wurde Oetker als eines der ersten Unternehmen als „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet.
Wie Tügel feststellt, gab die Familie die Studie des Historikers Wirsching erst in Auftrag, als es für ernsthafte Entschädigungszahlungen längst zu spät war. Am Schluss ihres Artikels resümiert die Journalistin: „Den Oetkers geht es heute wirtschaftlich sehr gut – und ihre ‚Aufarbeitung‘ wurde in der Tat vielfach anerkennend rezipiert. In verschiedenen Rankings der reichsten Deutschen landet die Oetker-Familie mit einem Vermögen von geschätzten sieben Milliarden Euro stets auf einem der vorderen Plätze. Die Oetker-Gruppe erzielt Unternehmensangaben zufolge zudem einen Jahresumsatz von 7,4 Milliarden Euro, 34.000 Menschen arbeiten für den Konzern. Dass dieser wirtschaftliche Erfolg nicht zuletzt auf der engen Zusammenarbeit mit dem NS aufbaut, gerät vor lauter Pudding und Verklärung zum Traditionsunternehmen allzu oft in Vergessenheit.“
Anmerkung: In weiteren Teilen der Serie geht es um die Familie Quandt/Klatten, das Schaeffler-Imperium, die Brose Fahrzeugteile SE & Co. KG und die Unternehmerfamilie Reimann.
Quelle:
Nelli Tügel: „[Deutschlands brutalste Familienclans V]: Oetker: Backpulver, Pudding, Waffen-SS und Zwangsarbeit“, The Lower Class Magazine, 9. März 2021