Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern Gazprom fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.

Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro