Vor fast acht Jahren wurde der „Dieselskandal“ aufgedeckt, seit zweieinhalb Jahren müssen sich der frühere Audi-Chef Rupert Stadler sowie weitere Ex-Manager des Autokonzerns vor Gericht verantworten. „Der Vorwurf: Die Manager hätten betrogen. Sie hätten entweder Diesel-Autos entwickeln lassen, deren Abgasreinigung sich nur ordentlich einschaltete, wenn die Wagen auf dem Prüfstand waren. Oder sie hätten – im Falle Stadler – zumindest seit dem Herbst 2015 davon gewusst und den Verkauf solcher Wagen dennoch nicht unterbunden. Gewerbsmäßiger Betrug durch Unterlassen heißt das auf Juristendeutsch.“ (Die Zeit vom 17. Mai 2023)

Mitte Mai 2023 legte Stadler nun im Rahmen einer Absprache mit dem Landgericht München II ein Geständnis ab – nachdem er über die gesamte Prozessdauer alle Vorwürfe bestritten hatte. Vor allem, dass er trotz Kenntnis der Manipulationen nichts dagegen unternommen habe, dass weiter schmutzige Diesel als sauber verkauft wurden.

Auszüge aus Zeitungskommentaren:

Henning Peitsmeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

„Rupert Stadler kommt glimpflich davon. Der frühere Audi-Chef, der sich im Dieselskandal des Betrugs schuldig bekannt hat, erhält eine Bewährungsstrafe. Immerhin, muss man nach 168 Verhandlungstagen konstatieren. Denn lange hatte es so ausgesehen, als könne dem prominentesten der vier Angeklagten vor dem Landgericht München nichts nachgewiesen werden. Zu komplex waren die Ermittlungen, zu schleppend verlief die Beweisaufnahme (…). Dass Stadlers Geständnis nur durch einen Deal zustande kam, mag bedauerlich sein. Aber es ist das erste Mal, dass ein früherer Vorstand zugibt, von den Dieselmanipulationen im Volkswagen-Konzern gewusst zu haben. Das kann bedeutend sein für alle laufenden und künftigen Strafverfahren.“

Thomas Fromm, Klaus Ott und Stephan Radomsky in der Süddeutschen Zeitung:

„Und jetzt? Räumt er eben doch alles ein und will auch 1,1 Millionen Euro bezahlen. Im Gegenzug darf er mit einer Bewährungsstrafe rechnen. Das ist der Deal, den das Gericht ausgehandelt hat mit Stadlers Anwälten und dem auch die Staatsanwaltschaft zugestimmt hat. Ein gigantischer Wirtschaftsskandal, Millionen getäuschter Kunden in aller Welt, Milliarden Euro an Strafzahlungen für den Konzern – und der einzige Top-Manager, der dafür bisher vor Gericht stand, kommt mit so einem milden Urteil davon? Mit dem Segen der Ankläger? (…)
Für VW war die Rechnung klar: Je weniger Schuld ganz oben lag, desto besser war es für die Abwehr von Schadensersatzansprüchen. Das gilt bis heute vor allem für den Prozess von zahlreichen Aktionären beim Oberlandesgericht Braunschweig, die einen Ausgleich dafür fordern, dass sie vom VW-Vorstand zu spät über die Abgasprobleme informiert worden seien. Streitwert: mehr als vier Milliarden Euro. Der Prozess läuft ziemlich zäh. Und Stadlers Geständnis hilft den klagenden Investoren auch nicht. Zwar saß er als Audi-Chef auch mit im VW-Vorstand. Sein Geständnis aber gilt nur für die Zeit ab 2016, als Audi schmutzige Diesel-Autos weiter als vermeintlich saubere Fahrzeuge verkaufte. Bei den Aktionärsklagen geht es dagegen um die Zeit vor September 2015, als US-Behörden die Abgasmanipulationen öffentlich machten.“

René Bender im Handelsblatt:

„Am Ende schickte Rupert Stadler seine Verteidigerin vor. Die Anwältin verlas für den wegen Betrugs angeklagten früheren Audi-CEO dessen Geständnis. Fünf Wochen lang hatte Stadler überlegt, ob er im ersten deutschen Strafprozess um den Dieselskandal den Vorschlag des Gerichts annehmen würde: eine noch zur Bewährung ausgesetzte Strafe gegen ein umfängliches Geständnis und eine Geldauflage. (…) Nun folgten lediglich ein paar dürre Sätze dazu, dass Stadler von den Manipulationen an den Motoren zwar nichts gewusst, sie aber zumindest billigend in Kauf genommen habe. Und dass er dies sehr bedauere.
Die Hürde des Gerichts hat er damit zwar übersprungen, wirklich glaubwürdig ist seine Haltung aber nicht.
Die späte Kehrtwende ist das eine. Die Art und Weise, wie zwei Führungskräfte in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale am Ende des ersten Strafprozesses Verantwortung übernehmen, ist das andere. Insbesondere Stadler, der unter anderem elf Wohnungen und zwei Häuser besitzt, feilschte bis zum Schluss um die Höhe der Geldauflage.
Dann schaffte es der Mann, der einst gar als möglicher Nachfolger an der VW-Spitze galt, nicht einmal, sein Geständnis selbst zu erklären (…). Das lässt nicht nur Glaubwürdigkeit vermissen. Es ist auch kein gutes Signal für die weitere Aufarbeitung im Dieselskandal. Im nächsten Diesel-Strafprozess sollten die Richter einen Verständigungsvorschlag weit früher machen oder ihn sich ganz sparen.“

Kai Schöneberg in der taz:

„Der Deal zeigt, dass die deutsche Justiz wieder gescheitert ist. Zwei Jahre Haft auf Bewährung und 1 Million Euro Strafe: Dazu wurde vor 14 Jahren der einstige Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung verurteilt, ein ähnliches Strafmaß winkt nun Rupert Stadler, bis 2018 Audi-Boss. Beide haben gestanden. Zumwinkel damals seine Steuerhinterziehung, Stadler am Dienstag, dass er auch noch nach dem Auffliegen des ‚Dieselgates‘ im September 2015 weiter Autos verkaufte, die so manipuliert waren, dass sie auf dem Prüfstand weniger Stickoxide ausstießen als auf der Straße.
Betrug durch Unterlassung wird es im wohl vergleichsweise läppischen Urteil gegen Stadler heißen, das bald erwartet wird. Der ‚Deal‘ mit dem Gericht – Geständnis gegen milde Strafe – wird einen weiteren Beweis dafür erbringen, wie die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung eines der größten Wirtschaftsskandale gescheitert ist.
Das zeigten schon die Strafverfahren gegen die VW-Vorstände Herbert Diess und Hans Dieter Pötsch, die gegen Geldauflagen eingestellt wurden. Auch der zusammen mit Stadler angeklagte Motorenentwickler Wolfgang Hatz kann nach seinem Geständnis mit Bewährung rechnen. Gegen viele Chefs von Mercedes, Porsche oder Bosch wurde ermittelt, dann aber wurden sie nicht angeklagt. (…)
Millionenfacher systematischer Betrug und Kuschelstrafen – das passt aber nicht zusammen. Die deutsche Justiz setzt mit dem Stadler-Deal einen weiteren Haken in der unendlich zähen, für Umwelt und betroffene Kunden völlig unbefriedigenden Aufarbeitung einer der größten Wirtschaftsaffären der Nachkriegsgeschichte. (…)
Nicht mal die Staatsanwaltschaft warf Stadler nach 30 Monaten Verhandlung noch vor, von allem gewusst zu haben. Dabei gilt Audi als Keimzelle des Skandals. Ein weiterer Skandal liegt darin, dass das deutsche Rechtssystem solche evident kriminellen Handlungen nicht adäquat ahndet.“

Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau:

„Betrug durch Unterlassung: Der Ex-Audi-Chef räumt die Vorwürfe im Dieselskandal ein.
Rupert Stadler brachte die Worte nicht selbst über die Lippen. Der Ex-Chef von Audi hat gestehen lassen. Wenige Minuten lang trug Anwältin Ulrike Thole-Groll am 168. Tag des Münchner Audi-Betrugsprozesses eine Erklärung vor, die ein Gerichtssprecher später ein voll umfängliches Geständnis nennen sollte. Auch Richter Stefan Weickert und die Staatsanwaltschaft sahen es so. Für nicht juristisch Geschulte war dabei nicht leicht zu erkennen, dass der 60-jährige gerade Betrug durch Unterlassung zugegeben hatte. ‚Ich habe die Vorwürfe insgesamt einzuräumen‘, erklärte Thole-Groll im Namen ihres ohne erkennbare Regung neben ihr sitzenden Mandanten. Der ließ auch mitteilen, dass er alles sehr bedauere, wobei Reue nicht gerade in sein Gesicht geschrieben stand.
‚Es war ein bemerkenswertes Geständnis‘, meinte Gerichtssprecher Laurent Lafleur. Erstmals habe ein Angeklagter in der hohen Position eines ehemaligen Vorstandschefs eingeräumt, im Dieselskandal Unrecht getan und vorsätzlich gehandelt zu haben. Man musste allerdings viel juristisches Feingespür mitbringen, um das aus den Worten herauszuhören, die Stadler von seiner Strafverteidigerin verlesen ließ. (…)
Auch zum Vorwurf der Unterlassung äußerte sich Stadler sehr verklausuliert. Er habe feststellen müssen, unterlassen zu haben, dafür Sorge zu tragen, dass Käufer der Fahrzeuge über eine möglicherweise in ihnen verbaute Fehlfunktion informiert wurden, ließ er mitteilen. Jurist:innen haben indessen eine Erklärung für diese Art von Geständnis. Denn im jetzt zu Ende gehenden Strafprozess ist es für Stadler zwar Garant dafür, nicht ins Gefängnis zu müssen. Diese Zusage hatte er vorab von Richter Weickert erhalten. Bei einem allzu freimütigen Geständnis bestünde aber die Gefahr, dass dadurch Schadenersatzklagen begünstigt werden, merkt ein Verbraucheranwalt an. Die relativierenden Einschränkungen, die jetzt ins Geständnis eingeflochten wurden, erschweren das.“

Martin Seiwert in der WirtschaftsWoche:

„Ex-Audi-Chef Rupert Stadler will in seinem Prozess wegen manipulierter Audis einer Haftstrafe entgehen und hat deshalb am Dienstagmorgen etwas verlesen lassen, das ein Geständnis sein soll. Bei genauerem Hinsehen aber ist es – eine Manipulation. (…)
Ich habe kürzlich über die ‚Kehrtwende‘ des Ex-Audi-Chefs in seinem Strafverfahren geschrieben. Ich gestehe, das war falsch. Was sich am Dienstag am Landgericht München II abspielte, war keine Kehrtwende. Höchstens ein Kehrtwenderl. Eigentlich ist Stadler bloß abgebogen, nicht gewendet. Ich gestehe, ich hätte das zumindest ahnen können und nicht vollmundig eine Kehrtwende ankündigen dürfen.
Was das Gericht zu hören bekam, war schon von der Form her bestenfalls ein Kehrtwenderl – Stadler sprach die Worte nicht selbst, sondern ließ sie von seiner Anwältin vortragen – und inhaltlich sowieso: ‚Ich sehe für mich ein, dass es ein Mehr an erforderlicher Sorgfalt bedurft hätte‘, sprach die Anwältin.

Herr Stadler war also nicht immer und überall optimal sorgfältig? Das ist kein Geständnis. Das ist ein Allgemeinplatz. Können wir streichen.
Weiter im Text: Dass Fahrzeuge manipuliert worden seien und dadurch Käufer geschädigt worden seien, ‚habe ich zwar nicht gewusst, aber als möglich erkannt und billigend in Kauf genommen‘. Der Mann, der zweieinhalb Jahre lang mit Verve behauptet hat, dass er nicht wusste, dass die Fahrzeuge illegal manipuliert waren, macht im Geständnis trotzig weiter: ‚Ich habe es nicht gewusst‘.

Aber weil Stadler ja unbedingt einer Haftstrafe entgehen will, musste doch noch etwas angefügt werden, das sich zumindest nach Geständnis anhört: Stadler hat die Manipulation ‚als möglich erkannt‘. (…)
So bleibt als wirklich einzige neue Erkenntnis nach dem Kehrtwenderl von München: Stadler gibt zu, er hätte etwas genauer hinschauen müssen, bevor er die Autos verkaufen ließ. Oder lassen Sie es mich so ausdrücken: Sogar ein so gründlicher, erfahrener und erfolgreicher Automanager wie Herr Stadler ist nicht ganz perfekt.
Das ist kein Geständnis. Aber es sieht ein wenig danach aus. So wie die Diesel von Audi im Verkaufsprospekt mal wie ein Beitrag zu Klimaschutz und Luftreinhaltung aussahen.“

Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung:

„Noch bis vor wenigen Jahren galt dies als schmutziges Geheimnis der Justiz. Nur unter Pseudonym brach ein Anwalt (…) in einem Fachaufsatz das Schweigen. In Wirtschaftsprozessen, so schrieb er, sei die unterfinanzierte Justiz oft schlicht überfordert mit jahrelanger Beweisführung. Also werde gefeilscht. Ein schnelles Geständnis gegen großzügigen Strafverzicht. (…)
Wenn jetzt der frühere Audi-Chef Rupert Stadler in seinem Betrugsprozess gesteht, nachdem er vorher haarklein eine mildere Bewährungsstrafe für sich aushandeln konnte, dann ist das ein kleiner Fortschritt für den Rechtsstaat, der mit seinen Aufklärungsbemühungen sonst vielleicht noch jahrelang festgesteckt hätte. (…) Um einen Beschuldigten zu bewegen, gegen andere auszupacken, musste der Staat ihm schon immer etwas anbieten. (…)
Aber es sollte einem klar sein: Ein Rupert Stadler weiß, dass das, was er an Informationen hat, wertvoll ist. Und er lässt sich das vom Gericht vergüten. Der Strafprozess ist dann eine weitere Transaktion. Wohl dem, der dabei mit so einer starken Verhandlungsposition gesegnet ist. Es ist ein Recht des Stärkeren.“

Quellen:

Max Hägler: „Es bleibt schmutzig“, Die Zeit (Print) vom 17. Mai 2023

Henning Peitsmeier: „Ende in Sicht“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Print) vom 17. Mai 2023

Thomas Fromm/Klaus Ott/Stephan Radomsky: „Das Geständnis“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023

René Bender: „Stadlers unglaubwürdiges Geständnis“, Handelsblatt (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-stadlers-unglaubwuerdiges-gestaendnis-/29155016.html

Kai Schöneberg: „Ein Deal, aber keine Gerechtigkeit“, taz (Online) vom 16. Mai 2023
https://taz.de/Diesel-Gestaendnis-des-Ex-Audi-Chefs/!5931938/ 

Thomas Magenheim-Hörmann: „Rupert Stadler lässt gestehen“, Frankfurter Rundschau (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.fr.de/hintergrund/rupert-stadler-laesst-gestehen-92282258.html 

Martin Seiwert: „Sogar Stadlers Geständnis ist manipuliert“, WirtschaftsWoche (Online) vom 16. Mai 2023
https://www.wiwo.de/unternehmen/auto/dieselgate-sogar-stadlers-gestaendnis-ist-manipuliert/29154442.html 

Ronen Steinke: „Der Handel“, Süddeutsche Zeitung (Print) vom 17./18. Mai 2023