Anfang Januar 2022 wurde in Deutschland das Lobbyregister eingeführt. Die Internetplattform abgeordnetenwatch.de erklärt in diesem Zusammenhang:

„Ein Registereintrag ist so etwas wie ein Freifahrtschein, um beim Bundestag oder der Bundesregierung zu lobbyieren. Oder, wie es im Gesetz heißt, um ‚unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss (…) auf den Willensbildungs- oder Entscheidungsprozess‘ nehmen zu dürfen. Mehr als 32.000 Personen sind dazu dank eines Eintrags im Register berechtigt. (…) Ob und wie intensiv sie Lobbyarbeit betreiben, lässt sich im Register nicht sehen: Lobbygespräche mit der Regierung oder Abgeordneten müssen Interessenvertreter:innen hierzulande nicht offenlegen. Das ist nicht der einzige blinde Fleck im deutschen Register. Recherchen von abgeordnetenwatch.de zeigen, dass ehemalige Spitzenpolitiker:innen selbst dann bei der Bundesregierung lobbyieren können, wenn sie nicht im Register stehen. Ein solcher Fall ist Sigmar Gabriel.“

Schuld daran, so abgeordnetenwatch.de, sei eine Gesetzeslücke, die Aufsichtsratsmitglieder von Unternehmen von einer Eintragungspflicht im Lobbyregister befreie. Auch der frühere SPD-Chef und ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel konnte deshalb seine Aktivitäten als Industrielobbyist im Kanzleramt ganz legal geheim halten – im Lobbyregister steht sein Name bis heute jedenfalls nicht.

Im April 2023 wurde Gabriel als Vertreter der Anteilseigner in den Aufsichtsrat von Thyssen-Krupp Steel Europe berufen und zum neuen Vorsitzenden gewählt. „In den kommenden Monaten und Jahren stehen wegweisende Entscheidungen mit wirtschaftlicher, industriepolitischer und umweltbezogener Relevanz an“, sagte Gabriel damals (Handelsblatt vom 7. April 2023). Nirgendwo, zitiert die Zeitung den Lobbyisten Gabriel weiter, könne man exemplarisch so überzeugend zeigen wie beim Stahl, dass wirtschaftlicher Erfolg und Nachhaltigkeit in der Klimapolitik in Deutschland zusammengebracht werden könnten. Laut Handelsblatt steht die Stahlindustrie mit der Umstellung auf eine klimafreundliche Produktion tatsächlich vor dem größten Umbau ihrer Geschichte.

In seiner Funktion als Industrielobbyist soll sich Gabriel laut abgeordnetenwatch.de im vergangenen Jahr mehrfach mit Entscheidungsträgern im Kanzleramt getroffen haben, einmal auch mit Bundeskanzler Olaf Scholz selbst. Offensichtlich nicht ohne Erfolg. Wirtschaftsminister Habeck eilte im Juli 2023 persönlich ins Ruhrgebiet und überreichte dem Chef der Stahlsparte des Konzerns Thyssen-Krupp die frohe Botschaft: Der Konzern wird bei der klimafreundlichen Umstellung der Stahlproduktion mit insgesamt zwei Milliarden Euro gefördert (Handelsblatt vom 26. Juli 2023).

Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol erklärte, es sei ein langer Weg gewesen. Fast zwei Jahre habe es gebraucht, um den Förderbescheid zu erhalten. Nasikkol appellierte an die Politik, den Konzern bei der weiteren Transformation des Stahlstandortes zu unterstützen.  „Als Dankeschön für den Förderbescheid überreichte Nasikkol dem Bundeswirtschaftsminister ein Herz aus Stahl, gefertigt im Stahlwerk in Duisburg.“ (Handelsblatt, ebd.)

Quellen:

Martin Reyher: „Diese Liste zeigt, für wen über 100 Ex-Politiker:innen heute arbeiten“, abgeordnetenwatch.de, 21. Juli 2023

https://www.abgeordnetenwatch.de/recherchen/lobbyismus/diese-liste-zeigt-fuer-wen-ueber-100-ex-politikerinnen-heute-arbeiten

„Sigmar Gabriel neuer Aufsichtsratschef bei Thyssen-Krupp Steel Europe“, Handelsblatt vom 7. April 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/ehemaliger-bundeswirtschaftsminister-sigmar-gabriel-neuer-aufsichtsratschef-bei-thyssen-krupp-steel-europe/28236178.html

Isabelle Wermke/Julian Olk: „Thyssen-Krupp erhält Milliardenförderung“, Handelsblatt vom 26. Juli 2023

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/gruene-stahlproduktion-thyssen-krupp-erhaelt-milliardenfoerderung/29278802.html