Der in einen Bilanzskandal verwickelte Finanzdienstleiter Wirecard verfügte bis zu seiner Insolvenz über keinerlei Mitbestimmung, weder durch einen Betriebsrat noch durch Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Bis Ende 2018 hatte das Unternehmen rund 5.000 Beschäftigte, davon etwa ein Drittel in Deutschland. Für deutsche Kapitalgesellschaften mit 501 bis 2.000 inländischen Beschäftigten gilt aber die gesetzliche Regel, dass Arbeitnehmer*innen ein Drittel der Mitglieder im Aufsichtsrat stellen. Offenbar nutzte Wirecard aber eine Lücke im Drittelbeteiligungsgesetz aus, um die Arbeitnehmermitsprache in dem Kontrollgremium zu verhindern. Das belegt eine Analyse von Sebastian Sick, Experte für Unternehmensrecht und Corporate Governance am Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (IMU) der Hans-Böckler-Stiftung.

Laut Sick unterlief das Management von Wirecard die Arbeitnehmerbeteiligung mittels der so genannten „Drittelbeteiligungslücke“. Denn im Drittelbeteiligungsgesetz ist keine automatische Konzernzurechnung von Beschäftigten in Tochterunternehmen vorgesehen. Gliedert sich ein Konzern in eine Holding und verschiedene Töchter auf, die jeweils maximal 500 Beschäftigte haben und die nicht über formale „Beherrschungsverträge“ miteinander verbunden sind, kann er eine Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat vermeiden. Das gilt auch wenn die verschiedenen abhängigen Unternehmen zusammengenommen über weit mehr als 500 Mitarbeiter*innen beschäftigen. „Gewinne der Töchter können trotzdem über isolierte ‚Gewinnabführungsverträge‘ an die Holding fließen“, erläutert Sick.

Zwischen der personell kleinen Holding Wirecard AG und der relativ großen Tochter „Wirecard Technologies GmbH“ bestand ursprünglich ein Beherrschungsvertrag. Der wurde dann zum Ende des Jahres 2018 gekündigt. Sick vermutet, dass die Kündigung mitbestimmungsrechtlich motiviert war.

Aber Wirecard agiert nicht allein auf diese Weise. „Allein in Unternehmen mit mehr als 2.000 inländischen Mitarbeitern, für die grundsätzlich eine paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat vorgesehen ist, sind mindestens 2,1 Millionen Beschäftigte davon betroffen (…). Als weitere ‚Mitbestimmungsvermeider‘ (…), die in letzter Zeit für viel Aufsehen sorgten, nennt Sick mehrere der großen deutschen Schlachtkonzerne, angefangen beim Marktführer Tönnies“, heißt es weiter in der Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung.

Nach Sick sind die Schwachstellen in den deutschen Mitbestimmungsgesetzen seit langem bekannt und könnten mit nur geringem gesetzgeberischen Aufwand geschlossen werden. Beim Drittelbeteiligungsgesetz würde es etwa schon reichen, eine automatische Konzernzurechnung von Tochterunternehmen zu ergänzen, wie sie im Mitbestimmungsgesetz von 1976 längst existiere.

Quelle:

Hans-Böckler-Stiftung: „Wirecard: Mitbestimmung im Aufsichtsrat über Rechtslücke umgangen – Auch Schlachtkonzerne haben Arbeitsnehmer im Kontrollgremium verhindert“, Pressemitteilung vom 22. September 2020
https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-wirecard-mitbestimmung-im-aufsichtsrat-uber-rechtslucke-umgangen-27045.htm