Seit einem Jahr wird in München einer der größten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik verhandelt. Im Juni 2020 kollabierte der Zahlungsdienstleister Wirecard, als bekannt wurde, dass auf Treuhandkonten in Asien 1,9 Milliarden Euro fehlten. Neben Ex-Vorstandschef Markus Braun sitzen zwei weitere ehemalige Manager wegen Bilanzfälschung und Bandenbetrug auf der Anklagebank. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet, dass die Milliardensummen schlicht erfunden worden seien. Nach Aussage von Braun dagegen habe das Geld existiert, sei aber ohne sein Wissen beiseitegeschafft worden.

Die Süddeutsche Zeitung (SZ) resümiert den bisherigen Verlauf des Prozesses:

„Seit genau einem Jahr läuft dieses gigantische Verfahren schon, 86 Verhandlungstage bislang. Und es könnte sein, dass gerade erst Halbzeit ist. Denn im Gerichtssaal von Stadelheim lichtet sich das Dickicht aus Vorwürfen, Verstrickungen und Vertuschungen nur langsam. Oder wie es der Vorsitzende Richter Markus Födisch vor einigen Tagen formuliert hat: ‚Es werden immer mehr Fragen, statt weniger‘.“

Vier Personen stehen im Zentrum des kriminellen Wirecard-Bankrotts: Neben Markus Braun (fast zwei Jahrzehnte CEO des Konzerns) handelt es sich um Oliver Bellenhaus (von 2013 bis 2020 Wirecards Statthalter in Dubai und wichtigster Zeuge der Anklage), Stephan von Erffa (Chefbuchhalter und stellvertretender Finanzvorstand) und den weiterhin mit internationalem Haftbefehl gesuchten Jan Marsalek (ebenfalls Ex-Vorstandsmitglied von Wirecard).

Bellenhaus betreute vom Golf aus das Geschäft mit den „Drittpartnern“, ohne das der Aufstieg des Konzerns nicht möglich gewesen wäre: „Er sei der ‚Rainmaker’ gewesen, sagt Bellenhaus von sich, der Mann, der das Geld regnen ließ. Oder besser: der das Geld erfand. Denn alles sei ‚von Anfang ein Schwindel‘ gewesen, sagt Bellenhaus, von ihm ausgeführt, aber mit Wissen und Billigung durch Markus Braun und Jan Marsalek.“

Als einziger Ex-Wirecard-Manager räumt er seine Beteiligung an dem milliardenschweren Betrug ein und belastet dabei auch den flüchtigen Marsalek sowie die beiden Mitangeklagten Braun und von Erffa, die alle Vorwürfe zurückweisen.

„Woche für Woche sitzen sich nun also Braun und Bellenhaus in den Anklagebänken buchstäblich im Nacken: einer in der Reihe vorn, der andere direkt dahinter (…). Verbissen will jeder den anderen der Lüge überführen. Stephan E. hat seinen Platz abseits, auf einer weiteren Anklagebank. Der Rest ist Schweigen. Es kann nur eine Geschichte wahr sein vom Untergang der Wirecard AG. Höchstens. Braun oder Bellenhaus – mindestens einer lügt. Aber wer?“

Im Juli schaltete sich überraschend Jan Marsalek mit einem Schreiben seines Anwalts in das Münchner Verfahren ein – sein erstes Lebenszeichen seit mehr als drei Jahren. Mit dem Ziel, Braun auf Kosten von Bellenhaus zu entlasten. Der Brief sollte auf Antrag der Anwälte als Beweismittel zur Entlastung Brauns genutzt werden. Das Gericht hielt ihn jedoch in dem Verfahren für weitgehend wertlos, da Marsalek darin keine Belege für seine Behauptungen vorlegte. Klar aber wurde, dass Marsalek und sein Anwalt immer noch Kontakt halten.
Die SZ geht noch einmal auf wesentliche Stationen der Betrugsgeschichte ein. Spätestens seit 2016 hätte Wirecard öffentlich immer wieder unter Druck gestanden, Vorstand Braun aber Anleger, Analysten, Kreditgeber und sogar die Behörden jahrelang „um den Finger gewickelt“.

„Die Geschichte vom Aufsteiger aus Aschheim, verleumdet und verfolgt von finsteren Spekulanten, sie verfängt immer wieder. So gut, dass die Finanzaufsicht Bafin zwischenzeitlich sogar Leerverkäufe mit Wirecard-Aktien verbietet und die Staatsanwaltschaft München I – also dieselbe Behörde, die nun die Anklage gegen Braun und die anderen führt – anderthalb Jahre lang gegen Journalisten der Financial Times ermittelt. Die hatten bereits früh über Ungereimtheiten berichtet. Das Verfahren aber wird erst im September 2020 eingestellt, da ist Wirecard schon seit elf Wochen implodiert.“

Braun bestreitet weiterhin beharrlich, er trage Schuld an der Insolvenz und verweist auf Bellenhaus und Marsalek. Ein Wirtschaftsprüfer von KPMG, der für eine Sonderuntersuchung verantwortlich war, behauptet jedoch, Braun habe ihm mitgeteilt, er verfüge über „absolutes Herrschaftswissen“ – und ihn dann zum Skifahren auf ein Chalet in Kitzbühel eingeladen. Braun bestreitet diesen Vorgang wie auch eine andere ihm zugeschriebene Aussage. Die ehemaligen Chefjuristin des Konzerns erklärte vor Gericht, Braun sei der Meinung gewesen, „dass man Compliance nicht brauche, dass das ein Scheiß sei“. Gemeint ist damit die Abteilung, die in Unternehmen für die Einhaltung von Gesetzen und Verhaltensrichtlinien zuständig ist.

Braun sieht sich nach wie vor nicht als Täter, sondern als Opfer. Die Richter teilen diesen Standpunkt bislang nicht.

„Sie halten es auch im Spätsommer noch für sehr wahrscheinlich, dass Braun die angeklagten Taten begangen hat. Und die Richter vermuten, der frühere Wirecard- Boss könnte noch immer ein Millionenvermögen verstecken. Er müsse also mit einem Urteil im Sinne der Anklage rechnen: Im Extremfall hieße das: Freiheitsstrafe bis zu 15 Jahren.“

Alle Zitate aus:

Johannes Bauer/Stephan Radomsky: „Shakespeare in Stadelheim“, Süddeutsche Zeitung vom 9./10. Dezember 2023

Zusätzliche Quelle:

„Wirecard-Prozess: Anwalt des Kronzeugen Bellenhaus will Haftentlassung beantragen“, Handelsblatt (Online) vom 6. Dezember 2023
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/strafprozess-wirecard-prozess-anwalt-des-kronzeugen-bellenhaus-will-haftentlassung-beantragen/100002382.html