Gitta Düperthal im Gespräch mit Silvia Hauffe
Silvia Hauffe ist Büroleiterin bei der Bundestagsabgeordneten Sylvia Gabelmann (Die Linke). Mit einer Frauendelegation besuchte sie im Mai 2018 Geflüchtete, die nach dem Angriffskrieg der Türkei auf Afrin im nordsyrischen Rojava in drei Camps im nahe gelegenen Sheba Zuflucht gefunden haben.
Gitta Düperthal sprach mit Silvia Hauffe darüber, welche wirtschaftlichen Interessen die Türkei mit diesem völkerrechtswidrigen Krieg verbindet und wie die deutsche Bundesregierung darauf reagiert. Es geht um die prekäre Lage der aus Afrin Geflüchteten, wie sie ihre Gesellschaft trotz allem vom Kapitalismus in eine sozialere Lebensform überführen wollen, und um fortschrittliche Projekte zur Frauenemanzipation.
Am 17. und 18. März 2018 waren Hunderttausende aus Afrin vor den türkischen Luftangriffen und den islamistischen Milizen nach Sheba geflohen. Drei große Camps stehen in dieser Region unter der Aufsicht der kurdischen Selbstverwaltung. Sie hatten im Mai dieses Jahres mit einer Frauendelegation die Geflüchteten aus Afrin in Nordsyrien im dort nahe gelegenen Sheba besucht. Wie ist Ihrer Kenntnis nach die Lage vor Ort?
Laut Angaben der Vereinten Nationen (UN) mussten insgesamt rund 140.000 Menschen aus Afrin fliehen. Die drei Camps in Sheba sind deshalb in den vergangenen Monaten ständig weiter angewachsen, weil sukzessive immer mehr Geflüchtete dorthin kamen. Auch in den umliegenden Dörfern Shebas siedeln sich Menschen aus der Region Afrin an, die seit März unter Besatzung der Türkei und der Dschihadisten steht. Sie wohnen dort in verfallenen und zerbombten Häusern, unter sehr prekären Umständen. Schon bevor die Flüchtlinge aus Afrin kamen, waren die Dörfer in der Sheba-Region zerstört. Seit der Islamische Staat hier vor vier Jahren gegen die kurdischen Rebellen gekämpft hat, liegt alles in Trümmern. Die Minen wurden nie geräumt. Dagegen geht es den Leuten in den Camps vergleichsweise sogar gut. Dort haben die Frauen aus den Selbstverwaltungsstrukturen aus Rojava die Organisation übernommen. Sie sind bereits sehr erfahren darin, was Flüchtlinge brauchen. Schon vor der türkischen Invasion in ihrer Heimat Afrin hatten sie dort Menschen aus Aleppo und anderen Teilen Syriens vor dem Krieg Schutz geboten und deren humanitäre Aufnahme gestaltet.
Was ist nun aus den Menschen geworden?
Alle, die aus Afrin fliehen mussten, ob sie nun in den Dörfern oder in den Camps leben, leiden vor allem auch darunter, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seinen Vernichtungskampf gegen sie weiter führen will. Immer wieder erneut hat er angekündigt, auch diese Region von Kurdinnen und Kurden „säubern“ zu wollen. Er plant dort derzeit noch in der Türkei lebende Geflüchtete anzusiedeln, aber auch Türken und Dschihadisten. Nach dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Afrin hatte er auch die Region um Sheba und andere Gebiete in Nordsyrien zum künftigen Angriffsziel der Türkei erklärt. Erdogan machte dazu einen wahrheitswidrigen Erklärungszusammenhang auf; er behauptete, die Türkei sei im März angeblich von Afrin aus angegriffen worden. Weiterhin verbreitete er das Gerücht, dass die Selbstverteidigungskräfte YPG aus Nordsyrien vermeintlich Terroristen seien.
Wann hat Erdogan das so konkretisiert?
Meiner Kenntnis nach muss er etwa weitere Angriffe angedroht haben, als er nach der türkischen Invasion und Besatzung einen Bus ausländischer Journalisten hatte nach Afrin einreisen lassen. Letztere waren von schwer bewaffneten türkischen Sicherheitskräften begleitet worden. Sie hatten zwei Stunden Zeit in Afrin auf dem Marktplatz mit Bürgern zu reden; wo zu diesem Zeitpunkt ebenfalls schwer bewaffnete Milizen herumstanden. In dem Zusammenhang hat Erdogan darauf verwiesen, in Afrin 2000 Polizeikräfte auszubilden. Anschließend wolle sich die türkische Armee angeblich selber zurückziehen – und Afrin „den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort“ übergeben. Danach wurden dort Stadträte von Erdogans Gnaden eingesetzt. Vertreten sind darin sind zum einen Kurden, die schon einstmals in Rojava in Opposition zu der Selbstverwaltung der PYD (Partei der Demokratischen Union) standen, zum anderen Vertreter der neu dort angesiedelten Bewohnerinnen und Bewohner, etwa aus Ost-Ghouta ausgesiedelten Dschihadisten-Familien.
Sie haben in Sheba mit Vertreterinnen des Frauendachverbandes Kongreya Star gesprochen. Welche Perspektive sehen Sie langfristig für die Vertriebenen aus Afrin?
Auf Einladung der Aktivistinnen von Kongreya Star waren wir überhaupt in die Camps gekommen. Diese Kräfte der Selbstverwaltung und der Frauenstrukturen aus Afrin, die selber hatten flüchten müssen, organisieren in Sheba vieles. In kürzester Zeit hatten sie eine Infrastruktur aufgebaut. Sie versuchen dort auch Leute, die bislang nicht in die Selbstverwaltungsstrukturen einbezogen waren, daran zu beteiligen – und parallele Strukturen aufzubauen, in denen Frauen ihre Rechte wahrnehmen können. Bereits im Mai, als wir vor Ort waren, erstaunte uns, wie es innerhalb nur von sechs Wochen hatte gelingen können, in den Flüchtlingscamps eine funktionierende Kanalisation, Toiletten – und Waschräume einzurichten. Es gab Wasser- und Stromversorgung, Gesundheitsstationen, Unterrichtsräume für die Kinder etc. Sie waren sehr erfahren, wie all das funktionieren kann. Sie haben dort schon Schulen und Bildung organisiert – und machen es in Sheba weiter. Frauen aus den Gesundheitskomitees der Selbstverwaltungsstrukturen in Afrin betreiben auch die Versorgung der Kranken.
Im Bericht der Frauendelegation hieß es: Die Menschen in der Region Sheba und in den Camps fühlten sich von der Welt vergessen. Kommt dort humanitäre internationale Hilfe an?
Es erfolgte kaum Hilfe von irgendeiner großen Hilfsorganisation. Meines Wissens hängt das damit zusammen, dass die „Demokratische Konföderation Nordsyriens“ quasi von niemandem anerkannt ist. Ihrem Kodex entsprechend kooperieren die meisten der großen internationalen Organisationen nur mit Staaten. Im Fall dieser Camps wäre Syriens Machthaber Baschar al-Assad Ansprechpartner. Er zeigt jedoch wenig Interesse daran, dass die Kurdinnen und Kurden der autonomen Region unterstützt werden. Bemerkenswert ist allerdings: Selbst wenn es keine offiziellen Kontakte mit UNHCR gibt, waren in Sheba Zelte mit der Aufschrift dieser Organisation zu sehen. Über irgendwelche Wege kommt doch immer wieder einige Hilfeleistung dort an. Die Geflüchteten aus Afrin erhalten vor allem Unterstützung aus den anderen beiden in Rojava gelegenen Kantonen Kobani und Cizire, die ebenso in kurdischer Selbstverwaltung organisiert sind. Von ihnen vermittelt gibt es weitere Verbindungen in andere Teile Syriens.
Hatten die Menschen bei ihrer Flucht aus Afrin noch etwas mitnehmen können?
Die Leute der kurdischen Hilfsorganisation Heyva Sor a Kurd haben uns berichtet, dass Ärztinnen und Ärzte des ehemaligen Krankenhauses in Afrin noch einige Dinge retten und nach Shehba hatten mitbringen konnten. Auch die Klinik in Afrin war im März von der türkischen Armee bombardiert worden. In den Trümmern hatte das medizinische Personal anschließend nach technischen Geräten und Medikamenten gesucht. Dennoch mangelt es nach wie vor in den Camps in Sheba an Medizin und wichtigen Geräten für eine Laborausstattung.
Kongreya Star kämpft für eine gesellschaftliche Anerkennung und Partizipation der Frauen, damit sich das Bewusstsein der Männer in der Region Rojava zu Frauenrechten verändert.
Strebt die Frauenorganisation dieses Ziel selbst im Flüchtlingscamp in Sheba noch an – oder ist dies nachrangig angesichts der Notsituation, die dort vorherrscht?
Nein, nirgendwo in Nordsyrien werden die Frauenrechte als nachrangig betrachtet. Umgekehrt ist es: Gerade wenn die Lebenssituation prekärer ist als in befriedeten Regionen, müssen die Frauen dort unbedingt eigene Anlaufstellen haben. Ihnen wird so die Möglichkeit eröffnet, sich zu organisieren. Das Rätesystem, mit der Schaffung von Parallel-Institutionen für Frauen, ist in den Camps selbstverständlich. Als westliche Delegation waren wir übrigens dort nur in Frauenstrukturen unterwegs. Auch wenn es mir fast ein wenig peinlich ist: von den gemischten Institutionen, in denen auch Männer tätig sind, haben wir nichts mitbekommen. Freilich setzt sich das Personal der Gesundheitsstationen aus Männern und Frauen zusammen. Auch bei Bauvorhaben haben wir Männer angetroffen. Sie haben dort zum Beispiel Gräben ausgehoben und Wälle für die Verteidigung gebaut.
Heißt das, dass die Geflüchteten in Sheba einen weiteren aggressiven und völkerrechtswidrigen militärischen Überfall seitens der Türkei und der Dschihadisten befürchten?
Die Volksverteidigungskräfte YPG und die Bevölkerung sind sich dessen bewusst, möglicherweise auch diese Gegend verteidigen zu müssen. Sie gehen davon aus, dass völlig unklar ist, wie lange sie in Sheba bleiben können – bevor auch dort die Türkei und die Islamisten angreifen. Der türkischen AKP-Regierung und den Dschihadisten geht sowohl die Selbstverwaltung, als auch die Frauenemanzipation gehörig gegen den Strich, die die Bevölkerung in Sheba weiterhin umsetzen will. Die Geflüchteten wollen dort vor allem bleiben, weil es in der Nähe Afrins ist, wohin sie wieder zurück wollen. Nachrichten, dass die Türkei immer wieder Panzer und Waffen an der Grenze zu Rojava sammelt, beunruhigen sie. Es macht sie nervös, wenn die kurdische Nachrichtenagentur meldet, dass die südkurdische Regionalregierung den Grenzübertritt von Delegationsreisen aus verschiedenen Ländern nach Rojava verhindert. Am 27. Juli betraf dies unter anderem den Bundestagsabgeordneten und gesundheitspolitischen Sprecher der Linken Harald Weinberg. Er hatte den Aufbau einer Prothesenwerkstatt und weitere medizinische Projekte unterstützen wollen. Nach seiner Auskunft wurden mehr als 2500 Menschen in den vergangenen Jahren dort Opfer von Minenexplosionen und benötigen eine Prothese.
Welche Nachrichten aus dem von Islamisten und Türken besetzten Afrin dringen nach außen? Wie ist die Lage unter der Besatzung für die Bevölkerung dort?
Amnesty Internation forderte am 2. August, die Türkei müsse schwere Menschenrechtsverletzungen in Afrin stoppen. Von den türkischen Streitkräften unterstützte Milizen seien in der Region für das Verschwinden von Menschen, für willkürliche Verhaftungen und Misshandlungen sowie für die Beschlagnahmung von Eigentum und Plünderungen verantwortlich. Die Türkei unternehme nichts dagegen – und verletze damit „ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen als Besatzungsmacht“. So hat es die Menschenrechtsorganisation dort recherchiert. Auch in Sheba diskutieren die Menschen die schlimmen Zustände in Afrin: Frauen dort dürften nur noch mit Kopftüchern aus dem Haus gehen. An den Schulen in der Region gibt es nur noch Türkischunterricht. Alles wird islamisiert. Insbesondere für die emanzipierten Frauen, die das Leben aus den Frauenstrukturen kannten, ist all dies unerträglich. Afrin ist schwer bewacht. Die Milizen dort lassen weder Menschen herein, noch heraus. Sich freizukaufen und auszureisen koste 1000 Dollar, war zu hören. Ob dort die Wasser- und Stromversorgung für die Bevölkerung funktioniert, ist nicht bekannt. Alle wissen: Falls letzteres offiziell behauptet wird, könnte es möglicherweise auch nur türkische Propaganda sein. Rein- und raustelefonieren in die besetzte Stadt funktioniert kaum, allenfalls klappt es mit der Kommunikation im Internet über Whats App.
Welche Menschen waren Ihrer Kenntnis nach, damals im März, nach dem Einmarsch der Türkei mit den Dschihadisten in Afrin verblieben: Wer es nicht schnell genug geschafft hat, zu flüchten oder vor allem jene, die beispielsweise geglaubt hatten, so schlimm werde schon nicht werden?
Sowohl als auch: Nicht alle Bewohner Afrins, die vorhatten zu flüchten, haben es letztlich geschafft. Bekanntermaßen hatte das türkische Militär in den letzten Tagen vor der Okkupation im März die Flüchtlingstrecks bombardiert. Mit Bomben und Drohnen wollte die Armee die Flucht der Bevölkerung verhindern. Vor allem Schwache und Kranke schafften es nicht mehr rechtzeitig zu fliehen.
Wie ist Ihre Einschätzung zu einem Rätesystem mit Kollektiven zur lokalen Selbstversorgung? Ist eine Subsistenzwirtschaft wie in Rojava in Nordsyrien sinnvoller Weise anzustreben? Wäre also eine neue, damit einhergehende Sinnhaftigkeit wünschenswert, selbst wenn dies in übliche Gewohnheiten und Konventionen eingreifen würde – etwa durch eine Abkehr vom Kommerz?
In der Tat ist es ein bemerkenswerter Schritt: Sich von der kapitalistischen Verwertungslogik zu entfernen und damit von der Produktion von Dingen, deren Bedarfe meist erst künstlich erzeugt werden. In der momentanen Situation geht es in Nordsyrien sowieso vorrangig um die Produktion und Herstellung der unmittelbar lebenswichtigen Erzeugnisse; zum Beispiel Lebensmittel, Kleidung etc. Innerhalb der Kommunen dort wissen die Menschen, was genau zu diesem Zeitpunkt in welcher Menge gebraucht wird. Es wird an den Bedürfnissen der Menschen entlang produziert – und Überproduktion vermieden. Dieses Wirtschaftssystem dient den Interessen aller und füllt nicht die Taschen einzelner mit Geld. Die Existenz dieses Systems ist sicherlich eine Kampfansage an den Kapitalismus. Auch deswegen wird Rojava in Nordsyrien so vehement von Erdogan bekämpft.
Wie weit ist der Aufbau eines alternativen Wirtschaftssystems in Nordsyrien fortgeschritten, der immer wieder gegen kriegerische und kriminelle Raubzüge verteidigt werden muss?
Dort wird der Beweis erbracht, dass sich Menschen jenseits des vorherrschenden Mainstreams organisieren können – und wie das genau funktionieren kann. Allerdings ist auch in der autonomen demokratischen Föderation Rojava erst eine Entwicklung in Gang gekommen. Nicht alle Einwohner vom neuen Modell überzeugt, viele sind noch der kapitalistischen Logik verfallen. In den Kantonen Rojavas leben nicht nur Kurdinnen und Kurden: Es ist eine Vielvölker-Föderation mit Jeziden, Arabern, Turkmenen, Armeniern, Tschetschenen, Assyrern und anderen. Vor allem die in den Frauenstrukturen engagierten Kurdinnen dort betreiben aktiv Überzeugungsarbeit und bringen ein fortschrittliches Bildungssystem voran. Alles dreht sich dabei um Selbstbestimmung und Selbstermächtigung. Einst gab es dieses Rätesystem auch in Spanien. 1936 kämpften dort unter anderem Internationale Brigaden, um es umsetzen zu können. Damals siegte der Diktator Francisco Franco über dieses fortschrittliche demokratische System. Zu wünschen ist, dass diese Geschichte sich nicht in Rojava wiederholt.
Verfechter des Neoliberalismus spotten angesichts einer angestrebten Subsistenzwirtschaft: Solch ein System sei ein Rückschritt in Verhältnisse, wie sie einst die Neandertaler gehabt hätten.
Ich möchte das am Beispiel der Landwirtschaft erläutern. In Rojava geht es darum, ökologisch und regional produzieren. In der Region fahren natürlich auch Traktoren. Ziel ist nicht etwa, die Technik zurückzufahren, sondern sie für Natur und Mensch zu nutzen. Dass Monokulturen von Tomaten beispielsweise nicht sinnvoll sind, ist bekannt. Dies könnte eine Erosion, Schädlingsbefall oder einseitige Nährstoffverarmung von Böden zur Folge haben. All dies sind bekannte Nachteile solcher oder anderer Monokulturen. Notwendig wird dann mitunter auch ein erhöhter Einsatz von Dünge- oder Pflanzenschutzmitteln.
Auch die Medizin soll dort anders genutzt werden?
In Rojava wird Medizin zur Umsetzung von alternativen Heilmethoden hergestellt. In einer Gesundheitsakademie wird ausgebildet, ohne die herkömmlichen Hierarchien zu berücksichtigen. Pfleger sind den Ärzten in der Wertigkeit ebenbürtig. Es geht darum, das Interesse der Patienten in den Mittelpunkt zu stellen; und nicht die Profite der Pharmaindustrie. All dies ist den kapitalistischen Wertegemeinschaften ein Dorn im Auge.
Was in westlichen Industrienationen gemeinhin unter „wirtschaftlicher Effizienz“ verstanden wird, spiele in Rojava keine Rolle, hat jemand geäußert, der dort vor Ort recherchiert hat. Mit der Wachstums-Logik „mehr, schneller, größer“ müsse gebrochen werden. Wie sehen Sie es?
Der Mensch wird tatsächlich kulturell im kapitalistischen Wertesystem völlig entfremdet. Er rennt immer nur dem Ziel hinterher, sich ständig neue Produkte zu ergattern, statt sich kulturell zu entfalten. In Rojava ist beabsichtigt, dass es perspektivisch kein Geld mehr geben muss: Ein geldloses System, in dem jeder bekommt, was er braucht; möglicherweise auch eine Tauschwirtschaft.
Welche Einblicke haben Sie in das jetzt in Rojava übliche wirtschaftliche System erhalten?
Die Zeit für eine intensive Recherche vor Ort war für unsere Frauendelegation zu kurz. Wir haben erfahren, dass die Menschen in Sheba Geld von der Bewegung in den anderen Kantonen Rojavas erhalten. Dies stamme auch aus Erträgen einiger Ölquellen. Das Geld kommt in einen Topf und wird verteilt. In einer Bäckerei arbeitet ein Kollektiv, genauso wie zur Bewirtschaftung des Ackerlandes. Ich finde es spannend, dass die Menschen dort in Kooperativen zusammenarbeiten. In den Camps kann aufgrund der Notsituation nur die Grundversorgung gewährleistet werden.
Kann Erdogan auch deshalb mit voller Unterstützung der westlichen „Wertegemeinschaft“ agieren, weil diese eine in Rojava praktizierte Abkehr vom Kapitalismus fürchtet?
Sicherlich treffen sich an diesem Punkt die Interessen Erdogans mit denen westlicher Demokratien. So ist möglicherweise zu erklären, weshalb die Europäische Union dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Afrin seitens der Türkei nichts entgegensetzt hat. Die Menschen in Rojava konnten gar nicht verstehen, warum die ganze Welt diesem Unrecht tatenlos zugeschaut hat. Sie äußerten, dass sie sich so ein Geschehen niemals hätten vorstellen können. Sie empfanden dies als einen riesengroßen Verrat seitens der internationalen Staatengemeinschaft. Erst recht kommen sie sich belogen und betrogen vor, nachdem sie doch den IS bekämpft hatten – auch im Interesse vieler anderer Staaten. Sie ärgern sich nun, dass sie gehofft hatten, sich auf Bündnispartner wie die USA oder Russland verlassen zu können. Sie vermuten, dass auch dort eine Angst vorherrschen könnte, dass sich ihre basisdemokratischen Überzeugungen weiter verbreiten. Den Menschen in Rojava ist es nie um Vergrößerung gegangen. Sie wollten kein Land erobern, sondern nur die eigene Region verteidigen, um dort selbstbestimmt zu leben.
Hat Erdogan es auf Ölvorkommen in Nordsyrien abgesehen – oder ist hinter den aggressiven Eroberungsfeldzügen Rassismus und Größenwahn zu vermuten?
Die Türkei setzt auf Osmanisches Großmachtstreben. Die Frauenemanzipation stellt dementsprechend für Erdogan ein großes Problem dar. Bei der AKP-Regierung hegt man die Befürchtung, die Demokratisierung dieser Region könnte auch für die türkische Bevölkerung attraktiv sein – insbesondere für die Frauen. Die konkrete Beteiligung der Bevölkerung bei den sie betreffenden Entscheidungen und die Rätedemokratie könnten auch dort als verlockende Ideen wahrgenommen werden. Nach Meinung der Frauen von Kongreya Star ist der Kapitalismus mit wenigen Superreichen und einer breiten Schicht an Armen nicht alternativlos.
Gibt es nicht auch in Rojava Widerstände von Männern, die angesichts erweiterter Frauenrechte eigenen Machtverlust fürchten?
Das haben wir die Frauen dort auch gefragt. So richtig erfreut über die vielfältigen selbstbewussten Aktivitäten der Frauen seien die Männer dort freilich mitunter nicht gewesen, hatten unsere Gesprächspartnerinnen berichtet. Natürlich tobe auch in Rojava der Streit über die Arbeitsteilung: Wer macht die Hausarbeit? Die Erziehung der Söhne werde deshalb mit besonderer Pädagogik angegangen. Auch für Erwachsene gelte es Überzeugungsarbeit zu leisten. In Rojava gibt es Akademien nur für Männer, die sich mit ihrer Männerrolle auseinandersetzen. Dahinter steht die Erkenntnis: Nur unter deren Einbeziehung ist die Emanzipation der Frauen durchzusetzen.
Seit Afrin von der Türkei und den Dschihadisten besetzt ist, hat die mediale Aufmerksamkeit hierzulande für das Thema abrupt geendet. Wie kann sich die Linke dafür einsetzen, dass dieses fortschrittliche demokratische, soziale Projekt in Nordsyrien von grausamen patriarchalischen Invasoren nicht immer weiter zerstört wird?
In der Tat, obgleich es überall im Land Veranstaltungen gibt, um über die Geschichte Rojavas zu diskutieren, scheint in deutschen Mainstream-Medien quasi ein Nachrichten-Stopp zu herrschen. Die Bundestagsfraktion Die Linke wird weiter nachforschen, weshalb die Bundesregierung sich an die Seite eines undemokratischen Patriarchen stellt – und nicht an die der kurdischen Demokratie. Wir stellen dazu Anfragen an die Bundesregierung oder den wissenschaftlichen Dienst des Bundestags. Weil die parlamentarischen Mehrheiten offenkundig andere Prioritäten setzen, gibt es nur eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen: Die außerparlamentarischen Linken hierzulande müssen Druck aufbauen. Bei vielen scheint nicht angekommen zu sein, dass es in Rojava um die Verteidigung einer realisierten linken Utopie geht, die basisdemokratisch aufgebaut ist. Dieses Bewusstsein ist noch zuwenig ausgeprägt.
Wie ist das zu ändern?
Wenn wir wüssten, wie das zu schaffen ist, hätten wir bald nordsyrische Verhältnisse auf der Welt. Denn wir finden diesen demokratischen und emanzipativen Ansatz toll.
Die Autorin
Gitta Düperthal lebt und arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt am Main