Drei Faktoren machen das Coronavirus für die Menschen gefährlich: das Alter, mögliche Vorerkrankungen und – zumeist ausgeblendet – der sozioökonomische Status der Betroffenen. In den letzten Tagen und Wochen geriet allerdings ein bisher weitgehend ignorierter Personenkreis in den öffentlichen Fokus: die osteuropäischen Arbeiter in deutschen Schlachthöfen. Im Rahmen einer von den Grünen beantragten Aktuellen Stunde im Bundestag am 13. Mai sah sich schließlich auch Bundesarbeitsminister Heil genötigt, die Arbeitsbedingungen in der Branche zumindest verbal zu kritisieren. Die diesbezüglichen Nachrichten der vergangenen Tage seien beschämend und nicht zu tolerieren, so der SPD-Politiker.
Der Hintergrund: Die Gewerkschaft NGG geht davon aus, dass rund 30.000 Menschen in der Fleischwirtschaft über Werkverträge beschäftigt sind, darunter 5.000 aus anderen EU-Ländern entsandte Arbeitnehmer mit ausländischem Arbeitsvertrag. Da die Arbeitskräfte in der Regel in sehr beengten Sammelunterkünften von Subunternehmen leben müssen, sind Ansteckungen schlicht unvermeidbar. So waren beispielsweise in einer Fleischfabrik in Coesfeld bis zum 12. Mai 260 der rund 1.200 Arbeiter positiv getestet worden. (Handelsblatt, 12. Mai 2020)
Überraschen kann die Häufung der Infektionen indes nicht. Die oft desaströsen Lebens- und Arbeitsbedingungen führten laut Einschätzung des Robert-Koch-Instituts bereits im Jahr 2018 zu einer „auffälligen Häufung“ von Tuberkulosefällen unter rumänischen Schlachthof-Beschäftigten. Dass seitdem die Situation der Arbeiter weiterhin ignoriert wurden, befördert nun die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie. (German Foreign Policy, 12. Mai 2020)
Ein treffender Kommentar des Deutschlandfunks zur Lage sei hier ausführlich dokumentiert:
„Seit Jahren werden vor unseren Augen zehntausende Osteuropäer in einer Art und Weise ausgebeutet, die an moderne Sklaverei grenzt. Sie verschulden sich, um nach Deutschland zu kommen, zahlen an dubiose deutsche Firmen Vermittlungsgebühren, um sich dann in deutschen Schweinefabriken zu Grunde zu schuften. Zehn bis zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Dann geht es zum Schlafen in verschimmelte Schrottimmobilien, für die sie dann noch ein paar Hundert Euro an Miete an den Subunternehmer abdrücken müssen. Den gesetzlichen Mindestlohn bekommen die Arbeiter oft nur auf dem Papier. Überstunden werden nicht gezahlt, es gibt Abzüge für Arbeitskleidung, Arbeitsschuhe und Dinge, die gar nicht existieren. (…) Wir reden hier nicht von ein paar schwarzen Schafen in der Branche, denn diese Ausbeutung hat System und war und ist von der Politik geduldet, wenn nicht sogar gewollt. Denn der Fleischindustrie wird es extrem leicht gemacht, die Ausbeutung outzusourcen an eine Riege dubioser Subunternehmer. Die organisierte und von der Politik geduldete Ausbeutung hat einen Namen: Werkverträge. Statt Schlachter direkt anzustellen, vernünftig zu bezahlen und nach deutschem Arbeitsrecht zu beschäftigen, vergeben fast alle Großschlachtereien Werkverträge an Subunternehmer, die tricksen, um Lohn betrügen, ihre Arbeiter abzocken, wo sie können. (…) Dass der Aufschrei jetzt so groß ist, hat auch nur zum Teil mit aufkommender Empathie für die Arbeitern zu tun. Durch die Coronafälle in den Schrottimmobilien müssen manche Regionen schlicht ein bisschen länger auf die ersehnten Coronalockerungen warten. Es geht um Eigeninteressen.“ (Deutschlandfunk, 13. Mai 2020)
Warum der deutsche Staat kaum gegen die kriminellen Verhältnisse in der Fleischbranche vorgeht, beschreibt folgender Beitrag:
„Die desaströsen Verhältnisse in den Schlachthöfen ermöglichen es der deutschen Fleischindustrie nicht nur, im Inland billiges Fleisch auf den Markt zu werfen. Sie eröffnen auch die Chance, auf dem Weltmarkt um Exportanteile zu konkurrieren. Dabei hatten deutsche Unternehmen zuletzt durchaus Erfolg. Die Bundesrepublik ist, gemessen am Wert der Ausfuhr, der fünftgrößte Fleischexporteur der Welt (nach den USA, Brasilien, Australien und den Niederlanden) sowie der drittgrößte Schweinefleischexporteur (nach Spanien und den USA); der Umsatz, den alleine die Ausfuhr von Schweinefleisch erzielte, lag 2019 bei rund 5 Milliarden US-Dollar. Der größte deutsche Schlachtbetrieb, Tönnies aus dem nordrhein-westfälischen Rheda-Wiedenbrück, erzielte im vergangenen Jahr mit der Verarbeitung von 20,8 Millionen Schweinen – davon mehr als drei Viertel in Deutschland – sowie von 440.000 Rindern einen Rekordumsatz in Höhe von um die 7,3 Milliarden Euro.“ (German Foreign Policy, 12. Mai 2020)
Schon weit vor der Corona-Krise machte der katholische Pfarrer Peter Kossen aus dem nordrhein-westfälischen Lengerich immer wieder auf die katastrophalen Zustände in der Branche aufmerksam. Mit seinem Anfang des vergangenen Jahres gegründeten Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ engagiert er sich dafür, Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteuropa zu unterstützen und über ihre Rechte aufzuklären. Und er macht konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation. In einem Interview mit der ZEIT thematisiert er die beengten Wohnverhältnissen der Werkarbeiter:
„Es gibt eine Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für die Corona-Krise, die besagt: ‚ein Mensch – ein Raum‘. Damit könnte man schon mal anfangen. (…) Jetzt, in der akuten Situation, könnte man freie Hotelkapazitäten nehmen. Das ist teuer, aber dann könnte man vielleicht noch Menschen retten. Das kann natürlich nur vorübergehend sein, langfristig braucht es sozialen Wohnungsbau, grundsätzliche Strukturen. Eine Gefahr sind auch die Transfers. Häufig werden die Menschen in Kleintransportern zur Arbeitsstätte gefahren, in denen keine Sicherheitsvorkehrungen eingehalten werden können.“
Ebenfalls äußert er sich zur Rolle der Subunternehmer, die auch für die Unterkünfte verantwortlich sind: „Man sollte schon mal fragen, inwieweit Unternehmen ihre Verantwortung delegieren können, wie sie es seit Jahren tun. Immer heißt es: ‚Wir können nichts für Sozial- und Lohndumping.‘ Das ist ein bisschen billig. Es herrscht meiner Einschätzung nach unter vielen Subunternehmern allerdings auch eine hohe Kriminalität: Es gibt dort Menschenhandel, Sozialbetrug und verschiedene andere Delikte. Dadurch, dass man sie im Graubereich belässt, ermöglicht man den Missbrauch.“
Quellen:
Katrin Terpitz: „Tönnies baut eigenes Corona-Testlabor auf“, Handelsblatt vom 12. Mai 2020
German Foreign Policy: „Bleibende Schäden (II)“, 12. Mai 2020
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8272/
Manfred Götzke: Kommentar im Deutschlandfunk (13. Mai 2020, 19:15 Uhr)
https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-alles-von-relevanz.4210.de.html
Wenke Husmann: „Die Leute haben große Angst“ (Interview mit Peter Kossen), ZEIT Online vom 10. Mai 2020