Bei einer Razzia am 23. September 2020 wurden rund 70 Objekte, darunter Wohn- und Geschäftsräume, wegen des Verdachts der illegalen Einschleusung von Arbeitskräften für die Fleischindustrie durchsucht. Dabei waren in fünf Bundesländern rund 800 Beamte im Einsatz, vor allem in Sachsen-Anhalt und in Niedersachsen. „Im Fokus der Ermittler steht ein Konstrukt aus verschiedenen Zeitarbeitsfirmen, über die in den vergangenen sechs Monaten mindestens 82 Menschen geschleust worden sein sollen. Es geht den Angaben nach um den Vorwurf der banden- und gewerbsmäßigen Einschleusung und der Urkundenfälschung“, heißt es in einer Meldung der Süddeutschen Zeitung.
Wieder einmal ging es unter anderem um den Großkonzern Tönnies. „Die Ermittlungen wegen Urkundenfälschung sowie der banden- und gewerbsmäßigen Einschleusung richten sich vor allem gegen die Berkana GmbH, die auch für Tönnies tätig ist. Sie hat ihren Sitz im niedersächsischen Twist. Der Geschäftsführer wohnt in Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Dort liegt auch der zweitgrößte Tönnies-Standort, den Berkana mit Arbeitskräften versorgte“, schrieb das Handelsblatt.
Die Zeitung kommentiert:
„Wie kann das passieren in einem Land wie Deutschland, in einem wohlhabenden Rechtsstaat? (…) Erst seit dem massiven Corona-Ausbruch im Tönnies-Stammwerk hat sich die Haltung vom Wegsehen zum Hinschauen geändert. Das aber auch eher zwangsweise und aus einem Grund, für den wir alle uns schämen sollten – weil die Sorge der Deutschen wegen Corona groß genug war, um die Zustände in der Fleischindustrie nicht gleich wieder zu vergessen.“ Jan Keuchel meint, dass die Razzia sich deshalb auch im Kontext von politischem Druck erkläre. Gleichwohl sei das Vorgehen richtig: „Wer den Schleusern dauerhaft das Handwerk legen will, der muss sich allerdings intensiv mit denjenigen Großunternehmen beschäftigen, die Schleusern und Leiharbeitsfirmen erst den Spielraum schaffen – um am Geschäft mit der Ware Mensch gut zu verdienen.“
(Jan Keuchel, „Die Zustände in der Fleischindustrie sind eine Einladung an Schleuserbanden“, Handelsblatt Online vom 24. September 2020)
Ein Kommentar der Süddeutsche Zeitung zielt in die gleiche Richtung:
„Wie eifrig sich nun alle um die Arbeitsbedingungen osteuropäischer Helfer bemühen! Gesetze werden verschärft, Unternehmen angeprangert, und die Bundespolizei holt aus zur Razzia in der Fleischindustrie“, wundert sich der Journalist Michael Bauchmüller. Ganz Deutschland interessiere sich plötzlich für das Schicksal der Erntehelfer und Zerlegetrupps, die für wenig Geld schuften und oft erbärmlich leben müssten. Ein Raunen gehe durchs Land – als ob das alles so neu wäre. „Ist es natürlich nicht“, fährt er fort. „Erst Corona rückte sie ins Rampenlicht – allerdings nicht vorrangig als die armen Menschen, die sie sind, sondern als potenzielle Infektionsherde. Und plötzlich geht auch Arbeitsschutz. Was aber ist mit den kleinen Rädchen, die jenseits der Grenzen ihren Dienst im großen Getriebe versehen? (…) Ein ‚Lieferkettengesetz‘ soll deutsche Unternehmen verpflichten, auch bei Zulieferern Mindeststandards durchzusetzen. Jeder weiß, dass die allzu oft nicht gelten. Doch das Gesetz hängt fest. Die Wirtschaft blockt, und das Wirtschaftsministerium blockt mit. Es ist traurig.“
(Michael Bauchmüller, „Spitze des Eisbergs“, Süddeutsche Zeitung Online, 23. September 2020)
https://www.sueddeutsche.de/politik/ausbeutung-spitze-des-eisbergs-1.5041656