Vor fast zehn Jahren, im Dezember 2004, stellte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di das „Schwarzbuch Lidl“ vor und erntete ein beeindruckendes Medienecho. Nahezu die gesamte Tagespresse berichtete damals über skandalöse Arbeitsbedingungen, systematische Schikanen, unbezahlte Mehrarbeit sowie Maßnahmen, die Wahl von Betriebsräten zu verhindern. Zwei Jahre später veröffentlichten Journalisten das „Schwarzbuch Lidl Europa“. Danach trat Lidl selbst in Billiglohnländern Süd- und Osteuropas als Lohndrücker auf und machte damit einheimischen Einzelhändlern das Leben schwer.

Die gewerkschafts- und betriebsrätefeindliche Haltung des Konzerns bekamen vor wenigen Monaten auch die über 200 Beschäftigten im Lager von Lidl in der Ruhrgebietsstadt Herne zu spüren.

„39 Lager und Verteilzentren sorgen bundesweit für die Belieferung der mehr als 3000 Filialen. Nur in vier dieser Verteilzentren werden die Beschäftigten von einem Betriebsrat unterstützt. Beim Rest: gähnende Leere, was die gesetzliche Interessenvertretung der Belegschaft betrifft. Und in den Filialen: überhaupt kein Betriebsrat. Nirgends. Wenn man weiß, dass in Betrieben ohne Betriebsrat die Löhne meist niedriger, die Arbeitsbedingungen schlechter und das Betriebsklima unangenehmer ist als in Betrieben mit Betriebsrat, dann kann die Frage, ob sich Lidl lohnt, für die Lidl-Beschäftigten also mit einem ‚nicht wirklich‘ beantwortet werden.“ (Albrecht Kieser)

Der Eigentümer des Konzerns, Dieter Schwarz, installierte 2022 in Herne einen neuen Betriebsleiter, der prompt versuchte, den dort bestehenden Betriebsrat zu liquidieren.

„2022 wurde er offenbar in Herne als Mann fürs Grobe benötigt, da Lidl dort ein neues, erheblich größeres Lager baut. ‚Von Anfang an stellte der neue Chef klar, dass kritische Nachfragen zum Umzug weder vom Betriebsrat noch von der Gewerkschaft erwünscht sind‘, sagt Azad Tarhan, ver.di-Sekretär für den Handel im Bezirk Mittleres Ruhrgebiet. In den neuen Hallen, direkt gegenüber des heutigen Lagers, sollen zukünftig mindestens 400 Menschen mit neuester Technik arbeiten. Der Umzug beginnt voraussichtlich im September. ‚Ab 2026 wird es dann wohl ein großes Frischelager mit Kühlbereich im neuen Gebäude geben. Solche gravierenden Veränderungen bringen auch immer Veränderungen für die bestehenden Beschäftigten mit sich‘, erläutert Azad Tarhan. Arbeit bei Kühlschranktemperaturen ertrage nicht jede*r. Auch weitere Änderungen, zum Beispiel bei Arbeitszeiten und der Wochenendarbeit wolle Lidl zu Lasten der Beschäftigten durchsetzen.“ (Gudrun Giese)

Zu den Versuchen, den Betriebsrat in Herne einzuschüchtern, gehörten auch Unterstellungen gegen dessen Vorsitzenden, der angeblich die Geschäftsführung, den Abteilungsleiter sowie Kolleg*innen beleidigt und beschimpft haben soll. Der Beschuldigte wurde gekündigt, eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung folgte. Das Arbeitsgericht lehnte Ende des letzten Jahres den Kündigungsversuch erstinstanzlich ab. Das Verfahren befindet sich aktuell offensichtlich in der zweiten Instanz.

Ver.di-Sekretär Tarhan startete auf Campact eine Petition. Darin wird die sofortige Rücknahme aller Kündigungen und Klagen gegen Betriebsratsmitglieder, ein Beenden des Union-Busting und der gewerkschaftsfeindlichen Propaganda gefordert.

Auch aus einem anderen Grund macht Lidl aktuell von sich reden. Einem Bericht des Manager Magazins zufolge soll der Konzern jahrzehntelang in vielen Filialen mit illegalen Tricks seine Verkaufsflächen vergrößert haben, um den Umsatz zu steigern und sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Nach Angaben eines ehemaligen Managers des Konzerns habe Lidl bis Ende der 2000er-Jahre deutschlandweit und ohne Genehmigung der Behörden in 300 bis 400 Filialen Lagerflächen zu Verkaufsflächen umgewidmet. Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter sprach sogar von 550 Märkten. Die Lager seien zum Teil nur mit einfachen Trennwänden von den Verkaufsräumen abgetrennt gewesen und teils über Nacht entfernt worden. Die in den Plänen als Lager ausgewiesenen Fläche habe also insgeheim als Ausbaureserve gedient. „Laut Insidern“, heißt es in der Wirtschaftszeitschrift, „soll der Umsatz in den betroffenen Filialen durch das Manöver um 10 bis 20 Prozent gestiegen sein. Schätzungen zufolge könnte Lidl so mehr als 2,5 Milliarden Euro zusätzlich erlöst haben“.

In mehreren Fällen seien die Betrügereien bereits aufgeflogen. Offensichtlich zeigen sich die zuständigen Ämter aber weitgehend desinteressiert, die Verstöße aufzuklären: „Die Strafen, die Lidl dort zahlen musste, wo Behörden die Trickserei bemerkten, wirken im Vergleich zu den Mehrerlösen wie Peanuts.“ Die Stadt Herne etwa habe lediglich Bußgelder von rund 4.500 bis 7.600 Euro für Erweiterungen in drei Filialen verhängt, die in den Jahren 2000 bis 2006 aufgeflogen waren. In Leipzig habe der Konzern 2006 wegen den illegal vorgenommenen baulichen Veränderungen zur Vergrößerung der Verkaufsfläche in vier Märkten insgesamt nur 20.000 Euro Strafe zahlen müssen. Vier Kommunen legalisierten im Nachhinein sogar die Erweiterungen.

„Dass Lidls Manöver“, so das Manager Magazin weiter, „so lange unentdeckt blieb, hat offenbar noch einen anderen Grund. Wie es scheint, hat Hauptkonkurrent Aldi den Trick kopiert. (…) Kein Wunder, dass der Erzrivale womöglich wenig Interesse hatte, die Schwarz-Märkte zu enttarnen.“ 

Einen Rückblick auf die kriminellen und beschäftigtenfeindlichen Praktiken einer anderen Handelskette bietet ein Podcast des Handelsblatts. In zwei Folgen werden Aufstieg und Abstieg Anton Schleckers nachgezeichnet – sein „Weg vom Metzger zum Kopf eines Drogen-Imperiums“. Im Jahr 2012 folgte die Insolvenz: „Anton Schlecker, seine Frau Christa und seine Kinder kamen wegen Insolvenzverschleppung, Untreue und Bankrott vor Gericht. 2017 wurde Anton Schlecker zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, seine Kinder kamen ins Gefängnis.“ Auch Schlecker versuchte systematisch, die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Das Geschäftsmodell war offenkundig auf eine besonders intensive Ausbeutung der sogenannten Schlecker-Frauen getrimmt.

Als einer der bekanntesten Sprüche der im operativen Geschäft aktiven Ehefrau des Firmengründers, Christa Schlecker, gilt: „Mitarbeiter sind wie Möbel. Wenn sie einem lästig werden, wirft man sie einfach raus!“

Quellen:

Albrecht Kieser: „Lidl lohnt sich nur für Dieter Schwarz“, Soz Nr. 03/2024

https://www.sozonline.de/2024/03/betriebsratsmobbing/

Gudrun Giese: „Team Lidl – nur leere Worte“, ver.di-Publik, 21. März 2024

https://publik.verdi.de/ausgabe-202402/team-lidl-nur-leere-worte/

„Stoppt Union-Busting im Lidl Lager Herne – Betriebsräte schützen!“,

https://weact.campact.de/petitions/stoppt-union-busting-im-lidl-lager-herne-kundigungen-und-klagen-gegen-betriebsrate-zurucknehmen

Tobias Bug: „Aus Lager mach Laden“, Süddeutsche Zeitung vom 22./23. Juni 2024

Martin Mehringer: „Schwarz-Markt“, Manager Magazin, Juli 2024

Handelsblatt Crime: „Der Fall Schlecker: Teil 1 – der Aufstieg“, Podcast vom 16. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-der-fall-schlecker-teil-1-der-aufstieg/29851740.html

Handelsblatt Crime: Der Fall Schlecker: Teil 2 – der Abstieg, Podcast vom 30. Juni 2024. https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-fall-schlecker-teil-2-der-abstieg/29874088.html