In den Medien taucht in jüngster Zeit vermehrt der Begriff „Clan-Kriminalität“ auf. Gemeint sind zumeist Strukturen der Organisierten Kriminalität, die sich personell aus Angehörigen ethnischer Minderheiten zusammensetzen. Diese kriminellen Strukturen gelten als extrem patriarchal organisiert und auf Grundlage eines anachronistischen Wertesystem handelnd. Das Eindringen von verdeckten Ermittlern in solche in sich abgeschotteten Clans gilt nach Auffassung von Kriminologen als außerordentlich schwierig.
Die Ursachen für das Auftreten von Clan-Kriminalität in Deutschland werden zumeist in der seit den 1980er Jahren andauernden Migration aus dem nahöstlichen Raum ausgemacht. Im Zusammenhang mit Straftaten, die diesen kriminellen Clans zugeschrieben werden oder die nachweislich von ihnen verübt wurden, skandieren rechtsradikale Propagandisten mit ermüdender Regelmäßigkeit Parolen wie „Grenzen dicht!“, „Deutschland den Deutschen!“ und seit einiger Zeit auch „Merkel muss weg!“. Ist die Clan-Kriminalität in den entwickelten kapitalistischen Zentren aber tatsächlich ein Produkt der Globalisierung unserer Neuzeit – so wie sie sie von rechten Denkfabriken gern dargestellt wird? Tatsächlich ist nur der Begriff neu, nicht aber das Phänomen selbst.
Wanderungen größerer Menschengruppen hat es schon immer gegeben. Organisiertes Verbrechen gibt es, seit Gesetze zur Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten erlassen und durchgesetzt werden. Und Gruppen von Migrant*innen, zumal dann, wenn diese bewusst ausgegrenzt und diskriminiert werden, neigen naturgemäß dazu, in sich geschlossene Wirtschaftseinheiten auf der Basis ethnischer Herkunft oder religiösem Bekenntnis ihrer Akteure zu schaffen. In solchen Strukturen herrschen dann andere Regularien und Moralvorstellungen als in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Bei den von kriminellen Clans des 19. Jahrhunderts verübten Straftaten handelte es sich übrigens zum großen Teil um Armutskriminalität. Nur selten schafften die Anführer solcher Clans den Sprung in die große Geschäftswelt. So etwas wurde dann erst im frühen 20. Jahrhundert möglich.
Gehen wir aber einmal zurück in das 19. Jahrhundert und greifen uns als Beispiel die USA heraus: heute eine kapitalistische Großmacht, damals ein aufstrebendes Entwicklungsland, welches gerade die einengenden Zwänge der britischen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte. Bekanntlich besteht die Bevölkerung der USA fast ausschließlich aus Migrant*innen und deren Nachkommen; der Anteil indigener Bevölkerungsgruppen ist extrem gering. Die USA gilt in ihrem Selbstverständnis als kultureller Schmelztiegel – danach nahmen die meisten nicht englischsprachigen Einwanderer*innen relativ schnell Sprache und Kultur der Bevölkerungsmehrheit an. Es lohnt sich allerdings, dieses Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen.
Noch bei der ersten Volkszählung des Jahres 1790 gaben etwa 80 Prozent der Bevölkerung des neugegründeten Staates zur Frage ihrer nationalen Herkunft England, Schottland, Wales und Nordirland an. Zwar stammten schon damals größere Bevölkerungsgruppen aus Deutschland, Irland, den Niederlanden, Frankreich und Schweden. Die ganz großen Migrationsschübe aus nicht-englischsprachigen Ländern kamen jedoch erst danach über den Großen Teich. Und diese Migrant*innen wurden von den bereits ansässigen und integrierten Bevölkerungsgruppen keineswegs immer willkommen geheißen.
Die Ursachen für die großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts waren in etwa dieselben, wie in unserer Gegenwart auch: Kriege, Hungersnöte, Massenarbeitslosigkeit, ausufernde staatliche Repression… Allein in den 1840er Jahren flüchteten beispielsweise wegen einer Hungerkatastrophe etwa zwei Millionen Menschen aus dem britisch beherrschten Irland; etwa eine Million der Irininnen und Iren, die im Land geblieben waren, verhungerte. Mehrere Millionen Menschen verließen etwas später das von Wirtschaftskrisen und heftigen sozialen Unruhen geschüttelte Königreich Italien. Allein von 1906 bis 1910 ließen sich etwa zwei Millionen Italiener in den USA nieder. Die Ankömmlinge aus diesen überwiegend katholischen Ländern bildeten für lange Zeit Parallelgesellschaften in den protestantisch dominierten USA. Die Mafia-Netzwerke, welche ihre Wurzeln in der italienischen Einwanderung hatten, sind legendär und bilden bis in unsere Gegenwart hinein den historischen Hintergrund für zahlreiche gelungene oder auch weniger gut gelungene Hollywoodfilme.
Das Schicksal der Armutsflüchtlinge aus Irland ist hingegen kaum ins öffentliche Bewusstsein unserer Gegenwart eingegangen. Diese Bevölkerungsgruppe war im 19. Jahrhundert heftig diskriminiert, bildete lange Zeit den Bodensatz der US-Gesellschaft. Die Mehrzahl der bettelarm ankommenden Iren war weder gewillt noch verfügten sie über die finanziellen Mittel, sich irgendwo im Landesinneren eine bürgerliche Existenz aufzubauen. In den Hafenstädten an der Ostküste der USA bildeten sich demzufolge fast ausschließlich irisch bewohnte Armutsviertel, die von kriminellen Banden beherrscht wurden. In ähnlich abgeschlossenen Wohnvierteln hausten damals übrigens auch andere ethnische Minderheiten. Nach den Iren waren die Einwanderer aus den deutschen Kleinstaaten und aus der Schweiz die zweitgrößte Nationalität. Von einem multikulturellen „Schmelztiegel“ konnte damals zumindest an der Ostküste der USA keine Rede sein. Vor allem die Stadt New York wurde Schauplatz mittels brutaler Gewalt ausgetragener Bandenkriege, regelmäßig flankiert von Hungeraufständen, Krawallen und Plünderungen wohlhabender Viertel.
Banden irischer Elendsmigrant*innen bekämpften einander, schlossen aber auch Bündnisse gegen andere Banden, die sich entweder aus Einheimischen oder aber aus Angehörigen anderer Minderheiten rekrutierten. Die Bevölkerung der irisch dominierten Wohnviertel stützte sich auf die Bandenstrukturen, um sich gegen Angriffe von Polizei und Nationalgarde zur Wehr setzen zu können. Die Banden waren aber auch tragende Kraft bei rassistischen Pogromen, die sich hauptsächlich gegen Angehörige der afroamerikanischen Minderheit richteten.
In die Geschichte eingegangen sind vor allem die „Draft Riots“ von 1863, ein Aufstand der irischen Bevölkerungsgruppe der Stadt New York, der sich gegen die während des US-amerikanischen Bürgerkrieges dekretierte Einführung der Wehrpflicht richtete. Die Militärführung der Nordstaaten musste damals mehrere Regimenter von der Front abziehen, um die in der Stadt ausufernde Gewalt samt Plünderungen beenden zu können. Der 2002 produzierte und mehrfach ausgezeichnete Monumentalfilm „Gangs of New York“ (Regie: Martin Scorsese) spielt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse. Das Drehbuch benutzte als Quelle das gleichnamige Buch des US-amerikanischen Kriminalhistorikers Herbert Asbury.
Was aber war die ökonomische Basis dieser Bandenherrschaft? Wie Asbury in seinem Buch beschreibt, erhoben die Bandenführer Schutzgelder von den in solch abgeschotteten Vierteln wie Pilze aus dem Boden schießenden Kneipen, Tanzlokalen, Spielhöllen, Schnapsbrennereien und Bordellen oder aber sie betrieben solche Unternehmen selbst. Da die Staatsmacht in den von Banden beherrschten Vierteln faktisch ohnmächtig war, bezahlten die in ihnen aktiven Unternehmen keine oder fast keine Steuern und Abgaben, brauchten sich beim Betreiben ihrer Einrichtungen auch an keinerlei öffentliche Vorgaben und Regularien zu halten. Die Banden profitierten also von den von ihnen selbst geschaffenen rechtsfreien Räumen.
Wie es in Asburys Buch weiter heißt, konnten sie aber auch deshalb weitgehend ungestört agieren, weil maßgebliche Politiker der damals in den USA in Entstehung begriffenen Parteienlandschaft sich von den kriminellen Netzwerken Vorteile erhofften und Bündnisse mit den wichtigsten Bandenführern geschlossen hatten. Besonders heftig bekämpften die irischen Banden damals Gegner der Sklaverei, da sie – nicht ganz zu Unrecht – im Falle einer allgemeinen Sklavenbefreiung einen Zustrom von Afroamerikanern aus den Südstaaten in die bisher von ihnen kontrollierten Städte des Nordens befürchteten. Die Bandenführer organisierten im Auftrag von Politikern, die eine Abschaffung der Sklaverei ebenfalls ablehnten, Stimmenkauf und ganz unverfrorene Wahlfälschungen. Im Gegenzug versprachen Politiker den Banden, sich für die schnellstmögliche Einbürgerung der von ihnen repräsentierten Einwanderergruppen einzusetzen.
Zusätzlich zum Erheben von Schutzgeldern und dem Betreiben illegaler Einrichtungen kam in den von Banden beherrschen Gebieten natürlich noch die ganz normale Straßenkriminalität hinzu: Diebstahl, Raubmord, Piraterie, Schmuggel, Einbruch, Hehlerei… Die Staatsgewalt reagierte auf die zunehmende Rechtsunsicherheit damit, dass auf frischer Tat ertappte Straftäter oft nach einem eher kurzen Prozess sofort gehängt wurden. Wie Asbury schreibt, wurden allein im Jahre 1860 in der Stadt New York mehr als 58.000 Personen wegen verschiedener Verbrechen verurteilt; etwa 80 Prozent von ihnen waren nicht in den USA geboren (Asbury, Seite 147).
Bei den bereits genannten „Draft Riots“ des Jahres 1863 brauchte das Militär der Nordstaaten vier Tage, um die in New York ausufernden Plünderungen und Gewalttaten zu beenden. Bei den Unruhen sollten etwa 2000 Menschen ums Leben gekommen sein; 100 Gebäude wurden niedergebrannt, 200 geplündert und verwüstet (Asbury, Seite 203). Wie Asbury in seinem Buch meint, flauten die Bandenkriege dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab, ganz beendet wurden sie aber erst um das Jahr 1910. Dies ist kein Zufall.
Die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges massiv expandierende fordistische Industrieproduktion (Fließbandfertigung) entwickelte vorübergehend einen Riesenhunger nach Arbeitskräften. Die Einbeziehung der Bevölkerung der bisher weitgehend abgeschotteten Einwandererviertel in die Fabrikarbeit erreichte in vergleichsweise kurzer Zeit genau das, was zuvor weder Schnellgerichte noch knüppelschwingende Polizeitrupps und schießwütige Nationalgardisten vermocht hatten: das Ende der kriminellen Clans. Die in sich abgeschotteten Familienzusammenhänge lockerten sich. Die neu heranwachsende Generation ergriff ihre Chance und verließ die Armutsghettos. Schutzgelderpresser mutierten zu Polizeibeamten, Bandenführer zu vermeintlich seriösen Geschäftsleuten, Kleinkriminelle zu gewerkschaftlich organisierten Fließbandarbeitern.
Die US-Gesellschaft war dann zumindest in ihren Industrieregionen an der Ost- und Westküste mehrere Jahrzehnte lang wirklich der kulturelle Schmelztiegel, als der sie sich bis heute gern präsentiert. Ähnlich verlief die Entwicklung übrigens auch in anderen Industriestaaten. Bei zahlreichen Einwohnern des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erinnert heute noch der polnisch klingende Namen daran, dass es sich um Nachfahren von Bergleuten aus Schlesien handelt, die man ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das damals wirtschaftlich florierende Ruhrgebiet geholt hatte.
Woraus resultiert nun aber die in unserer Gegenwart unübersehbare Wiederauferstehung von Armutsvierteln in den Städten samt sich darin entwickelnder Clan-Kriminalität? Ist sie das Ergebnis der gnadenlosen Durchrationalisierung von Industrieproduktion durch neoliberal geschultes Management während der letzten Jahre und Jahrzehnte? Ist es die weltweite Zunahme industriell betriebener Agrarproduktion inklusive massivem Arbeitskräfteabbau? Ist es das absehbare Ende der Expansion des Kapitalismus, welcher sich mittlerweile auch auf die allerletzten Regionen unseres Planeten ausgebreitet hat? Ist es der Zusammenbruch von Versuchen nachholender Modernisierung in zahlreichen Staaten Afrikas und Asiens? Oder all das zusammen? Oder ist es schlicht das Fehlen von Verteilungsgerechtigkeit unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens?
Im verqueren Weltbild von derzeit (leider) im Aufwind befindlichen rechtsradikalen Politaktivisten kommt dergleichen natürlich alles nicht vor. Von diesen propagierte Rezepturen gegen die unbestreitbare zunehmende Clan-Kriminalität sind nichts als eine Neuauflage von all dem, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Sachen staatlicher Repression ausprobiert wurde, letztlich kaum etwas bewirkt hat und auch nichts hätte bewirken können.
Es ist übrigens bezeichnend, dass es sich bei den rechtsradikalen Politaktivisten in Deutschland nicht selten um vorbestrafte Kleinkriminelle handelt – bekannte Figur: der PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann. Und vor einiger Zeit konnten findige Journalisten ermitteln, dass ausgerechnet die sich als Ordnungspartei, als Interessenvertreterin von Polizei und Militär präsentierende AfD selbst ein Problem in Sachen Kriminalität hat: Der Anteil von vorbestraften Mandatsträgern ist bei ihr nachweislich wesentlich höher, als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien (Kock / Müller). Dies mag verwundern, aber nur auf den ersten Blick. Gewesene oder Noch-Beamte sind auch nur Menschen und demzufolge für Straftaten anfällig. Und die Geschichte hat gezeigt, dass sich in repressiven Diktaturen deren führende Repräsentanten oftmals ganz ungeniert die Taschen vollstopften.
In der Bundesrepublik wurde bisher mehr oder auch weniger erfolgreich versucht, einer beginnenden Ghettoisierung von Minderheiten gegenzusteuern, kriminellen Clans so den Boden zu entziehen oder ihren Vormarsch zumindest auszubremsen. Für die im ebenfalls Vormarsch befindliche Rechte sind Sozialprojekte zur Förderung von Angehörigen ethnische Minderheiten hingegen ein Werk des Teufels. Nachgewiesene Fälle von Clan-Kriminalität werden dahingehend instrumentalisiert, solche Förderungen ganz zu streichen.
Es handelt sich bei der Ideologie rechter Parteien und zunehmend auch von Politikern der sogenannten bürgerlichen Mitte schlicht um die Propagierung von Verteilungskämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um knapper werdende Soziallleistungen. Der Rückblick auf in der Vergangenheit tobende Bandenkriege zeigt, zu was für Zuständen die Umsetzung einer solchen Ideologie letztlich führen kann.
Verwendete Literatur
Herbert Asbury: „Gangs of New York“, Wilhelm Heyne Verlag, München 2003
Alexej Kock / Uwe Müller: „Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete hat Ärger mit dem Gesetz“, in: „Die Welt“ vom 6. Mai 2018
Gerd Bedszent
lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.