Der demokratische Gouverneur des US-Bundesstaats Nevada hat nach Presseberichten einen Gesetzentwurf ausarbeiten lassen, der Firmen aus Zukunftsbranchen (Robotik, künstliche Intelligenz, Biometrie) erlauben soll, ganze Städte in sogenannten Innovationszonen neu aufzubauen. Dort sollen anstelle der öffentlichen Verwaltungen und Bürgermeister die investierenden Unternehmen staatliche Hoheitsbefugnisse übernehmen. Diese könnten dann etwa Steuern erheben und wären für Justiz, Polizei, Schulen, Gerichtsbarkeit, Arbeitsämter und Kindergärten zuständig.

Voraussetzung für die Schaffung einer solche Innovationszone ist, dass die Unternehmen mindestens 200 Quadratkilometer von noch nicht erschlossenem und unbewohntem Land außerhalb bestehender Städte kaufen. Die Interessenten müssen außerdem mindestens 250 Millionen US-Dollar besitzen und sind verpflichtet, innerhalb von zehn Jahren eine Milliarde Dollar in das Projekt zu investieren. Die Staatsgewalt würde dann nach einer gewissen Zeit von der bestehenden Gebietskörperschaft (County) auf die Unternehmen übergehen. Im Bundestaat Nevada würden so kleine staatliche Enklaven ohne jede demokratische Legitimation entstehen.

Begründet wird das Vorhaben damit, dass die bisherigen kommunalen Verwaltungen und die üblichen Anreizsysteme aus Steuererleichterungen und Subventionen es nicht mehr schaffen würden, wichtige Zukunftstechnologien nach Nevada zu holen. Deshalb sollen „alternative Regierungsformen” das traditionelle Modell der Kommunalverwaltung ersetzen. So kaufte der Chef des Konzerns Blockchains, Jeffrey Berns, bereits im Jahr 2028 eine 270 große unbewohnte Landfläche im Westen Nevadas. Dort soll eine unternehmenseigene „Smart City” entstehen, die vollständig auf Blockchain-Datenspeichertechnologie basiert.

Der Berliner Tagesspiegel kommentiert dies Vorhaben wie folgt:

„Zur Idee, vielmehr Ideologie, der Smart City gehört die Verschmelzung des Bürgers mit dem Kunden und Nutzer ausgeklügelter Dienstleistungen. Der Bürger, wie man ihn hierzulande noch kennt, ist in der Hightech-Stadt von morgen, in Berns‘ privater Kommune, eine Figur von gestern. Wenn seine Umgebung sensorüberwacht ist, dann sind bloß noch des Bürgers Gedanken frei; denn seine Bewegungen, seine Tätigkeiten, die Benutzung seiner Waschmaschine und seiner Klimaanlage bedienen den gigantischen Datenhunger einer hochintelligenten Stadtmaschine, die alles optimiert: Verkehrsmittelnutzung, Energieversorgung, Müllentsorgung, die polizeiliche Bestreifung des öffentlich-privaten Raums.“ (Tagesspiegel vom 14. Februar 2021)

Die Berichte aus den USA erinnern an Pläne des US-Ökonomen Paul Romer, der schon vor Jahren „mit Retortenstädten die Entwicklungshilfe revolutionieren“ wollte (Handelsblatt vom 12. Mai 2010). Unbesiedelte Gebiete in Entwicklungsländern sollten in staatenlose Sonderzonen, sogenannten „Charter Cities“, umgewandelt werden. Für Rechtssicherheit und Verwaltung hätten westliche Partnerländer sorgen sollen. Nach Romer wären dies ausreichende Bedingungen, um Investoren und Menschen in die „Charter Cities“ zu locken und eine ungeahnte Wachstumsdynamik auszulösen. Für den Vorschlag, westliche Partnerstaaten in den Sonderzonen über Gesetze und Regeln wachen zu lassen, wurde der Ökonom von politischen Gegnern als Neokolonialist bezeichnet.

Thomas Wagner beschrieb im Jahr 2010 Romers Grundidee in der jungen Welt:

„Ein finanzschwacher Staat des Südens stellt westlichen Staaten aus freien Stücken eine nicht besiedelte Fläche seines Territoriums für die Neugründung einer Stadt zur Verfügung und tritt die Souveränitätsrechte an diesem Gebiet für eine vertraglich festgelegte Zeitdauer an diese Staaten ab. Diese steuern Gelder und administrative Leistungen bei. Eine Entwicklungsbehörde wird vereinbart, die für die Gesetzgebung und die Einhaltung der Ordnung zuständig ist. Sobald auf diese Weise für Rechtssicherheit und den Schutz des Eigentums gesorgt ist, können Privatleute in Handelsniederlassungen und industrielle Produktionsstätten investieren und Arbeiter aus den Armutsregionen des Gastgeberstaates in die neue Stadt zuwandern. Die dort tätigen westlichen Unternehmen profitieren von den Niedriglöhnen in der Region. Viele Bewohner von Charter Cities sollen dort ihren ersten regulären Job finden können. Worauf sie freilich verzichten müssen, sind elementare politische Rechte und Freiheiten. ‚Demokratisch soll es in den Reißbrettmetropolen nicht zugehen‘, berichtete die Zeitschrift Capital, freilich ohne sich allzu sehr daran zu stören: ‚Die Bewohner dürfen nur mit den Füßen abstimmen. Und die Lokalpolitiker vor Ort sollen einen ähnlichen Spielraum erhalten, wie etwa Notenbanker ihn genießen.‘“ (junge Welt vom 27. April 2010)

Paul Romer erhielt im Jahr 2018 für seine „Innovationsforschung“ den Wirtschaftsnobelpreis. Sebastian Gerhardt kommentierte die Auszeichnung damals mit folgenden Worten:

„Was Paul Romer alles dem kapitalistischen Fortschritt zu opfern bereit ist, das ist angesichts der aktuellen Würdigung kein Thema. Deshalb eine kleine Erinnerung. (…) Paul Romer, Professor der Wirtschaftswissenschaften in New York, hatte sich vor Jahren mit seinen Modellen zur Entstehung von Innovationen im Kapitalismus einen großen Namen gemacht. Der technische Fortschritt sollte nicht mehr ‚wie Manna vom Himmel‘ fallen, sondern sich aus Investitionen in Humankapital und dem freien Markt ergeben. So entwickeln sich die Ideen, die die Welt besser machen. Leider musste der Professor feststellen, dass die wirkliche Welt seinen fortschrittlichen Ideen nicht ganz entspricht. Weitverbreitete Armut führte ihn aber nicht dazu, den Glauben an seine Modelle und an den Markt aufzugeben. Sondern er stellte fest, dass leider in der Welt zu wenig von der Ordnung herrscht, in der sich der Wettbewerb gut entwickeln kann. So entwarf er einen neuen Gesellschaftsvertrag, ein Modell einer gänzlich frei und privat entwickelten Stadt: die Charter City (…). Vor allem für die Dritte Welt, in der noch immer Kriminalität und Korruption herrschen, sollten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. (…)

Wie die meisten Utopisten hatte auch Paul Romer ein großes Vorbild: die Stadt Hongkong. Aus ein paar Inseln mit Fischern wurde in den Jahren der britischen Herrschaft ein prosperierendes Zentrum, weil die Briten die richtige Verwaltung und gute Regeln eingeführt haben. Und auf die kommt es an, nicht auf die falschen Lehren von Selbstverwaltung und Demokratie. Sondern auf den Rechtsstaat, der alle gleich behandelt und ihnen damit ihre Chance gibt. Die Autorität des Rechts, die Achtung vor der Person und dem Eigentum des anderen, ist entscheidend. Investoren würden sich ansiedeln und Arbeitsplätze bieten, auf denen sich auch schlecht ausgebildete Personen in einfacher Arbeit bewähren, ihr Einkommen sichern und ihr Humankapital mehren können: Learning by doing. Und irgendwann, wenn sich alle eingewöhnt haben, darf auch gewählt werden.

Eine Eingewöhnungsphase ist aber nötig, immerhin soll die neue Idealstadt vor allem eines sein: neu. Ohne Rücksichten, ohne irgendwelche überkommenen Strukturen! Wie jede echte Utopie lebt auch die Charter City von der Illusion, man könnte einfach mal ganz von vorne anfangen und diesmal alles richtig machen. Nur eine Struktur soll selbstverständlich aus der Vergangenheit übernommen werden: das Eigentum. (…) Eine Arbeitslosenversicherung sieht der Professor nicht vor – in Anbetracht der guten Investitionsbedingungen sieht er hier wohl keine Schwierigkeiten. Wer trotz der tollen Möglichkeiten scheitert, hat ein privates Problem.“ (Sebastian Gerhardt, 9. Oktober 2018)

 

Quellen:

Daniel AJ Sokolov: „Nevada will lokale Regierungsmacht an Tech-Firmen abtreten – samt Gericht“, Heise Online, 8. Februar 2021 

https://www.heise.de/news/Nevada-will-lokale-Regierungsmacht-an-Tech-Firmen-abtreten-samt-Gericht-5048204.html

Claus Hulverscheidt: „Meine Firma, meine Stadt“, Süddeutsche Zeitung Online, 8. Februar 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-technologie-libertarismus-1.5199920

Werner van Bebber: „Hätte die Blockchain-City ein Corona-Problem?“, Tagesspiegel Online, 14. Februar 2021 

https://www.tagesspiegel.de/politik/intelligente-staedte-haette-die-blockchain-city-ein-corona-problem/26914456.html

Johannes Pennekamp: „Der Stadtplaner als Welt-Retter“, Handelsblatt Online, 12. Mai 2010

https://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/oekonomie/nachrichten/entwicklungsoekonomie-der-stadtplaner-als-welt-retter/v_detail_tab_print/3434790.html

Thomas Wagner: „Dreiste Landnahme“, junge Welt Online, 27. April 2010

https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/143514.dreiste-landnahme.html

Sebastian Gerhardt: „Nobelpreiswürdig? Mahagonny reloaded“, 9. Oktober 2018

https://planwirtschaft.works/2018/10/09/nobelpreiswurdig-mahagonny-reloaded/