Am 12. November 2024 hat ein Berufungsgericht in Den Haag eine Klage der Umweltschutzorganisation „Milieudefensie“ (Umweltverteidigung) gegen den Ölkonzern Shell zurückgewiesen. Damit wurde ein Urteil von 2021 gekippt, nach dem der Konzern seine Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um mindestens 45 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren müsse. Darunter fallen auch die Emissionen der Zulieferer und Kunden. Shell wurde also auch für deren Klimaschäden verantwortlich gemacht. „Die Aktivistinnen und Aktivisten stützen sich bei dem Prozentsatz auf wissenschaftliche Studien, die genau voraussagen, um wieviel Prozent die Emissionen sinken müssen, damit die globale Erwärmung nicht über 1,5 Grad Celsius steigt.“ (junge Welt)

2021 hatte ein Richter in der ersten Instanz geurteilt, dass die Klimaveränderung Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, in Gefahr bringe. Deshalb könnten einzelne Konzerne auch privatrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden ‒ ein Urteil, das international für Aufsehen gesorgt hatte (vgl. junge Welt).

Die Umweltorganisation „Milieudefensie“ kann als Klägerin noch vor dem Obersten Gerichtshof der Niederlande Revision einlegen.

Es folgen Auszüge aus Medienberichten über den juristischen Sieg von Shell (und damit der gesamten Öl- und Gasindustrie):

Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024:

„Das Urteil von Den Haag reiht sich ein in weitere gute Nachrichten für die Öl- und Gasindustrie. Gewinne und Börsenkurse stiegen hoch wie nie. Donald Trumps Wahl dürfte das Umfeld von Big Oil in den USA weiter verbessern. Und auf der Weltklimakonferenz in Aserbaidschans Hauptstadt Baku nutzte Präsident Ilham Alijew  seine Willkommensrede am Dienstag zum Frontalangriff auf den Westen. Aserbaidschan ist quasi der Geburtsort des Öl- und Gasgeschäfts, schon vor Jahrhunderten wurde hier nach den fossilen Brennstoffen gegraben. (…) Alijew verbat sich am Rednerpult vor Vertretern von fast 200 Staaten jegliche Kritik. (…) Dabei sei es doch die Europäische Union gewesen, die angesichts der Energiekrise vor zwei Jahren gebeten habe, die Erdgas-Lieferungen bis 2027 zu verdoppeln. (…) Damit stimmt Alijew ein in den Chor aus Staaten- und Konzernlenkern, die das Ende von Öl und Gas trotz der weltweiten Erderwärmung noch in weiter Ferne sehen. Bestätigt wird das von Zahlen der Umweltorganisation Urgewald, die zusammen mit 34 Partnern Geschäftsberichte und Prognosen von fast 1800 Unternehmen weltweit analysiert und am Dienstag veröffentlicht hat. Darin kommen sie zu dem Ergebnis, dass noch nie soviel Öl und Gas produziert wurde wie 2023. Mit 55,5 Milliarden Barrel Öl-Äquivalenten – alle fossile Brennstoffe eingerechnet – seien auch die Höchstwerte von  vor der Corona-Pandemie übertroffen worden. (…) 95 Prozent der  Öl- und Gasfirmen befänden sich weiter auf Expansionskurs, suchten neue Vorkommen oder erschließen sie bereits. Darunter Shell sowie andere europäische Konzerne wie Total Energies, BP, Eni, Equinor oder OMV. Viele Milliarden Euro würden in die Ausweitung der Geschäfte fließen, berichtet Urgewald. Die größten Förderer fossiler Brennstoffe sind demnach Staatsfirmen aus Saudi-Arabien, Iran, Russland, China, gefolgt von den US-Konzernen Exxon Mobil und Chevron. Shell ist Nummer zehn.“

Deutschlandfunk vom 12. November 2024:

„Es scheint gerade alles gegen den Klimaschutz zu laufen: Die mit ehrgeizigen Klimazielen gestartete Bundesregierung ist schachmatt. Der Klimaleugner Trump übernimmt das Ruder in den USA. Klimaschutz ist für viele zum Unwort geworden. Und jetzt gibt auch noch ein Gericht in Den Haag dem Ölmulti Shell recht. Die Ölkonzerne haben eine gewaltige wirtschaftliche Macht – Shell hat sich natürlich die besten Anwälte geholt. Bessere als vor drei Jahren, als der Konzern vor dem Bezirksgericht in Den Haag eine historische Niederlage kassierte. (…) Das hätte bedeutet, dass Shell seine Öl- und Gasproduktion mehr oder weniger hätte beenden müssen. Das Gegenteil ist bei Shell passiert – und nicht nur dort: alle Ölmultis weiten ihre Produktion aus. Denn mit Öl und Gas kann man gerade sehr viel Geld verdienen. So viel Geld, dass man die Rendite sogar ganz offen und kaltschnäuzig über den Klimaschutz stellt, wie es der BP-Chef getan hat.

Doch das neue Urteil, der vermeintliche Sieg von Shell, bedeutet nicht, dass hier ein Gericht eingeknickt ist. Es bedeutet vor allem, dass man sich die Rechtsgrundlage genauer anschauen muss. Wer entscheidet darüber, was private Unternehmen tun oder lassen dürfen, auf welcher Grundlage – und vor allem mit welcher Begründung? Die Begründung für den – je nach Sicht – drastischen oder historischen Schritt der ersten Instanz, einem einzelnen Unternehmen handfeste CO2-Vorschriften zu machen, hat die Vorsitzende Richterin im Berufungsprozess zurückgewiesen. Das konnte sie, weil der Staat beziehungweise staatliche Organisationen es versäumt haben, den Ölmultis klare Grenzen zu setzen. An ihnen ist es aber, jetzt zu handeln.“

Junge Welt vom 13. November 2024:

„‚Gerade Produkte von Unternehmen wie Shell haben ein Klimaproblem hervorgebracht‘, begann das Berufungsgericht laut dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk NOS am Dienstag seine Urteilsbegründung. Deshalb sei der Konzern verpflichtet, mehr zu tun als nur das, was gesetzlich vorgeschrieben ist. Der Gerichtshof stellte jedoch in der Folge überraschend fest, es sei aber nicht erwiesen, ob es einen positiven Effekt auf die Umwelt und den Klimawandel habe, wenn Shell das Erreichen konkreter Prozentzahlen auferlegt bekäme. Die bauernschlaue Begründung: Wenn Shell weniger Öl und Gas verkaufen dürfte, würde eben die Konkurrenz freudig die Lücke füllen. In Sachen Klimawandel ändert sich also überhaupt nichts. Die Nachfrage nach Benzin und Diesel für Kraftfahrzeuge oder nach Gas für die Heizung könne nicht von einem Gericht gedrosselt werden, widersprach der Gerichtshof dem Urteil aus der ersten Instanz.“

Taz (Marie Gogoll) vom 12. November 2024:

„Shell ist nicht an das Pariser Klimaabkommen gebunden, urteilte ein Gericht – zu Recht. Denn für die Einhaltung müssen die Regierungen sorgen. (…) Shell hat recht: Würde Shell weniger Öl liefern, würden Wohnungen eben mit dem Öl von einem anderen Konzern geheizt. Würde Shell Tankstellen dichtmachen, führen die Leute halt zu Aral. So argumentierte der Konzern schon vor dem Prozess. (…) Ursprünglich hatte die NGO die Klage damit untermauert, dass der Konzern sich an die Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzabkommens halten müsse. Aber dieses Abkommen haben nun mal Regierungschef*innen unterschrieben, keine CEOs. Und das ist der entscheidende Punkt. (…)

Mit der Bemühung, Unternehmen zu verklagen, versuchen NGOs wie Milieudefensie, eine Lücke zu füllen, die die politischen Entscheidungsträger*innen offen lassen. Nämlich die, Klimaschutzverpflichtungen direkt für Konzerne festzulegen und durchzusetzen. Und zwar nicht nur für einen, sondern für alle.

Zum Beispiel mithilfe einer Steuer auf die Förderung fossiler Brennstoffe. Regierungen müssten dafür sorgen, dass die nicht an Verbraucher*innen weitergegeben wird. Dann könnte eine solche Steuer den sozial gerechten Ausstieg aus fossiler Energie und den Umstieg auf erneuerbare beschleunigen. Und die Unternehmen ließen sich dann auch auf juristischem Wege dazu verpflichten.“

Taz (Tobias Müller) vom 12. November 2024:

„Laut dem Gericht hat Shell, wie andere Unternehmen auch, durchaus eine Verpflichtung, die negativen Folgen des durch CO₂-Ausstoß entstandenen Klimawandels zu begrenzen. Das ‚Menschenrecht auf den Schutz vor gefährlichem Klimawandel‘ gelte nicht nur für Bürger gegenüber ihren Regierungen, sondern auch gegenüber Unternehmen, zumal solchen, deren Aktivitäten zu den Problemen beitragen. Auch durch EU-Gesetzgebung sei Shell gezwungen, ‚immer weniger Treibhausgase auszustoßen‘, so die vorsitzende Richterin de Carla Joustra. Daraus lasse sich allerdings keine Reduzierung um 45 Prozent oder einen anderen konkreten Anteil ableiten. (…)

Es gilt als sicher, dass Hauptkläger Milieudefensie, der niederländische Zweig von Friends of the Earth, nun höchstinstanzlich in Revision geht. Für Milieudefensie ist Shell ‚einer der größten Klimaverschmutzer der Welt‘. Mit dem 2019 begonnenen Prozess legte man den Grundstein für die Strategie, große Unternehmen mit besonders schlechter Emissionsbilanz persönlich für ihren Beitrag zur Erderwärmung verantwortlich zu machen und gegebenenfalls eine Reduzierung gerichtlich einzufordern. Diese Strategie hat man inzwischen auf mehrere andere große Akteure angewendet. Im Januar kündigte man einen Prozess gegen die größte niederländische Bank ING an, der man vorwirft, übermäßig viel mit stark verschmutzenden Unternehmen zusammenzuarbeiten.“

Neues Deutschland vom 12. November 2024:

„Zu Beginn des neuen Prozesses hatte es so ausgesehen, als könnte das Urteil wieder zugunsten der Klägerin Milieudefensie ausfallen. Das Gericht bekräftigte, dass der Schutz vor dem Klimawandel ein Menschenrecht sei. ‚Es sind gerade die Produkte von Unternehmen wie Shell, die ein Klimaproblem geschaffen haben‘, so das Gericht. Shell sei verpflichtet, mehr gegen den Klimawandel zu tun, als es das Gesetz vorschreibe.

Allerdings soll dies ohne konkrete gerichtliche Auflagen geschehen. Denn allein Shell zu verpflichten, den Verkauf von Öl und Gas zu stoppen, um Emissionen einzusparen, sei sinnlos. Diese Lücke würde von der Konkurrenz sofort wieder gefüllt werden. ‚Es ist unwahrscheinlich, dass die fossilen Brennstoffe den Endverbraucher nicht trotzdem erreichen. Es ist möglich, dass das Öl und Gas über andere Zwischenhändler verkauft wird‘, so das Gericht.

Zudem äußerte die Vorsitzende Richterin Carla Joustra die Sorge des Gerichts, dass eine mögliche Reduzierung von Erdgas zu einem weltweiten Anstieg der Nutzung von Kohle führen könnte. Das sei noch schlechter für das Klima. Weiter tue Shell bereits, was Milieudefensie fordere, so die Einschätzung des Gerichts. (…) Nach Angaben von Juristinnen und Juristen ist dieser Fall weltweit einzigartig. Bereits im Jahr 2015 hatte eine andere niederländische Umweltorganisation vor Gericht gewonnen, mit einer Klage gegen den Staat und dessen Kohlendioxidausstoß. Dies hatte auch international ähnliche Fälle nach sich gezogen. Im Fall von Shell geht es nicht um einen Staat, sondern um einen Konzern – was noch mehr Möglichkeiten für internationale Klagen biete.“

FAZ vom 12. November 2024:

„Das Haager Shell-Urteil ist nur ein Zwischenschritt. Noch ist auch in den Niederlanden das letzte Wort nicht gesprochen, zumal ähnliche Umweltprozesse in vielen Staaten geführt werden. Es ist im Ergebnis richtig, einen Konzern nicht durch eine gerichtliche Entscheidung auf eine bestimmte Menge von schädlichen Emissionen zu verpflichten. (…) Das ändert aber nichts daran, dass die Unternehmen – und zwar alle – sich an die nationalen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Regeln zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen halten müssen. Die müssen auch durchgesetzt werden, soweit sie verbindlich sind. Und natürlich kann dann wieder die Justiz ins Spiel kommen.

Der Schutz der Umwelt darf jedoch nur auf demokratischem und rechtsstaatlichem Wege erfolgen – drastische Maßnahmen nicht ausgeschlossen. Im Wege eines selbst erklärten Widerstandsrechts gegen demokratische Entscheidungen wird er nicht gelingen. Und auch nicht über den Weg politisierter Verbände, vor deren Karren sich Parlamente und Justiz nicht spannen lassen sollten. Lobbyarbeit für natürliche Lebensgrundlagen ist Teil einer blühenden Zivilgesellschaft, aber auch für Umweltschutzmaßnahmen muss man Mehrheiten haben und sich im Rahmen der Verfassung halten. Auch Urteile wie das neue aus Den Haag tragen dazu bei, das Thema hochzuhalten. Es ist wichtig, aber nicht das einzige.

Dabei wächst der juristische Druck auf die Konzerne. Mehr als 80 Klagen wurden bereits gegen die weltweit größten Öl-, Gas- und Kohleunternehmen eingereicht – darunter BP, Chevron, Eni, Exxon Mobil, Shell und Total Energies. Shell allein muss sich auf der ganzen Welt mehr als 40 Klimaklagen stellen.“

Handelsblatt vom 12. November 2024:

„Jetzt ist es offiziell: Die Zeiten der grünen Wende sind vorbei. Zumindest in der Ölindustrie. Was vor drei Jahren noch als großer Sieg der Klimaaktivisten gefeiert wurde, hat ein Zivilgericht im niederländischen Den Haag am Dienstag wieder aufgehoben. (…) Steigende Kosten, Stellenabbau und sinkende Wachstumsraten haben die öffentliche Debatte bestimmt, der Kampf gegen den Klimawandel gerät dabei immer mehr ins Hintertreffen. Sehr zur Freude von Big Oil. Die großen Öl- und Gaskonzerne dieser Welt verbuchen Milliardengewinne, während Klimawissenschaftler das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnung ausrufen.

Nach dem Ende der Coronapandemie sind die Ölpreise so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Shell, BP, Exxon Mobil und Co. nutzen die Gunst der Stunde und fördern so viel Erdöl wie möglich. Unter dem neuen US-Präsidenten Donald Trump dürfte sich die Freude der Förderer noch weiter steigern.“

Quellen:

Thomas Hummel: „Gute Zeiten für Shell und Co.“, Süddeutsche Zeitung vom 13. November 2024

Dorothee Holz: „Das Gericht ist nicht eingeknickt“, Deutschlandfunk vom 12. November 2024

https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-urteil-shell-100.html

Gerrit Hoekman: „Shell siegt vor Gericht“, junge Welt (Online) vom 13. November 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/487764.kohlendioxidausstoß-shell-siegt-vor-gericht.html?

Marie Gogoll: „Shell hat recht“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Oel-Konzern-muss-CO-Ausstoss-nicht-senken/!6045610&s/

Tobias Müller: „Verantwortung fürs Klima: ja. Konkrete Auflagen: nein“, taz (Online) vom 12. November 2024

https://taz.de/Revisionsurteil-im-Shell-Prozess/!6045617&s/

Sarah Tekath: „Klimaschutz: Shell muss Schadstoffe doch nicht reduzieren“, Neues Deutschland (Online) vom 12. November 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1186699.klimaschutzprozess-shell-klimaschutz-shell-muss-schadstoffe-doch-nicht-reduzieren.html?sstr=shell

Reinhard Müller: „Haager Shell-Urteil: Guter Umweltschutz geht nur demokratisch“, FAZ (Online) vom 12. November 2024

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/shell-urteil-in-den-haag-guter-klimaschutz-110106791.html

Kathrin Witsch: „Das Motto lautet ab sofort wieder – ‚Drill, Baby, drill‘“, Handelsblatt (Online) vom 12. November 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/shell-das-motto-lautet-ab-sofort-wieder-drill-baby-drill/100087840.html