„Unsere Bücher informieren, provozieren, nehmen Stellung, eröffnen neue Blickwinkel, greifen in eine aktuelle Debatte ein oder lösen sie aus und erweitern den Horizont des Lesers.“ So heißt es auf der Webseite des Econ-Verlags, der am 25. November 2020 seinen 70. Jahrestag beging. Auf den ersten Blick überrascht es, dass er zum Unternehmensjubiläum ausgerechnet Ludwig Erhards angestaubten Klassiker „Wohlstand für alle“ aus dem Jahr 1957 im schwarz-gelben Originalumschlag neu auflegte. [1] Das Buch wurde bislang in 14 Sprachen übersetzt und verkaufte sich mit insgesamt 250.000 Exemplaren hervorragend. Tatsächlich beziehen sich auch heute manche Politiker*innen aller Couleur positiv auf den angeblichen Erfinder der „sozialen Marktwirtschaft“ ‒ von CDU- und FDP-Mandatsträger*innen über Sarah Wagenknecht (Die Linke) und Lisa Paus (finanzpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen). [2]

„Dabei sind eigentlich nur die Passagen über den Kampf zwischen Plan- und Marktwirtschaftlern heute noch lesenswert“, schreibt selbst das wirtschaftsliberale Handelsblatt. „Ansonsten lässt der Inhalt des Buchs sich in einem Satz bündeln: Wohlstand wächst von allein, wenn der Staat den Wettbewerb schützt und keine Umverteilungspolitik betreibt. Erhard polemisiert gegen den ‚modernen Wahn‘ eines Versorgungstaats, der das Individuum zum ‚sozialen Untertan‘ mache, und sagt voraus, seine ‚Marktwirtschaft moderner Prägung‘ werde das Auf und Ab des Konjunkturzyklus überwinden. Dann sei ‚Entscheidendes für die Mehrung des Wohlstandes aller gewonnen‘.“ [3]

In den vergangenen Jahren bereits wurde der „Mythos Erhard“ bereits von mehreren Autor*innen auseinandergenommen.

Die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann etwa schreibt über Erhard:

„Er gilt als der Vater der Währungsreform und soll mit seinem Buch ‚Wohlstand für alle‘ angeblich ein theoretisches Meisterwerk hinterlassen haben. In diesem Heldennarrativ ist Erhard ein überragender Ökonom und Staatsmann, der Deutschland aus tiefster Not gerettet hat. Nichts davon stimmt. Erhard war weder ein interessanter Theoretiker noch ein besonders befähigter Praktiker, sondern vor allem ein geschickter Opportunist und Lobbyist.“ [4]

Die deutsche Mark sei keine westdeutsche Erfindung, führt Herrmann an anderer Stelle aus, sondern wurde von den US-Amerikanern durchgesetzt. Auch hätte es ein rein bundesdeutsches ‚Wirtschaftswunder‘ nicht gegeben – denn fast alle westeuropäischen Staaten wären rasant gewachsen. „Und die ‚soziale Marktwirtschaft‘ war ebenfalls ein Märchen, denn die Bundesrepublik war nie besonders sozial; und eine ‚Wirtschaftsreform‘ hatte nach dem Krieg auch nicht stattgefunden.“ [5]

Diese Sicht auf Erhard bestätigt der Historiker Uwe Fuhrmann:

„Die ‚soziale Marktwirtschaft‘ erfreut sich allgemeiner Beliebtheit, auch weil oft geglaubt wird, dass damit Sozialpolitik gemeint sei. Dies ist jedoch ein fundamentales Missverständnis: Ludwig Erhards Programm lässt sich durchaus als neoliberal bezeichnen. Der Markt hatte bei ihm immer recht. Die Idee war, dass der Wettbewerb zu niedrigen Preisen führe, von denen Kunde König dann profitieren würde. Oder wie Ludwig Erhard es ausdrückte: ‚Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er sozial gemacht werden muss.‘ Sozialpolitik hat in diesem Verständnis keinen Platz.“ [6]

Zur Zeit der Währungsreform im Juni 1948 war Erhard Wirtschaftsdirektor der Bizone. [7] Im Rahmen seiner Politik der „freien Marktwirtschaft“ verfügte er, fast alle Preise freizugeben. Nur Mieten, Energie, Verkehrsmittel und ein paar Grundnahrungsmittel blieben weiterhin staatlich gedeckelt. Wenig überraschend kam es zu einem starken Preisanstieg, der vor allem arme Haushalte traf. „Erhard reagierte mit dem neoliberalen Mantra, die Preise würden sich mit der Zeit schon ‚einpendeln‘. Das taten sie nicht. (…) Schnell regte sich Unmut. Marktstände wurden geplündert, und Hausfrauen ‚sozialisierten‘ die besonders begehrten Eier. Große ‚Kaufstreiks‘ wurden durchgeführt, um die Händler zu Preisnachlässen zu bewegen, und in fast allen Städten kam es zu Protestdemonstrationen.“ [8]

Der Höhepunkt des Protests ereignete sich am 12. November 1948 mit dem ersten und bislang letzten Generalstreik in Deutschland: Über neun Millionen Menschen legten für 24 Stunden die Arbeit nieder, obwohl nur vier Millionen einer Gewerkschaft angehörten und es auch kein Streikgeld gab.

„Es war dieser politische Aufruhr“, erläutert Fuhrmann, „der die Verantwortlichen veranlasste, sich wirtschaftspolitisch und diskursiv von der ‚freien Marktwirtschaft‘ zu verabschieden: Erhard und andere CDU-Verantwortliche zogen panisch die Notbremse. Durch verschiedene Hintertüren wurden Preisbindungen wieder eingeführt. (…) Erhards ‚freie Marktwirtschaft‘ war damit vorerst aufgegeben. Just in diesem Moment tauchte der Begriff ‚soziale Marktwirtschaft‘ erstmals in der Öffentlichkeit auf. Zur Ironie der Geschichte gehört, dass die Forderung nach ‚sozialer Marktwirtschaft‘ im Herbst 1948 gegen Erhard und seine Agenda gerichtet war. Denn mit diesem Slogan forderten die SPD, die Gewerkschaften und die Sozialausschüsse der CDU eine deutliche Kursänderung und eine sozial orientierte Wirtschaftspolitik. (…) Durch die Kräfteverhältnisse auf der Straße und in der CDU dazu gezwungen, schwenkte schließlich auch Erhard widerwillig auf die ‚soziale Marktwirtschaft‘ um.“ [9]

Darstellungen wie die von Ulrike Herrmann und Uwe Fuhrmann, die mit der Ikonisierung Ludwig Erhards und den Gründungsmythen der Bundesrepublik aufräumen, verdeutlichen einmal mehr, dass „die freie Welt“ auf Konkurrenz gründet. So huldigt auch der Econ-Verlag auf seiner Webseite dem Wettbewerbsgedanken in seiner Buchankündigung: „Der Titel des Buches ‚Wohlstand für Alle‘ ist zu einem verbreiteten Slogan geworden. (…) Und in der Tat sind seine beiden Kernideen bis heute aktuell und gültig: Die freie Wirtschaft muss vor staatlichen Eingriffen sowie vor Kartellen und Monopolen geschützt werden und die überkommene Situation einer dünnen Oberschicht, die einer breiten Unterschicht gegenübersteht, muss durch Wettbewerb überwunden werden.“

Anmerkungen:

[1] Das Buch schrieb allerdings ein Ghostwriter, der Handelsblatt-Redakteur Wolfram Langer. Zum Dank für seine Arbeit stieg dieser dann zum Leiter der Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium auf. Ludwig Erhard (1897 bis 1977) war von 1945 bis 1946 Wirtschaftsminister in Bayern, von 1948 bis 1949 Direktor für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes (Bizone), und von 1949 bis 1963 Bundesminister für Wirtschaft. Außerdem fungierte er von 1957 bis 1963 als Vizekanzler und von 1963 bis 1966 als zweiter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Weithin gilt er als „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, der der entstehenden Bundesrepublik die „soziale Marktwirtschaft“ beschert hat.

[2] vgl. „‚Wer Erhards Anspruch ernst nimmt, müsste die Linke wählen‘“: Interview von Christian Schlesiger mit Sarah Wagenknecht, Wirtschaftswoche vom 22. Juni 2017
https://www.wiwo.de/politik/deutschland/sahra-wagenknecht-wer-erhards-anspruch-ernst-nimmt-muesste-die-linke-waehlen/19970036.html

Sarah Wagenknecht: „Der Kompromisslose“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Mai 2014
https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-weltverbesserer/ludwig-erhard-der-kompromisslose-12933218.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Lisa Paus: „Ludwig Erhard wäre heute für die sozial-ökologische Marktwirtschaft“ (Gastbeitrag für die Wirtschaftswoche), 9. März 2020
https://lisa-paus.de/2020/mein-gastbeitrag-in-der-wirtschaftswoche-ludwig-erhard-waere-heute-fuer-die-sozial-oekologische-marktwirtschaft/

[3] Michel Brackmann: „Hat uns Ludwig Erhards ‚Wohlstand für alle‘ heute noch etwas zu sagen?“, Handelsblatt vom 20. November 2020
https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/wirtschaftsbuch-klassiker-hat-uns-ludwig-erhards-wohlstand-fuer-alle-heute-noch-etwas-zu-sagen/26638916.html

[4] Ulrike Herrmann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung, Bonn 2017, Seite 210

[5] dies.: „Mythos Erhard: Die Legende vom deutschen Wirtschaftswunder“, Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2020, Seite 86
https://www.blaetter.de/ausgabe/2020/januar/mythos-erhard-die-legende-vom-deutschen-wirtschaftswunder

[6] Uwe Fuhrmann: „Die Ironie der Geschichte“, taz vom 10. Mai 2019
https://taz.de/70-Jahre-soziale-Marktwirtschaft/!5591244&s=fuhrmann/

[7] Als Bizone bezeichnete man die von britischen und US-Truppen besetzten westdeutschen Gebiete, die später den Großteil der alten Bunderepublik ausmachten.

[8] Uwe Fuhrmann: „Die Ironie der Geschichte“, taz vom 10. Mai 2019
https://taz.de/70-Jahre-soziale-Marktwirtschaft/!5591244&s=fuhrmann/

[9] ebd.

Weitere Literaturtipps:

Ukrike Herrmann: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind, Frankfurt/M., 2019

Rudolf Walther: „1949: Legendenversessen“, Der Freitag vom 6. Juni 2019
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/1949-legendenversessen