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Staatsanwaltschaften am GĂ€ngelband der Politik?

Erzeugen soziale Bewegungen nicht genĂŒgend Druck auf der Straße, wenden sie sich an die Gerichte, um dort etwas zu bewirken. So oder so Ă€hnlich lautet ein alter Sinnspruch aus der linken Szene. Anne Brorhilker, Kölner OberstaatsanwĂ€ltin in Sachen Cum-Ex, geht den umgekehrten Weg. Sie quittierte den Staatsdienst, um sich im Verein BĂŒrgerbewegung Finanzwende zivilgesellschaftlich gegen Wirtschaftsverbrechen zu engagieren. Offensichtlich fĂŒhlte sie sich bei der BekĂ€mpfung der FinanzkriminalitĂ€t von den Behörden nicht ausreichend unterstĂŒtzt oder sogar behindert.

Mehrere Presseberichte problematisierten deshalb jĂŒngst die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland, weil, so das Handelsblatt, „besonders forsche Ermittler jederzeit aus dem Justizministerium zurĂŒckgepfiffen werden“ können. In den meisten Kommentaren zu Brorhilkers öffentlich vollzogenen RĂŒckzug ĂŒberwiegt die Auffassung, das ministerielle Weisungsrecht gehöre schlicht abgeschafft. Diese Forderung wird seit Jahrzehnten immer wieder erhoben, ist also lĂ€ngst ein rechtspolitischer Dauerbrenner. So insistierte die Neue Richtervereinigung (NRV) am 23. April 2024 nicht zum ersten Mal auf der völligen UnabhĂ€ngigkeit der Staatsanwaltschaften. Vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme auf die Justiz in Polen und Ungarn hielt es im letzten Jahr auch der Deutsche Richterbund (DRB) fĂŒr „höchste Zeit, die Möglichkeit einer Einflussnahme der Politik auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft abzuschaffen“. So drĂŒckte es jedenfalls GeschĂ€ftsfĂŒhrer Sven Rebehn gegenĂŒber der Berliner Morgenpost aus.

Ähnlich positionierte sich Anfang des Jahres Berlins GeneralstaatsanwĂ€ltin Margarete Koppers. Denn der EuropĂ€ische Gerichtshof verlange schon seit langem die Abschaffung des Weisungsrechts. In vielen europĂ€ischen LĂ€ndern gebe es denn auch kein Durchgriffsrecht auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften. Mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte der AfD bei Umfragen in einigen BundeslĂ€ndern verwies Koppers darauf, dass auch AfD-Politiker*innen das Amt des Justizministers besetzen könnten: „
dann möchte ich mir nicht vorstellen, wie die Strafverfolgung aussĂ€he – vor allem im Bereich des Rechtsextremismus“.

Nach Auffassung von Heribert Prantl (SĂŒddeutsche Zeitung) ist es höchste Zeit fĂŒr eine „Entfesselung der Justiz“. Er hĂ€lt es fĂŒr „eigentlich pervers“ und einen unertrĂ€glichen Zustand, dass die Politik der Staatsanwaltschaft jederzeit die ZĂŒgel anlegen könne. Das geschehe zwar eher selten, aber es komme ja gerade auf die „heiklen Verfahren“ an. Die politische WeisungsabhĂ€ngigkeit sei darum ein Geburtsfehler der deutschen Staatsanwaltschaft, nötig dagegen die Selbstverwaltung fĂŒr die gesamte Justiz.

Spricht aber dieser vielfach vorgetragene Furor gegen den Status der Staatsanwaltschaft als weisungsgebundene Behörde wirklich fĂŒr eine Fehlkonstruktion in der deutschen Justiz?

Die Regeln des Weisungsrechts

Anweisungen des Ministeriums in konkreten Verfahren einer Staatsanwaltschaft sind in der Praxis tatsĂ€chlich sehr selten, da sie rechtpolitisch als Ă€ußerst umstritten gelten und medial regelmĂ€ĂŸig skandalisiert werden. In § 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) heißt es allerdings so lapidar wie eindeutig, dass die Beamten der Staatsanwaltschaft „den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen“ haben. Mit Letzteren sind auch die zustĂ€ndigen Justizminister gemeint. Auch diese können sich also im konkreten Einzelfall in die Arbeit der StaatsanwĂ€lte einmischen. Anders als Richter, deren UnabhĂ€ngigkeit nach Art. 97 GG verfassungsrechtlich garantiert ist, sind die StaatsanwĂ€lte dem Justizressort zugeordnet und gelten als „verlĂ€ngerter Arm“ der Behörde. „Sprich: Wer regiert, kann die Geschicke der Staatsanwaltschaft bestimmen.“ (Cicero vom 22. Februar 2024) Da eine gesetzliche BeschrĂ€nkung fehlt, können sich Weisungen tatsĂ€chlich auf jede staatsanwaltschaftliche Aufgabe beziehen und zu jedem Zeitpunkt erfolgen. Zu beachten ist dabei jedoch von den „Vorgesetzten“ das LegalitĂ€tsprinzip, welches die Staatsanwaltschaften verpflichtet, alle Straftaten bei einem ausreichenden Anfangsverdacht zu verfolgen (§152 Abs. 2 StPO).

Verzichtet das Ministerium auf eindeutige Weisungen, bedeutet das aber nicht, dass eine politische Steuerung unterbleibt. Denn die erfolgt nur in AusnahmefĂ€llen so auffĂ€llig und öffentlichkeitswirksam wie bei dem grĂŒnen Justizminister in NRW Benjamin Limbach, der den Einfluss von Anne Brorhilker bei den Ermittlungen gegen Cum-Ex-Verbrechen schwĂ€chen wollte. „Ein Anruf des Ministers beim ermittelnden Staatsanwalt ist eher selten. So plump wird Macht im modernen Staat kaum ausgeĂŒbt. Das Mittel der Wahl ist die subtile Kommunikation von Erwartungen.“ (Cicero, 02/2024, Seite 42)

Der Zugriff auf die StaatsanwĂ€lte erfolgt eher ĂŒber Empfehlungen und Anregungen, auch ĂŒber deren Verpflichtung, der ĂŒbergeordneten Behörde „zu berichten“ (ĂŒber erzielte Ergebnisse in der Ermittlungsarbeit und weitere Absichten). Kritische Stimmen sehen daher schon in der Möglichkeit einer direkten politischen Einflussnahme ein entscheidendes Problem: Denn es ist zu vermuten, dass manche StaatsanwĂ€lte das von Ministerium erwĂŒnschte Verhalten vorwegnehmen und sich entsprechend selbst disziplinieren.

Was spricht fĂŒr die Beibehaltung des Weisungsrechts?

StaatsanwĂ€lte aber als reine Handlanger der Politik darzustellen, ĂŒbersieht deren Entscheidungsfreiheiten, die sich aus ihren Aufgaben ergeben. „Sie haben ein Monopol darauf, StraffĂ€lle vor Gericht zu bringen“, schreibt Ronen Steinke in der SĂŒddeutschen Zeitung. „Was fĂŒr eine Macht! Richterinnen und Richter bleibt ‚nur‘, deren Anklagen zu kontrollieren. Kriminalpolitik ist etwas, das in einer Demokratie wĂ€hlbar sein muss – und abwĂ€hlbar. Deshalb hat es nie so richtig eingeleuchtet, weshalb die Staatsanwaltschaften, die in Deutschland eine solche SchlĂŒsselrolle spielen, nach mehr ‚UnabhĂ€ngigkeit‘ vom demokratischen SouverĂ€n verlangen – das heißt konkret: dass sie keine Weisungen mehr von den Justizministerien annehmen wollen.“

Ohne ein Weisungsrecht, bestĂ€tigt auch die Strafrechtlerin Jannika Thomas, wĂŒrde die Staatsanwaltschaft der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Die UnabhĂ€ngigkeit und damit die fehlende parlamentarische Kontrolle richterlichen Handelns etwa sei nur mit Blick auf die besondere institutionelle Stellung der Judikative hinzunehmen. Gerichte unterlĂ€gen aufgrund der öffentlichen Hauptverhandlung einer unmittelbaren Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Hingegen fĂ€nden die staatsanwaltlichen Ermittlungen im Geheimen statt. „Gerade deshalb sollte das Privileg der UnabhĂ€ngigkeit nicht ohne Weiteres auf Behörden wie die Staatsanwaltschaft ausgeweitet werden. Eine unabhĂ€ngige Staatsanwaltschaft wĂŒrde, sofern nicht besondere Instrumente zu ihrer parlamentarischen Kontrolle geschaffen werden wĂŒrden, zu einem gewissen Grad auch eine unkontrollierbare Staatsanwaltschaft bedeuten.“

Die Cum-Ex-Deals zeigen ohne Zweifel, wie „die Politik“ durch aktive Behinderung staatsanwaltlicher Ermittlungen ihren Unwillen zeigt, FinanzkriminalitĂ€t konsequent zu bekĂ€mpfen. Was die AbhĂ€ngigkeit des Apparats der Staatsanwaltschaften vom jeweils vorherrschenden politischen Regierungswillen illustriert. Aber der kann auch emanzipatorischen Charakter annehmen. So machte der Rechtsanwalt Gerhard Strate vor zehn Jahren auf die Ambivalenz der WeisungsabhĂ€ngigkeit am Beispiel eines der grĂ¶ĂŸten Justizskandale in der jĂŒngeren Geschichte der Bundesrepublik aufmerksam. Über sieben Jahre saß der Ingenieur Gustl Mollath auf richterliche Anweisung unschuldig in der Psychiatrie. Der Fall wurde bundesweit zum Politikum. Strate stellte in einem Fachbeitrag fest, dass ein vom Bayerischen Landtag eingesetzter Untersuchungsausschuss „eine Kette unsĂ€glicher VersĂ€umnisse von Strafverfolgungsbehörden in Bayern“ zu Tage förderte. Mollath wurde letztlich freigesprochen und erhielt eine EntschĂ€digung fĂŒr seine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie. Laut Strate war eine solche Untersuchung nur möglich, weil die zustĂ€ndige Justizministerin fĂŒr die Fehler zur Verantwortung gezogen werden konnte. „Was hĂ€tte“, so Strate, „stattdessen ein ‚unabhĂ€ngiges’ Aufsichtskollegium von Richtern und StaatsanwĂ€lten bewirkt? Mit Sicherheit: nichts.“ Dem Recht der Justizminister, Einfluss auf Ermittlungen zu nehmen, entspricht ihre Verantwortung gegenĂŒber dem Parlament fĂŒr die TĂ€tigkeit der Staatsanwaltschaft (was sich auch in der Einsetzung von UntersuchungsausschĂŒssen zeigen kann).

Um eine demokratische, öffentliche Kontrolle der ministeriellen Weisungen an Staatsanwaltschaften zu erleichtern, so zumindest die offizielle BegrĂŒndung, legte das Bundesjustizministerium Anfang Mai einen Referentenentwurf eines Gesetzes vor, der das Weisungsrecht neu regeln soll. Die „Transparenz von Weisungen gegenĂŒber der Staatsanwaltschaft“ soll erhöht werden. Unter anderem muss den Adressierten ĂŒberhaupt klar sein, dass eine Weisung erteilt wird (sie soll deshalb schriftlich erfolgen und begrĂŒndet werden). ZusĂ€tzlich sollen zukĂŒnftig die bereits bestehenden Grenzen der Weisungsbefugnis nachlesbar im Gesetz stehen. – Alles in allem eine sehr verhaltene Reform, die die kritischen Stimmen kaum verstummen lĂ€sst.

Fazit: In der Öffentlichkeit verhandelte FĂ€lle wie Cum-Ex lassen die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der derzeitigen Rechtslage, das heißt einer Abschaffung von Weisungen der Politik, verstĂ€ndlich erscheinen. Es sollte aber auch ehrlich zugegeben werden, dass es der eigene politische Standpunkt ist, der gegebenenfalls die Weisungsbefugnis des Ministeriums zur Zielscheibe der Kritik werden lĂ€sst. Ein der AfD nahestehender und mit Weisungsbefugnis ausgestatteter Minister erzeugt bei den meisten Menschen berechtigte Ängste. Ein unabhĂ€ngiger, das heißt von politischen Weisungen befreiter Staatsanwalt mit politisch rechter Neigung oder mit fehlendem Unrechtsbewusstsein in Sachen WirtschaftskriminalitĂ€t verspricht jedoch ebenfalls nichts Gutes.

Und noch ein Nachsatz zu Cum-Ex: Eine unabhĂ€ngige Richterschaft hat – obwohl die illegalen GeschĂ€fte seit Anfang der 1990er Jahre bekannt sind – noch im Jahr 1999 mit einem Gerichtsurteil (Bundesfinanzhof) die Argumentation gestĂ€rkt, mehrfache Steuererstattungen bei LeerverkĂ€ufen seien ganz legal. – Mit Recht wird immer Politik gemacht. Ein „entfesselter“ (Prantl) Justizapparat bzw. die UnabhĂ€ngigkeit der Staatsanwaltschaften garantiert aber nicht, dass diese in jedem Fall emanzipatorisch ausfĂ€llt.

Quellen:

Volker Boehme-Nessler: „Strafverfolgung nach politischem Gusto?“, Cicero, 02/2024, Seite 41-44

„Der Verlust von OberstaatsanwĂ€ltin Brorhilker offenbart Defizite in der deutschen Strafverfolgung und Justizstruktur“, Pressemitteilung der Neuen Richtervereinigung (NRV) vom 23. April 2024
https://www.neuerichter.de/wp-content/uploads/2024/04/2024_04_23-NRV-PM-Verlust-Brorhilker-Defizite-in-Strafverfolgung-und-Justiz-1.pdf

Jan Dörner/Christian Unger: „Deutsche Richter fĂŒrchten politischen Einfluss auf Justiz“, Berliner Morgenpost (Online) vom 25. Februar 2023
https://www.morgenpost.de/politik/article237745281/justiz-unabhaengigkeit-richter-deutschland.html

Gudula Geuther, „Diskussion um Weisungen an StaatsanwĂ€lte“, Deutschlandfunk, 3. Mai 2024
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-gespraech-diskussion-um-weisungen-an-staatsanwaelte-dlf-f3c63551-100.html
Jessica Hamed: „Die abhĂ€ngige Justiz“, Cicero vom 22. Februar 2024
https://www.cicero.de/innenpolitik/weisungsrecht-der-justizminister-die-abhangige-justiz

„Koppers fordert Abschaffung des Weisungsrechts durch Justizminister“, rb24 vom 3. Januar 2024
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/01/justiz-staatsanwaltschaft-justizminister-weisungsrecht-margarete-koppers.html

Heribert Prantl: „Staatsanwaltschaft in Deutschland: Ungute AbhĂ€ngigkeiten“, youtube-Video der SĂŒddeutschen Zeitung
https://www.youtube.com/watch?v=yp1FsxKT6nw

Ronen Steinke: „Kontrolle muss sein“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 3. Mai 2024

Gerhard Strate: „Strafverteidigung in unserer Zeit“, netzpolitik.org, 28. April 2014 https://netzpolitik.org/2014/gastbeitrag-von-gerhard-strate-strafverteidigung-in-unserer-zeit/

Jannika Thomas: „Die deutsche Staatsanwaltschaft – ‚objektivste Behörde der Welt‘ oder doch nur ein Handlanger der Politik?“, KriPoZ 2/2020, Seite 84-90
https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/03/thomas-die-deutsche-staatsanwaltschaft-objektivste-behoerde-der-welt-oder-nur-handlanger-der-politik.pdf

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die ZermĂŒrbungstaktik der TĂ€ter geht auf“,
Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Zonenbildung: Die neue Geografie des Kapitalismus

Im rechtswissenschaftlichen und politischen Diskurs wird die Auffassung vertreten, das seit Anfang des letzten Jahres in Deutschland geltende Lieferkettengesetz und die aktuelle Debatte um eine entsprechende EU-Richtlinie ließe eine internationale Rechtsentwicklung erkennen, die auf eine Durchsetzung von Normen des Menschenrechts in der globalisierten Wirtschaft gerichtet sei.

UnabhĂ€ngig davon, ob man es fĂŒr illusionĂ€r hĂ€lt, die kapitalistische Produktionsweise könne die Einhaltung der Menschenrechte gewĂ€hrleisten – ausgeblendet wird in der Diskussion, dass marktradikale Akteure seit Jahren auch auf juristischer Ebene weltweit erfolgreich in die genau entgegengesetzte Richtung arbeiten. Sie wollen, wie es der Untertitel des neuen Buches von Quinn Slobodian anzeigt, „die Welt in Mikronationen, PrivatstĂ€dte und Steueroasen zerlegen“. Gemeint sind eigentĂŒmliche Enklaven, die sich zwar rĂ€umlich innerhalb von nationalstaatlichen Territorien befinden, zugleich aber von den dort geltenden Regeln ausgenommen sind. Der Autor fasst sie unter dem Begriff „Zonen“ zusammen. Dort sollen sich ausschließlich die Gesetze des Marktes entfalten und Investoren selber festlegen können, an welche Regeln sie sich halten wollen. Slobodian nutzt auch die Metapher der Perforation, um zu verdeutlichen, wie der Kapitalismus Löcher in das Territorium des Nationalstaates stanzt, um Ausnahmezonen mit eigenen Gesetzen zu errichten. Mit der Folge, dass neue RechtsrĂ€ume entstehen, in denen bislang geltende Steuerpflichten, Arbeitsrechte und Umweltauflagen unterlaufen oder ganz abgeschafft werden.

Slobodian zitiert zu Beginn seines Buches eine provokante Aussage des rechtslibertÀren Tech-Investors Peter Thiel aus dem Jahr 2009, nach dem Freiheit und Demokratie unvereinbar seien (vgl. Beitrag in BIG Business Crime, Beilage zu Stichwort BAYER Nr. 1/2023). Die Einlassung des US-MilliardÀrs zeugt dabei nicht von reinem Wunschdenken, denn Slobodian verweist auf mittlerweile weltweit mehr als 5.400 tatsÀchlich existierende Zonen, die eine verwirrende Vielfalt an Formen annehmen; nach einer offiziellen Einstufung gibt es demnach mindestens 82 Varianten. Darunter fallen einzelne ProduktionsstÀtten, Gewebesteueroasen auf Gemeindebasis, aber auch urbane Megaprojekte und ausgedehnte Sonderwirtschaftszonen. 

Sie alle stehen fĂŒr einen „Crack Up Capitalism“ (Titel der Originalausgabe) – verstanden als eine Utopie des freien Marktes, die nach Ansicht von AnhĂ€ngern der Zonenbildung „durch Sezession und Fragmentierung der Nationalstaaten“ verwirklicht werden könne. Die Idee, dass der Kapitalismus sehr viel wichtiger sei als die Demokratie und vor „dem Zugriff des Volkes“ gesichert werden mĂŒsse, entspricht nach Meinung des Buchautors einer gezielt entwickelten Geisteshaltung, die seit fĂŒnfzig Jahren unmerklich auf dem Vormarsch sei und sich auf „unsere Gesetze, Institutionen und politische Bestrebungen“ auswirke.

Slobodian entwirft im Grunde eine Verfallsgeschichte der Demokratie, wobei er seine Grundthese eines von Zonen ĂŒbersĂ€ten „Zersplitterungskapitalismus“ mit Blick auf mehrere geografische Schwerpunkte und anhand von insgesamt elf Fallstudien abhandelt. Unter anderem beschreibt er markante Entwicklungen in Hongkong und Singapur, London und Liechtenstein, Dubai und Somalia – alles Orte, wo sich Kapitalismus und Demokratie auseinanderentwickeln wĂŒrden. Dennoch entlarvt der Autor das Ziel, möglichst viele Zonen tatsĂ€chlich vom Staat zu „befreien“, als reine Rhetorik, denn letztlich seien sie Werkzeuge des Staates (und des Kapitals). Schließlich wĂŒrden die Staaten sie einsetzen, um die eigenen Interessen zu verfolgen. Soll zum einen heißen, dass die Marktradikalen ihre Ziele nicht ohne staatliche Interventionen umsetzen können und sich deshalb nicht zufĂ€llig und nur scheinbar auf paradoxe Weise bewundernd ĂŒber autoritĂ€re Staaten Ă€ußern (vor allem ĂŒber deren „Effizienz“). Heißt zum anderen, dass Staaten wie Saudi-Arabien oder China ihre Position als staatskapitalistische (Groß)MĂ€chte durch den Bau von „extraterritorialen“ MegastĂ€dten oder die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen stĂ€rken wollen – und sich dabei oft genug ĂŒber das libertĂ€re Prinzip des Schutzes der Eigentumsrechte brutal hinwegsetzen (Vertreibung von Dorfbewohnern usw.).

Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, PrivatstÀdte und Steueroasen zerlegen wollen, ISBN 978-3-518-43146-7,  Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 428 Seiten, 32 Euro

 

Die dunkle Seite der Zukunftsstadt: das Projekt „Neom“ in Saudi Arabien  

 Mitten in der WĂŒste von Saudi-Arabien, im Nordwesten des Königreichs, soll das wohl gigantischste Bauvorhaben der Welt nach und nach Kontur annehmen – „Neom“.* Veranschlagt auf 500 Milliarden Dollar wird es bis 2040, so die Planung, eine Region fast so groß wie Belgien umfassen und neben dem Skiressort Trojena (Ausrichter der Asiatischen Winterspiele 2029), dem Industriestandort Oxagon und der Luxusinsel Sindalah eine Stadt der Superlative als eigentliches HerzstĂŒck aufbieten: „The Line“. Konzipiert auf eine LĂ€nge von 170 Kilometern und mit gerade einmal 200 Meter Breite beginnt sie am Roten Meer und fĂŒhrt – wie mit dem Lineal gezogen – ins Landesinnere. Zwei gegenĂŒberliegende Reihen von 500 Meter hohen verspiegelten Wolkenkratzern sollen sich kĂŒnftig horizontal in die WĂŒste erstrecken. Sollte die futuristische Stadt im Jahr 2040 wirklich fertiggestellt sein, werden dort einmal neun Millionen Menschen leben – auf nur 34 Quadratkilometern, nicht mehr als einem Zehntel der derzeitigen FlĂ€che von MĂŒnchen. Das öffentliche Leben spielt sich in der Vorstellung der Planer in der engen, aber begrĂŒnten „Schlucht“ zwischen den beiden Hochhausreihen ab. Obwohl das Projekt von vielen Kritikern als reines Fantasieprodukt verhöhnt wurde, sollen im Februar dieses Jahres von der Projektleitung veröffentlichte Luftaufnahmen bereits erste Baufortschritte zeigen.

Warum das alles? Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman stellte das Projekt im Jahr 2017 erstmals vor und versprach im Rahmen seiner „Vision 2030“ nichts weniger, als eine „zivilisatorische Revolution“ auf den Weg zu bringen. Das Leben in „Neom“ solle zu einhundert Prozent klimaneutral sein: mit Solarstrom, Windkraft, und ĂŒberhaupt den neuesten Technologien, aber ohne motorisierten Individualverkehr. Alle Wege wĂŒrden zu Fuß (oder aber mit AufzĂŒgen) erledigt. Daneben soll ein unterirdischer Hochgeschwindigkeitszug die gesamte Distanz von „The Line“ in zwanzig Minuten bewĂ€ltigen. Geplant ist, dass alle fĂŒr die Bewohner wichtigen Einrichtungen in nur fĂŒnf Fußminuten zu erreichen sind.

Mit dieser Idee einer „nachhaltigen“ Stadt will der Prinz offensichtlich zum einen das ramponierte Image seines Landes aufpolieren. Zum anderen gilt es, angesichts langfristig versiegender Ölmilliarden neue Einnahmequellen zu erschließen, vor allem auch mittels erneuerbarer Energien. Damit es aber gelingt, die Wirtschaft in nur wenigen Jahren weitreichend umzubauen und auf High-Tech-Standard zu bringen, mĂŒssen weltweit und massiv Investoren und qualifizierte ArbeitskrĂ€fte angelockt werden (zum Beispiel als Bewohner von „The Line“). Die geplante Transformation setzt deshalb eine – wenn auch territorial sehr begrenzte – Öffnung des Landes samt gesellschaftlicher Liberalisierung voraus.

Kritische Beobachter nehmen jedoch die ZukunftstrĂ€ume der vom saudischen Prinzen eingekauften „Neom“-Propagandisten unter Beschuss, die in ihren Promo-Videos von einer naturverbundenen Planstadt als „Sprungbrett des menschlichen Fortschritt“ fantasieren (Frankfurter Rundschau).

Kein ökologisches Vorzeigeprojekt

Dass „Neom“ mit den Prinzipien von Nachhaltigkeit und KlimaneutralitĂ€t rein gar nichts zu tun hat, stellen Fachleute immer wieder fest. Allein der Bau von „The Line“ verschlingt Unmengen an Beton und Glas. Die dabei anfallenden CO2-Emissionen werden mehr als das Doppelte von dem umfassen, was Deutschland derzeit pro Jahr ausstĂ¶ĂŸt. Das Projekt – so bringt es ein Mitglied der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Nachhaltiges Bauen auf den Punkt – „dĂŒrfte in etwa so nachhaltig sein wie eine Skianlage in der WĂŒste“. (www.md.de)

Massive Verletzung der Menschenrechte

Das Megaprojekt entsteht auch nicht im Niemandsland – wie es die offizielle Sprachregelung weismachen will. GeschĂ€tzt 20.000 Menschen aus lokalen StĂ€mmen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Ein lautstarker Kritiker der Zwangsumsiedlung wurde 2020 von saudischen SpezialkrĂ€ften erschossen, mehrere Todesurteile, erfolgten, drakonische Haftstrafen wurden wegen vermeintlichem Terrorismus erlassen: alles im vergangenen Jahr dokumentiert in einem UN-Report des Hochkommissars fĂŒr Menschenrechte (vgl. Handelsblatt).

Die Arbeits- und Lebensbedingungen fĂŒr die auf den Baustellen Arbeitenden sind offensichtlich inakzeptabel. So werden zum Beispiel nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen in den Camps der ArbeitskrĂ€fte, die fĂŒr jeweils 10.000 Menschen ausgelegt sind, BeschĂ€ftigte aus Indien und Pakistan zu sechst in kleinen RĂ€umen eingezwĂ€ngt. Kritische Stimmen halten die Situation vor allem der asiatischen Niedriglöhner fĂŒr noch problematischer als beim Bau der Fußballstadien zur Weltmeisterschaft in Katar (vgl. Frankfurter Rundschau).

Auch eine Reihe deutscher Unternehmen und Top-Manager mischen bei dem Projekt im autokratisch regierten WĂŒstenstaat krĂ€ftig mit, weil sich dort – wie auch bei vielen anderen Modernisierungsprojekten – viel Geld verdienen lĂ€sst.

Deutsche Unternehmen profitieren

So berĂ€t Ex-Siemens-Chef Klaus Kleinfeld, von 2017 bis 2018 CEO von „Neom“, seitdem ganz offiziell den saudischen Herrscher und behielt den Posten auch – trotz des grausamen Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi. Siemens bewirbt sich um AuftrĂ€ge fĂŒr die Konstruktion der Hochgeschwindigkeitsbahn; eine Tochter von Thyssen-Krupp ist am Bau der grĂ¶ĂŸten Wasserstofffabrik der Welt in der „Neom“-Region beteiligt. Die bayerische Bauer AG setzt in der ersten Projektphase riesige BetonpfĂ€hle in den Sandboden.

Die Firma Volocopter GmbH aus Bruchsal wird Lufttaxis fĂŒr „The Line“ liefern. Im November 2022 wurde bekanntgegeben, „Neom“ werde mit 175 Millionen Dollar bei dem Start-Up einsteigen (vgl. ingeneur.de). Mitte des letzten Jahres verkĂŒndete das Unternehmen, es seien erste erfolgreiche TestflĂŒge eines senkrecht startenden elektrischen Lufttaxis erfolgt. Nicht ohne darauf hinzuweisen, dass „Neom“ laut CEO des saudischen Projekts „globaler Beschleuniger und Inkubator von Lösungen fĂŒr die dringendsten Herausforderungen der Welt“ sei (vgl. Webseite des Unternehmens: https://www.volocopter.com/de/newsroom/volocopter-flug-in-neom/).

Das deutsche ArchitekturbĂŒro Laboratory for Visionary Architecture (LAVA), das einen Teil von „Neom“ entwirft, antwortete auf die Frage von Journalisten, wie es sicherstelle, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitrage: „Wir bauen kein GefĂ€ngnis dort, wir bauen auch kein GerichtsgebĂ€ude (
) dann wĂ€re man da direkt involviert.“ (Deutschlandfunk) Stattdessen entwerfe man Konzepte fĂŒr Trojena, „Neoms“ geplantes Naherholungsgebiet in den Bergen. In dem Bereich, fĂŒr das LAVA arbeite, seien keine Menschenrechtsverletzungen bekannt.

Und auch Thyssen-Krupp, Velocopter und Bauer bekrĂ€ftigen auf Nachfrage: Man bekenne sich zu den Menschenrechten und prĂŒfe, ob sie eingehalten werden. Offensichtlich mit dem Ergebnis, dass bislang keine Konsequenzen fĂŒr das eigene Engagement zu ziehen sind (ebd.).

Cognitive City: die perfekte Welt der Überwachung

Selbsternannte „Öko-StĂ€dte“ werden als „intelligente StĂ€dte“ vermarktet. Der Anspruch, eine CO2-freie „Stadt der Zukunft“ zu entwickeln, setzt deshalb voraus, mittels KI-gesteuerter Systeme eine optimierte Infrastruktur bereitzustellen. Dabei reicht es nicht mehr, am Konzept einer sogenannten Smart City festzuhalten. Der neue Leitbegriff lautet „Cognitive City“: „Wurden in aktuellen Smart Cities bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt NEOM 90 Prozent sein“. (Business Insider) Dienstleistungen von der MĂŒllabfuhr ĂŒber das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten, so heißt es weiter, sollen nach dem Willen der Planer durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Überwachungstechnologie geregelt werden.

Kritischen Beobachtern ist dabei nicht entgangen, dass die Datensammelwut in einem hochtechnologisierten Gebiet auch als Instrument fĂŒr eine umfassende Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden kann. Vor etwa einem Jahr wurde denn auch darĂŒber spekuliert, ob China den Saudis aufgrund der sich verbessernde Beziehungen zwischen beiden LĂ€ndern eine entsprechende erprobte Überwachungstechnologie bereitstellen könnte (ebd.).

Der renommierte Architekturkritiker Deyan Sudjic stellt fest, dass autoritĂ€re Regime ein „tiefverwurzeltes und wohlbegrĂŒndetes Misstrauen gegenĂŒber konventionellen StĂ€dten“ hĂ€tten. Denn StĂ€dte seien „lĂ€stige, unkontrollierbare Orte, die zu Ungehorsam“ neigten (Sudjic, Seite 80). Stattdessen bauten die Machthaber neue HauptstĂ€dte gerne weit weg von Andersdenkenden. Da Mohammed bin Salman jegliche WiderstĂ€nde gegen seine Version einer Modernisierung des Landes im Keim erstickt, erscheint eine kĂŒnftige TotalĂŒberwachung des öffentlichen Lebens auch in „Neom“ wahrscheinlich. Die umfangreichen Daten der Bewohner (Bewegungsprofile, Konsumverhalten, biometrische Erkennungszeichen) werden dabei wohl nicht allein im staatlichen Interesse gespeichert und ausgewertet, sondern auch von den Unternehmen und deren Investoren.

Ein neues Recht

Um auslĂ€ndische Investoren in Scharen anziehen und ihnen Rechtssicherheit in geschĂ€ftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht bieten zu können, soll fĂŒr die innovative Region das in Saudi-Arabien geltende und von der Scharia dominierte rigide islamische Recht nicht gelten. Wie die neuen Regeln genau aussehen werden, scheint allerdings noch unklar zu sein – vermutlich aber werden sie wesentlich weniger restriktiv als im Rest des Landes ausfallen. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian interpretiert „Neom“ als ein „Laboratorium fĂŒr Experimente mit dem privaten Regieren“. Die Zone solle nicht vom saudischen Staat, sondern von ihren AktionĂ€ren betrieben werden, von einer autonomen Regierung, deren Gesetze von den Investoren in einem Statut festgelegt wĂŒrden. Die Anteilsscheine sollen an der Börse in Riad gehandelt werden. Die einzige Pflicht der Direktoren wĂŒrde darin bestehen, die Investitionen der AktionĂ€re zu schĂŒtzen. Mohammed bin Salam, so Slobodian, hĂ€tte „Neom“ denn auch als „erste kapitalistische Stadt der Welt“ bezeichnet (Slobodian, Seite 327).

BestÀtigt wird die Sicht Slobodians vom deutschen Berater des saudischen Kronprinzen. Originalton Klaus Kleinfeld:

„Und dann dĂŒrfen wir hier alles ausprobieren, ohne dass wir erst auf eine bestehende Infrastruktur RĂŒcksicht nehmen mĂŒssen. Auch neue Formen der Gesetzgebung: Wir haben die volle gesetzgeberi-sche AutoritĂ€t!
Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz hat uns aufgegeben: ‚Schreibt die Gesetze in der denkbar
Investoren-freundlichsten Art und Weise. Und genau das passiert jetzt gerade, mit Hilfe zweier großer
internationaler Anwaltskanzleien.“ (Deutschlandfunk)

„The Line“ ist allerdings nicht die erste Idee fĂŒr eine am Reißbrett entworfene Öko-Megastadt, die darauf gerichtet ist, den Kapitalismus von allen BeschrĂ€nkungen zu befreien. Bekanntlich lĂ€sst sich das nirgendwo sonst so leicht verwirklichen wie in einer beinharten Autokratie. Der Journalist Claas Gefroi ordnet das Projekt „Neom“ in eine seit Jahren ablaufende Entwicklung ein, die weltweit vorangetrieben werde – mit einer klaren Zielstellung. Neue StĂ€dte und Wirtschaftsregionen wĂŒrden geplant, „die von privaten Kapitalgebern und Unternehmen finanziert, besessen und verwaltet werden und als möglichst autonome Gebiete nicht oder nur noch rudimentĂ€r dem Rechts- und Steuersystem des jeweiligen Landes unterliegen“. Auf Grundlage einer auf Ungleichheit und Eigentumsrechten fixierten Ideologie solle ein politisch-ökonomisches System etabliert werden, „das auf maximaler Ungleichheit basiert, jegliche soziale und finanzielle Absicherung der Besitzlosen durch den Staat unterbindet und generell jedwede staatliche Steuerung und Kontrolle ablehnt“. Im Kern, so Gefroi, gehe es um eine Umwandlung von Staatsgebieten in Privatterritorien: „Die Folgen einer solchen libertĂ€ren Entwicklung wĂ€ren fatal“. (Gefroi, Seite 46)

*„Neo“ im Kunstwort „Neom“ ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen und reprĂ€sentiert das Neue; die Endung „m“ bezieht sich auf das Arabische und steht fĂŒr die Zukunft (mustaqbal).

Quellen:

Thoralf Cleven: “Megacity Neom: Gigantomanie im WĂŒstensand”, Frankfurter Rundschau (Online) vom 5. Januar 2023

Anna Gauto: „Neom-Projekt fĂŒr deutsche Firmen lukrativ – aber auch sauber?“, Handelsblatt (Online) vom 20. Februar 2024
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/saudi-arabien-neom-projekt-fuer-deutsche-firmen-lukrativ-aber-auch-sauber-01/100014785.html 

Claas Gefroi: „Durch die WĂŒste“, Konkret, 7/2023, Seite 44-46

Dominik Hochwarth: „‚The Line‘ Saudi Arabien: Mehr als ein MĂ€rchen aus 1001 Nacht?“, ingenieur.de (VDI Verlag), 6. MĂ€rz 2024
https://www.ingenieur.de/technik/fachbereiche/bau/saudische-megacity-the-line-mehr-als-ein-maerchen-aus-1001-nacht/

Tom Porter: „Der saudische Kronprinz will eine milliardenschwere Smart City in der WĂŒste errichten: China soll dafĂŒr Überwachungstechnologie bereitstellen“, Business Insider, 24. Februar 2023
https://www.businessinsider.de/politik/welt/neom-der-saudische-kronprinz-plant-ueberwachte-smart-city/ 

Quinn Slobodian: „Kapitalismus ohne Demokratie“, Berlin, 2023

Deyan Sudjic: „Neom, die WĂŒstendystopie“, Merkur, April 2023, Seite 77-80

Marc Thörner: „Blut, Sand und Beton“, Deutschlandfunk/WDR (Erstsendung am 20. Februar 2024)
https://www.hoerspielundfeature.de/blut-sand-und-beton-100.html 

 

 

 

 

René Benkos exklusiver Zugang zur Macht

Nach dem großen Crash des Signa-Konzerns ist der ehemalige Selfmade-MilliardĂ€r RenĂ© Benko aus der Öffentlichkeit verschwunden. Anfragen von Journalisten zu seinem kollabierenden Immobilienimperium beantwortet er nicht. Die mediale Recherche aber geht unvermindert weiter, um vor dem Hintergrund der undurchsichtigen Konzernstruktur Licht in die fragwĂŒrdigen Finanzströme und die politischen Verbindungen Benkos zu bringen. Denn die Folgen der Signa-Pleite sind gravierend: von Jobverlust betroffene BeschĂ€ftigte, verlorene Staatshilfen, Bauruinen, Politikversagen (und ja, auch geprellte Großinvestoren).

Hamburgs Polit-Elite in der Mitverantwortung

Im Januar 2024 rutschte Hamburgs Prestigeobjekt Elbtower, als eines der höchsten GebĂ€ude Deutschlands von einem Stararchitekten entworfen, in die Insolvenz. Heute symbolisiert die Bauruine sowohl den Niedergang der Signa-Gruppe als auch das herrschende autokratische PolitikverstĂ€ndnis, das Spekulanten Ă  la Benko den Weg zum Aufstieg ebnete. Denn gleich mehrere Erste BĂŒrgermeister sorgten in der Hansestadt dafĂŒr, dass eine deutsche Projektgesellschaft des Signa-Konzerns den Zuschlag fĂŒr das Bauvorhaben erhielt. Im Februar 2018 stellte der damalige Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD) im Rahmen einer Pressekonferenz das Projekt der Öffentlichkeit vor. Offensichtlich wurde der Kaufvertrag ĂŒber das GrundstĂŒck schon zwei Tage davor abgeschlossen; die Zustimmung der politischen Gremien der Stadt Hamburg erfolgte dagegen erst ein Jahr nach der PrĂ€sentation.

Ein ehemaliger Abgeordneter der hamburgischen BĂŒrgerschaft (CDU) berichtete gegenĂŒber der ARD, dass es sich um ein „absolutes Geheimverfahren“ gehandelt habe, um eine „große Mauschelei“, von der die Volksvertreter:innen nur durch Zufall erfahren hĂ€tten. Schon damals sei Signa ein „höchst problematischer Bewerber“ mit einem schlechten Ruf gewesen. 122 Millionen Euro sollte das BaugrundstĂŒck fĂŒr Signa kosten, zwei andere Bieter hĂ€tten bis zu 13 Millionen Euro mehr geboten, wie sich spĂ€ter herausgestellt habe.

Benkos Kontakt zu Scholz hatte der ehemalige SPÖ-Bundeskanzler und Signa-Lobbyist Alfred Gusenbauer hergestellt. Im MĂ€rz 2018 traf Benko dann Peter Tschentscher (SPD), den Nachfolger von Scholz als Erster BĂŒrgermeister. Bereits zwei Tage danach wurde ein Beratervertrag zwischen Signa und der Agentur von Ole von Beust (CDU), dem ehemaligen Ersten BĂŒrgermeister, abgeschlossen. Dessen Aufgabe bestand darin, Kontakte zur lokalen Politik und Verwaltung herzustellen und damit politische Zustimmung zu organisieren. Die Baugenehmigung, so eine ARD-Doku zum Fall Benko, sei dann unter Tschentscher in nicht einmal drei Monaten durchgewunken worden. Außerdem sei das Bauvolumen (BruttogeschossflĂ€che) nachtrĂ€glich um 18 Prozent vergrĂ¶ĂŸert worden, ohne dass sich der Kaufpreis erhöht hĂ€tte – nach Aussage des CDU-Abgeordneten ein völlig unĂŒbliches Verfahren im BaugeschĂ€ft und somit ein Geschenk an Benko.

 

Benko zieht Berliner Senat ĂŒber den Tisch

 Mit diesen Worten beschrieb schon Mitte 2023 Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, einen Deal zwischen dem Senat der Hauptstadt und der Signa Holding. Im August 2020 schloss der damalige rot-rot-grĂŒne Senat eine AbsichtserklĂ€rung („Letter of Intent“) mit Signa als EigentĂŒmerin des Warenhauskonzerns Galeria Karstadt Kaufhof ab. „ArbeitsplĂ€tze gegen Baugenehmigungen von Großprojekten“ hieß die Devise. Nach Gennburg war das Versprechen der Signa-Gruppe, vier Galeria-Standorte zu erhalten, rechtlich allerdings nicht bindend, die milliardenschweren Baugenehmigungen in Berlin dagegen sehr wohl rechtswirksam (vgl. MieterEcho und ARD-Doku). Das ernĂŒchternde Resultat: Vier Jahre spĂ€ter existieren zwei der vier Warenhaus-Filialen nicht mehr, zugesagte Millioneninvestitionen blieben zudem aus. Eine wichtige Rolle bei der gemeinsamen AbsichtserklĂ€rung von Senat und Signa dĂŒrfte die Unternehmensagentur Joschka Fischer & Company gespielt haben. Als Benkos Lobbyist in Berlin sollte der Ex-Außenminister die Kontakte zu den Politiker:innen auf Bezirksebene und im Abgeordnetenhaus herstellen und vor allem bei den GrĂŒnen fĂŒr ein besonders umstrittenes Bauvorhaben werben.

An der Grenze der Bezirke Neukölln und Kreuzberg wollte Signa vor einigen Jahren auf einer zentralen Liegenschaft ein altes Karstadt-GebĂ€ude abreißen, dann fĂŒr 500 Millionen Euro einen neuen GebĂ€udekomplex mit Kaufhaus, Hotel, BĂŒros und Wohnungen errichten. Im Rahmen eines stĂ€dtebaulichen „Werkstattverfahrens“ sollte frĂŒhzeitig eine breite Mitwirkungsmöglichkeit der Öffentlichkeit gewĂ€hrleistet werden – so die offizielle Darstellung. FĂŒr die PrĂ€sidentin der Architektenkammer Berlin, Theresa Keilhacker, kam das einer letztlich von Signa ĂŒber Jahre organisierten „gelenkten Beteiligung“ gleich. Die BĂŒrger:innen dĂŒrften bei solchen Verfahren zwar ihre Meinungen kundtun, so die Architektin, aber danach passiere alles hinter verschlossenen TĂŒren. Stadt und Investor wĂŒrden entscheiden, welche WĂŒnsche berĂŒcksichtigt wĂŒrden. Und im Gegensatz zu einem normalen Planungswettbewerb erfahre niemand außerhalb, warum (vgl. SĂŒddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024). Berlins Lokalpolitikerin Katalin Gennburg hĂ€lt diese Form der BĂŒrgerbeteiligung fĂŒr eine Farce. Sie wĂŒrde formal durchgefĂŒhrt und medial ausgeschlachtet, aber den Einwendungen der BĂŒrger:innen kein Gewicht einrĂ€umen: „Das Verfahren von Signa war von Beginn an antidemokratisch und ist ohne Abstimmungen im Parlament gelaufen.“ (MieterEcho)

 

Staatshilfen perdu

Die enge politische Verbindung von Benko zur Politik zeigt sich auch bei der GewĂ€hrung öffentlicher Hilfen. Im Zuge der Coronakrise pumpte die Bundesregierung wĂ€hrend der ersten beiden Insolvenzen von Galeria Karstadt Kaufhof ĂŒber den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) insgesamt  680 Millionen Euro in das Unternehmen – obwohl es sich bereits vor der Pandemie in einer wirtschaftlichen Schieflage befand und der WSF schon damals mit einer erneuten Insolvenz gerechnet hatte (vgl. Deutsche Wirtschaftsnachrichten). Nach Expertenmeinung handelte es sich dabei offensichtlich um einen Rechtsbruch, da Unternehmen nach  EU-Richtlinien nur unterstĂŒtzt werden dĂŒrfen, wenn sie noch ĂŒber ausreichend Eigenkapital verfĂŒgen: „Bei Galeria war das zu diesem Zeitpunkt bereits bei null.“ (ebd.) Das war kaum ein Problem fĂŒr Benko, denn der verfĂŒgte offenbar auch ĂŒber einen direkten Kontakt zum Ex-Finanzsenator Berlins, Ulrich Nußbaum, der als damaliger StaatssekretĂ€r im Bundeswirtschaftsministerium fĂŒr die Staatshilfen an Galeria Karstadt Kaufhof zustĂ€ndig war. Von den 680 Millionen an staatlichen Hilfen ist aber offenbar nur ein kleiner Teil ausreichend abgesichert worden, weshalb sie fĂŒr die Steuerzahler weitgehend verloren sein dĂŒrften. 

Benko interessierte sich nur wenig fĂŒr ein profitables langfristiges HandelsgeschĂ€ft, dagegen sehr fĂŒr wertvolle Immobilien und spekulative GeschĂ€fte. Nach der kompletten Übernahme von Galeria Karstadt Kaufhof im Jahr 2019 wurden der Warenhauskonzern und die Immobiliensparte unter dem Dach der Signa rechtlich voneinander getrennt. Damit mĂŒssen die KaufhĂ€user Miete an Signa zahlen, und zwar extrem hohe. Und die trieben den Handelskonzern in den Ruin. WĂŒrden marktĂŒbliche Mieten gezahlt, seien die WarenhĂ€user durchaus profitabel, bestĂ€tigte jĂŒngst der Galeria-Chef in einem Spiegel-Interview (sieben bis elf Prozent des Umsatzes, statt ĂŒber 30 Prozent wie im Falle eines Kölner Galeria-Hauses).

Die ĂŒberhöhten Mieten bliesen ĂŒber Jahre die Immobilienwerte auf, so dass Benko Investoren, Banken und Ratingagenturen von seinem GeschĂ€ftsmodell ĂŒberzeugen und immer wieder gĂŒnstig an frisches Geld kommen konnte. Auch die Millionen an Staatshilfen (Steuergelder), als StĂŒtzung der KaufhĂ€user gedacht, flossen direkt in die Kasse von Signa. Benko ließ sich also staatliche Gelder fĂŒr das HandelsgeschĂ€ft zuschießen, trieb damit die Immobilienwerte an und schĂŒttete zugleich auf dieser Basis bis 2021 jĂ€hrlich hohe dreistellige MillionenbetrĂ€ge als Dividenden an die Investoren aus.

 

Geld vom Insolvenzverwalter

Viel Geld fordern auch die mehr als 300 GlĂ€ubiger von der seit vergangenen November insolventen Signa Holding – insgesamt etwa 8,6 Milliarden Euro. Der Insolvenzverwalter erkennt derzeit davon jedoch nur knapp ein Prozent an: 80,3 Millionen. Die SĂŒddeutsche Zeitung findet es bemerkenswert, dass einige von denen, die Millionensummen von der Signa Holding fordern, maßgeblich dazu beigetragen haben, die Holding in die ZahlungsunfĂ€higkeit zu steuern. Ganz vorne mit dabei sei RenĂ© Benko selbst. Er wolle gewissermaßen von sich selber Geld, denn die Holding gehöre ihm mehrheitlich.

„Allein die österreichische Familie Benko Privatstiftung fordert 75 Millionen Euro von der Holding. Weitere 57 Millionen Euro wollen Gesellschaften aus einem weiteren privaten Stiftungskonstrukt mit dem Namen von Laura Benko. Rechnet man die Forderungen aller Signa-Tochtergesellschaften zusammen, kommt man schnell auf eine Summe von mehr als 1,6 Milliarden Euro. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass sich dahinter beim ein oder anderen Fall auch der Name RenĂ© Benko verbirgt. So viel, wie Benko von sich selber, will sonst niemand.“ (SĂŒddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024)

 

Quellen:

„RenĂ© Benko: Der Zocker und die Politik“, ARD-Doku (WDR und NDR), Erstausstrahlung 7. Februar 2024, ein Film von Ingolf Gritschneder und Georg Wellmann

https://www.ardmediathek.de/video/story/rene-benko-der-zocker-und-die-politik/ard/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2FyZC1zdG9yeS8yMDI0LTAyLTA3XzIyLTUwLU1FWg

Kristina Gnirke/Alexander KĂŒhn: „Wir trennen uns von FĂŒhrungskrĂ€ften“ (Interview mit Galeria-Chef Olivier van den Bossche und Insolvenzverwalter Stefan Denkhaus), Der Spiegel vom 3. Februar 2024, Seite 66-67

Lea Hampel: „Big in Berlin“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 16. Februar 2024

Michael KlĂ€sgen/Uwe Ritzer/Meike Schreiber: „Benko will viel Geld von Benko“, SĂŒddeutsche Zeitung vom 31. Januar 2024

„Klassenpolitik am Hermannplatz“, Interview mit Katalin Gennburg, MieterEcho, Juni 2023, Seite 12-13

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2023/me-single/article/klassenpolitik-am-hermannplatz/

Stephanie Schoen: „Signa-Pleite: Sind 660 Millionen Euro Steuergelder fĂŒr Galeria Karstadt Kaufhof futsch?“, Deutsche Wirtschaftsnachrichten vom 28. Februar 2024

https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/707608/signa-pleite-sind-680-millionen-euro-steuergelder-fuer-galeria-karstadt-kaufhof-futsch

Weitere informative Quellen:

„Der Elbtower in Hamburg: Desaster mit Ansage“, Handelsblatt-Crime (Podcast vom 11. Februar 2024)

https://www.handelsblatt.com/audio/crime/der-elbtower-in-hamburg-desaster-mit-ansage/29648986.html

Gudrun Giese, „Benko hat SchĂ€fchen im Trockenen“, junge Welt vom 29. Februar 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/470332.immobilienspekulation-benko-hat-schÀfchen-im-trockenen.html

 

 

 

 

 

 

Ein Sammelband zerlegt den Mythos ClankriminalitÀt

Im Herbst des vergangenen Jahres schlug Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, Angehörige sogenannter Clanstrukturen kĂŒnftig unabhĂ€ngig von einer strafrechtlichen Verurteilung abschieben zu können. Der Vorstoß sorgte fĂŒr Furore und kritische Stimmen wiesen darauf hin, dass völlig unschuldige Menschen ins Visier genommen wĂŒrden, bloß weil sie mit mutmaßlich oder tatsĂ€chlich kriminell agierenden Personen in verwandtschaftlichen Beziehungen stĂŒnden. Das gesellschaftliche Umfeld fĂŒr solche Forderungen ist derzeit jedoch gĂŒnstig. Denn fĂŒr die Mainstream-Medien und den Großteil der deutschen Kriminalistik scheint die Sache seit Jahren klar zu sein: „Clan“-Mitglieder schotten sich ab, leben demnach in sozialen Parallelstrukturen, verachten das staatliche Gewaltmonopol und erklĂ€ren ganze Stadtteile zu No-Go-Areas. Kurz: „Islamisch-arabische FamilienverbĂ€nde“ bilden die Hauptgefahr fĂŒr die öffentliche Sicherheit in Deutschland und zersetzen den Rechtsstaat.

Einen völlig anderen Blick wirft ein im Oktober 2023 veröffentlichter Sammelband auf die Debatte – denn er prĂ€sentiert vor allem die Perspektive der Betroffenen. Die PrĂ€misse des Buches ist, dass „ClankriminalitĂ€t“ als Konzept zu begreifen ist, das von Politik, Justiz, Polizei und Medien konstruiert wurde, um die Betroffenen rassistisch kriminalisieren und stigmatisieren zu können. Werden ethnisch homogene und zugleich kriminell aktive „Clans“ herbeiphantasiert und Ängste geschĂŒrt, so ein Fazit des Buches, lassen sich staatliche Kontrolle, Überwachung und erweiterte Befugnisse fĂŒr Polizei und Justiz leicht legitimieren. 

In 20 analytischen BeitrĂ€gen bietet der Band eine kritische Bestandsaufnahme der laufenden Diskussion und ĂŒberprĂŒft dabei die zentralen Annahmen, die dem Etikett „ClankriminalitĂ€t“ zugrunde liegen. Daneben dokumentieren Erfahrungsberichte Betroffener die von ihnen erlebte Polizeipraxis (Großrazzien bei Gewerbetreibenden, Hausdurchsuchungen) oder diskriminierende Erfahrungen vor Gericht. 

Die Herausgeber:innen stellen einleitend fest, dass die VerknĂŒpfung von KriminalitĂ€t mit ethnischen Zugehörigkeiten den titelgebenden „Generalverdacht“ gegen hunderttausende Menschen geschaffen habe, was empirisch falsch und zugleich „brandgefĂ€hrlich“ sei. Denn auch die AnschlĂ€ge der extremen Rechten (zum Beispiel in Hanau) folgen politisch-medialen Kampagnen, basieren auf völkischen Vorstellungen und haben „aus Menschen potenzielle Terrorist*innen, ‚Clanmitglieder‘, Islamist*innen und Staatsfeinde gemacht“. (Seite 137) 

Eines der fĂŒnf Kapitel des Sammelbandes beschreibt ausfĂŒhrlich die Geschichte der „Clan“-Kriminalisierung. Danach wurden vor allem Menschen, die dem BĂŒrgerkrieg im Libanon entkamen, in den 1990er Jahren in Deutschland systematisch diskriminiert. Ein Mittel war die Praxis der Kettenduldungen, das heißt die wiederholte, befristete Aussetzung der Abschiebung. Den daraus folgenden engen Familienzusammenhalt erklĂ€rt der Mitherausgeber Mohammed Ali Chahrour so: „Wer ohne Schutz und Zugehörigkeit lebt, wem IdentitĂ€t und Daseinsberechtigung abgesprochen werden, dem bleibt nur die Familie. (
) Wenn Menschen keinen Schutz durch Institutionen erfahren, dann kann nur noch der engste Kreis der NĂ€chsten jenes GefĂŒge von Verantwortung und SolidaritĂ€t bieten, jene Umwelt, die es zum Überleben schlichtweg braucht.“ (Seite 43) 

Die These liegt nahe, dass „ClankriminalitĂ€t“ vornehmlich als politischer Kampfbegriff zu werten ist – ein Aspekt, dem sich ein weiteres Kapitel widmet. Die Kriminologin und Juristin Laila Abdul-Rahman bestreitet dabei aus wissenschaftlicher Sicht die behauptete besondere GefĂ€hrlichkeit des PhĂ€nomens. Die amtlich registrierten Straftaten und TatverdĂ€chtigen unterschieden sich kaum von der Allgemein- und insbesondere der JugendkriminalitĂ€t. Nur sieben Prozent der Verfahren wegen Organisierter KriminalitĂ€t richteten sich bundesweit gegen „Clan-Gruppierungen“. (Seite 117) Familien selbst wĂŒrden zum Problem gemacht, die es zu bekĂ€mpfen gelte: „Somit kommt es am Ende kaum noch darauf an, wer tatsĂ€chlich Straftaten begeht, sondern eher darauf, ob man herkunftsbedingt einer Familie angehört, die dem Konstrukt der ‚ClankriminalitĂ€t‘ zugeordnet wird.“ (Seite 118) Auch andere BeitrĂ€ge des Bandes stellen sich der emotional aufgeladenen Debatte und dem Aufbau des Feindbildes „arabische Clans“ mit weiteren empirischen Daten entgegen. So kontrastiere der hohe Verfolgungsdruck mit den maximal 0,6 Prozent, die die „ClankriminalitĂ€t“ an allen Straftatermittlungen ausmache. (Seite 14) 

Die Juristin Mitali Nagrecha zieht gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Anthony Obst die Verbindung zum sogenannten Sozialbetrug, das heißt dem gesetzeswidrigen Bezug von Sozialleistungen. Detailliert weisen die Autor:innen in ihrem Artikel die verbreitete Darstellung zurĂŒck, nicht-deutsche und nicht-weiße TĂ€ter wĂŒrden mittels großflĂ€chiger Betrugsnetzwerke zu Reichtum gelangen, indem sie das Sozialleistungssystem missbrauchten. (Seite 231) Es handele sich dabei um ein Mediennarrativ, das nicht ohne politische Wirkung sei und nicht nur von der AfD fĂŒr ihr rassistisches Programm ausgeschlachtet wĂŒrde. Einmal mehr wird auch in diesem Beitrag deutlich, wie konstruierte Delikte empirisch nicht zu belegen sind. Denn der hĂ€ufig skandalisierte „Sozialbetrug mit Clan-Bezug“ lĂ€sst sich anhand offizieller polizeilicher Statistiken schlicht nicht begrĂŒnden. Das heißt: er kommt eher selten vor. (Seite 240) 

Das umfangreiche Buch setzt einen dringend notwendigen Kontrapunkt zum herrschenden – weitgehend rassistisch geprĂ€gten  – Diskurs ĂŒber „ClankriminalitĂ€t“ und versorgt die interessierte Leserschaft mit breit gefĂ€chertem und wissenschaftlich fundiertem Wissen, um sich dadurch gut gewappnet in die Auseinandersetzungen um die „Innere Sicherheit“ und die aktuelle deutsche Migrationspolitik einzumischen.

 

Mohammed Ali Chahrour/Levi Sauer/Lina Schmid/Jorinde Schulz/MichĂšle Winkler (Hrsg.):

Generalverdacht. Wie mit dem Mythos ClankriminalitÀt Politik gemacht wird.
Hamburg, Nautilus Flugschrift, 320 Seiten, 2023, 22 Euro

 

 

 

 

 

Couragiert gegen FinanzkriminalitÀt. Behördenversagen und staatlichen Blockaden zum Trotz

In einem Essay stimmte jĂŒngst der Publizist Heribert Prantl ein Loblied auf diejenigen an, ohne deren Zivilcourage, MissstĂ€nde aufzudecken, eine Gesellschaft nicht leben könne: „Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags.“ Es gelte, den „Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht“ zu achten und die betreffenden Aktivisten zu schĂŒtzen.

Eine am 10. August 2023 auf ARTE ausgestrahlte TV-Doku ĂŒber einen der grĂ¶ĂŸten Wirtschaftsskandale der Bundesrepublik beherzigt diesen Appell und wĂŒrdigt das langjĂ€hrige Engagement eines ehemaligen Kriminalhauptkommissars. Der hatte bereits in den frĂŒhen 1990er Jahren das betrĂŒgerische Handeln von Managern der damals weltweit agierenden Balsam AG mit Stammsitz im ostwestfĂ€lischen Steinhagen entlarvt. Die Parallelen zum Fall Wirecard seien frappierend, heißt es in der Reportage: „HĂ€tte man daraus nicht Lehren ziehen können?“

So unterschiedlich auch die Produktpaletten von Wirecard und der Balsam AG waren – digitale Finanzdienstleistungen hier, Bau von Sportböden dort: Gemeinsam ist den beiden Konzernen, dass sie einst fĂŒr grandiose Erfolgsgeschichten standen, dann aber ökonomisch kollabierten und zu Synonymen fĂŒr die grĂ¶ĂŸten Wirtschaftsverbrechen im Nachkriegsdeutschland wurden. So wie der ehemalige Wirecard-Boss Markus Braun derzeit in MĂŒchen wegen BilanzfĂ€lschung und Bildung einer kriminellen Bande vor Gericht steht, musste sich damals auch FirmengrĂŒnder Friedel Balsam strafrechtlich verantworten. Beide beteuern bzw. beteuerten ihre Unschuld. Wirecard-Finanzvorstand Jan Marsalek ist seit der Pleite des Konzerns im Jahr 2020 untergetaucht; der seinerzeit angeklagte Finanzchef der Balsam AG, der mit gefĂ€lschten AuftrĂ€gen 45 Banken um mehrere Milliarden DM betrogen hatte, wurde nach einjĂ€hriger Flucht im Jahr 2000 auf den Philippinen gefasst. Beide Konzerne erregten Aufsehen durch eine auffĂ€llig aggressive Wachstumsstrategie, die letztlich zwar auf Kosten der RentabilitĂ€t ging, zunĂ€chst aber Analysten, Investoren, Politik und Öffentlichkeit begeisterten. Das Image beider Unternehmen strahlte noch, als sie lĂ€ngst konkursreif waren. Weder die AufsichtsrĂ€te noch externe WirtschaftsprĂŒfer hatten jemals unlautere Praktiken beanstandet. Und in beiden FĂ€llen setzten erst einzelne Whistleblower die AufklĂ€rung ĂŒber kriminelle Machenschaften in Gang, wĂ€hrend staatliche Behörden, wie etwa die zustĂ€ndigen Staatsanwaltschaften, durch ausgeprĂ€gte Lethargie auffielen. Der Name Wirecard steht zudem fĂŒr die aggressive Verfolgung einzelner Hinweisgeber, investigativer Journalisten und sogenannter LeerverkĂ€ufer, die auf den Absturz des Konzerns wetteten. Die spektakulĂ€re Aufdeckung des Betrugsfalls Balsam ist vor allem einem hartnĂ€ckigen Polizisten zu verdanken, der im Zuge seiner AufklĂ€rungsarbeit ebenfalls auf massive WiderstĂ€nde stieß.

 

Balsam AG: ein Scheinriese

Ein Blick zurĂŒck: Anfang der 1990er Jahren galt die Balsam AG mit rund 1.500 Mitarbeitenden als WeltmarktfĂŒhrer im Sportbodenbau. Im November 1992 erstattete ein ehemaliger Angestellter des Unternehmens anonym eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Bielefeld, unterlegt mit einem prall gefĂŒllten Aktenordner voller Beweismittel. Die Anschuldigung: Die Balsam AG betrĂŒge im großen Stil, denn sie besorge sich auf kriminelle Weise Kapital in unglaublicher Höhe. Die TV-Dokumentation erklĂ€rt die VorgĂ€nge: Erhielt die Balsam AG AuftrĂ€ge, wurden sie von zahlreichen Banken per Kreditvergabe vorfinanziert – nach Vorlage der AuftragsbestĂ€tigungen. Diese wurden aber mit simplen Mitteln gefĂ€lscht: So wurden nur Kopien der Originale eingereicht, nachdem diese zuvor manipuliert worden waren (mit Schere und Klebstoff!). Offensichtlich forderten die finanzierenden Banken keine Originalbelege. Den Banken wurden PhantasiebetrĂ€ge mitgeteilt, die zum Teil ein Mehrfaches der jeweils korrekten Auftragssumme ausmachten, und auf dieser Basis ĂŒberhöhte Kredite vergeben. Um diese zurĂŒckzahlen zu können, mussten dann im Rahmen eines Schneeballsystems immer neue Kredite erschwindelt werden. Mit Teilen des „schmutzigen“ Geldes wurde aber auch auf den FinanzmĂ€rkten im Rahmen ganz legaler GeschĂ€fte spekuliert. Offenbar nicht ohne Erfolg, so dass dem Unternehmen kontinuierlich liquide Mittel zugefĂŒhrt werden konnten. Welche auch bitter nötig waren, denn seit Mitte der 1980er Jahre fuhr es stĂ€ndig Verluste ein.

Eigentlich ein höchst interessanter Fall fĂŒr den Bielefelder Oberstaatsanwalt – der jedoch als Reaktion auf die fundierte anonyme Anzeige nichts unternahm. „Die Anzeige war so abenteuerlich, auch von den Summen her, dass sie kaum glaubhaft erschien“, so der Staatsbeamte. Andere Quellen behaupten, der Grund wĂ€re wohl eher darin zu suchen, dass seine Frau im gleichen Tennisclub wie die Gattin des Balsam-Chefs aktiv gewesen war. Die nordrhein-westfĂ€lische Landesregierung deckte im Übrigen das passive Verhalten der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Landtagsfraktion der GrĂŒnen lautete seinerzeit lapidar, dass die Staatsanwaltschaft sich korrekt verhalten habe.

 

Ein Kriminalhauptkommissar lÀsst nicht locker

Der ebenfalls ĂŒber die VorgĂ€nge bei der Balsam AG informierte GrĂŒnder von Business Crime Control e.V., Hans See, hielt die VorwĂŒrfe dagegen aufgrund der auch ihm zugespielten Unterlagen fĂŒr glaubwĂŒrdig und reichte sie an ein Nachrichtenmagazin weiter. Nachdem auch die Redaktionen von Stern und Spiegel nicht reagiert hatten, wandte sich der Whistleblower schließlich an die Kriminalpolizei (vgl. Nicole Donath).

Karl-Heinz Wallmeier, als Polizeibeamter in Bielefeld fĂŒr den Bereich WirtschaftskriminalitĂ€t zustĂ€ndig, arbeitete sich akribisch in den Fall ein und ermittelte in den nĂ€chsten Jahren quasi im Alleingang und gegen den unkooperativen Staatsanwalt. Der, so Wallmeier, hĂ€tte seine Ermittlungsergebnisse blockiert und ihm mehrfach Akteneinsicht verweigert. Nachdem unerwartet das ZDF-Magazin „Frontal“ im Mai 1994, eineinhalb Jahre nach dem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft, einen Beitrag zu dem Wirtschaftsskandal sendete, legte wenige Tage spĂ€ter der Finanzvorstand Klaus Schlienkamp ein GestĂ€ndnis ab. Er gab zu, knapp zwei Milliarden DM erschlichen zu haben, um die bereits marode Firma am Laufen halten zu können.

Nach der Insolvenz des Unternehmens und fĂŒnf Jahre, nachdem der Betrug öffentlich geworden war, erging dann im Jahr 1999 nach fast 200 Gerichtstagen vor dem Bielefelder Landgericht ein Gerichtsurteil  – in Abwesenheit Schlienkamps, der sich zwischenzeitlich auf die Philippinen abgesetzt hatte. Der Finanzchef wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nach seiner spĂ€teren Festnahme, absaß.  Wallmeier hatte jahrelang seine Spur verfolgt und ihn dann in Asien aufgestöbert. FirmengrĂŒnder Balsam, konsequent seine Verantwortung leugnend, bekam acht Jahre. Polizist Wallmeier erhielt ĂŒbrigens im Jahr 1997 einen Preis von Business Crime Control – fĂŒr „besondere Verdienste“ bzw. „vorbildliche Zivicourage“ bei der AufklĂ€rung von Wirtschaftsverbrechen.

 

Wirecard attackiert kritische Stimmen

Ob gegen den ehemaligen CEO von Wirecard Markus Braun, der im laufenden MĂŒnchener Gerichtsverfahren ebenfalls hartnĂ€ckig jegliche Verantwortung fĂŒr das Unternehmensdesaster abstreitet, eine Haftstrafe verhĂ€ngt wird, bleibt abzuwarten. Genauso, ob sich der Wunsch vieler – auch einfach  sensationsgieriger – Menschen hierzulande erfĂŒllt, den flĂŒchtigen Jan Marsalek als mutmaßlichen Mastermind des Wirecard-Skandal irgendwann in einem deutschen Gerichtssaal vorgefĂŒhrt zu sehen bekommen.

Dass ĂŒberhaupt gegen die beiden und andere Wirecard-Manager ermittelt und gerichtlich verhandelt wird, geschieht trotz des viel zitierten multiplen Versagens verschiedener Institutionen. Denn Aufsichtsbehörden wie die BaFin, die Bundesregierung, private WirtschaftsprĂŒfer, Börsenanalysten, Investoren und große Teilen der Wirtschaftspresse stĂŒtzten das Betrugsgebilde. Dabei gab es schon frĂŒh Warnungen: Bereits 2008 zweifelten einzelne Analysten und Shortseller die Wirecard-Zahlen an, 2015 wiesen kritische Journalisten auf UnregelmĂ€ĂŸigkeiten in der Bilanz, 2019 warnte die renommierte Zeitung Financial Times (FT) in einer Artikelserie: „Doch kaum einer hörte zu. Kritiker bedrohte der Konzern offen durch Klageorgien, Rufmord, Beschattung, Gewalt.“ (Holtermann, Seite 15)

Im Jahr 2008 erhoben Vertreter der Schutzgemeinschaft der Kleinanleger (SdK) gemeinsam mit dem Analysten und Shortseller Tobias Bosler schwere VorwĂŒrfe gegen Wirecard (Ungereimtheiten in der Bilanz, verheimlichte Verbindungen in den GlĂŒcksspiel- und Pornosektor, GeldwĂ€sche). Der Aktienkurs brach daraufhin ein, ein Viertel des Börsenwerts ging verloren. 2010 zeigte Bosler Wirecard bei der Staatsanwaltschaft MĂŒnchen und der BaFin an. Wieder sackte der Aktienkurs ab. (Weiguny/Meck, Seite 200f.) Die Ermittlungen aber verliefen im Sande. Wirecard reagierte seinerseits mit einer Strafanzeige wegen Insiderhandel und Marktmanipulation – und schickte Bosler, um ihn einzuschĂŒchtern, einige SchlĂ€gertypen aus der Halbweltszene ins Haus. Da LeerverkĂ€ufer, die auf fallende Aktienkurse wetten und daraus ihre Profite ziehen, nicht als moralisch integre Leitbilder taugen, hatte Wirecard letztlich leichtes Spiel und konnte sich als ehrenwertes Unternehmen inszenieren: „Wieder zieht die Firma in einen Krieg mit den Spekulanten. Das Droh-Szenario: Böse Shortseller greifen braven deutschen Konzern an.“ (Bergermann, Seite 84)

In Fraser Perring, einem britischen Shortseller, der im Februar 2016 einen kritischen Report ĂŒber Wirecard herausgebracht hatte, erkannte der Konzern einen neuen Feind und zugleich „ein Geschenk des Himmels“ (Bergermann, Seite 141). Denn  durch die Jagd auch auf diesen„Spekulanten“ konnte Wirecard von seinen kriminellen Praktiken ablenken. Perring wurde nach eigenen Angaben permanent verfolgt, auch von der Finanzaufsicht verklagt, und erlitt in der Folge einen Schlaganfall.

Maßgeblich zur Aufdeckung trug vor allem der Whistleblower Pav Gill aus Singapur bei, der dort als Leiter der konzerninternen Rechtsabteilung darauf zu achten hatte, dass bei Wirecard alles mit rechten Dingen zuging. Schon kurz nach seinem Eintritt in das Unternehmen 2017 wurde ihm klar, dass zumindest Teile des AsiengeschĂ€fts von Wirecard nur auf dem Papier existierten. Seine Erkenntnisse offenbarte er dem britischen Journalisten Dan McCrum von der FT. In einem Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard bestĂ€tigte Gill im Mai 2021, dass er von Wirecard „unerbittlich“ eingeschĂŒchtert worden war: „Ich habe immer noch Screenshots von Telegram-Nachrichten, von Personen aus der Compliance-Abteilung von Wirecard, die mir sagten, ich solle ‚an meine Mutter ‚denken‘ und ‚wachsam sein‘, nachdem die ersten drei Artikel von der ‚Financial Times‘ veröffentlicht wurden.“ Auch ihn traf ein stressbedingter Schlaganfall.

Im November 2020 erklĂ€rte Dan McCrum gegenĂŒber dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, Wirecard habe offenbar ab dem Jahr 2010 seine Gewinne gefĂ€lscht. Bereits Anfang 2019 hatte der Journalist mit einer Artikelserie fĂŒr Aufsehen gesorgt, die letztlich entscheidend zum Einsturz des LĂŒgengebĂ€udes Wirecard beitrug. Die Recherchen, die zum Teil auf Informationen des Whistleblowers aus Singapur und GesprĂ€chen mit Shortsellern basierten, fĂŒhrten zu Hackerangriffen auf die Redaktion, Beschattungen seitens Privatdetektiven sowie „aggressiven Briefen“ von Anwaltskanzleien. Der Vorwurf lautete, er habe mit Shortsellern „gemeinsame Sache“ gemacht oder sich von diesen „ausnutzen lassen“. (Deutscher Bundestag, Seite 145ff.) UnterstĂŒtzt wurde Wirecard dabei einmal mehr durch die BaFin, die im April 2019 bei der Staatsanwaltschaft MĂŒnchen wegen des Verdachts der Marktmanipulation Strafanzeige gegen McCrum und eine seiner Kolleginnen erstattete..

Im Wirecard-Untersuchungsausschuss wurde im Februar 2021 auch eine Sachbearbeiterin der Deutschen Bundesbank vernommen, die mit der laufenden Aufsicht ĂŒber die Wirecard Bank AG befasst war. FĂŒnf Jahre zuvor hatte sie eine schriftliche Zusammenfassung der Artikelserie des FT-Journalisten McCrum erstellt. (Deutscher Bundestag, Seite 873) Die Berliner Zeitung berichtete im Februar 2021 ĂŒber ihren Auftritt vor den Parlamentariern: „Auf nur sieben Seiten, verfasst im Jahr 2016, hat eine junge Bankerin das gesamte Wirecard-Fiasko erkannt, niedergeschrieben und an ihre Vorgesetzten weitergeleitet. Geschehen ist nichts. Noch am 7. September 2017 zeigte sich Rainer Wexeler, Vorstand bei der Wirecard-Bank, in einer internen Email an die Wirecard-VorstĂ€nde Burkhard Ley und Alexander von Knoop selbstsicher: Er habe ein ‚tolles, ehrliches und offenes GesprĂ€ch‘ mit dem Bafin-Manager Jochem Damberg gefĂŒhrt, der ‚sehr auskunftsfreudig‘ gewesen sei. FĂŒr die Bundesbank dagegen gibt es in der Email nur Spott: ‚Die Deutsche Bundesbank zickt herum wegen der fachlichen Kompetenz im KreditgeschĂ€ft.‘ Und: ‚Die Ausarbeitung hat Frau Folter gemacht, die kleine Maus.‘ Und weiter, offenkundig zufrieden: ‚Herr Damberg teilt das nicht…Herr Damberg sagte auch klar und deutlich, die Entscheidung hat die Bafin, nicht die Deutsche Bundesbank.‘“ [1]

Fazit: Um ein Mindestmaß an AufklĂ€rung ĂŒber kriminelle Praktiken von Unternehmen sicherstellen zu können, ist offiziellen Institutionen nicht zu trauen. Deshalb ist die Öffentlichkeit auf andere Quellen angewiesen – auch wenn Shortseller in erster Linie eigene monetĂ€re Interessen verfolgen oder ĂŒber interne MissstĂ€nde informierte Angestellte betrĂŒgerischer Firmen sich vielleicht erst spĂ€t zum Widerstand entschließen. Whistleblower und andere kritische Stimmen verdienen Respekt und Schutz. Denn es bleibt gefĂ€hrlich, Wirtschaftsverbrechen öffentlich zu machen.

Anmerkungen:

[1]  vgl. auch: Herbert Storn: Business Crime: Skandale mit System, Marburg 2021, Seite 53f.

Quellen:

Melanie Bergermann/Volker ter Haseborg: Die Wirecard-Story, MĂŒnchen, 2020

„Das Milliarden-Ding – Wirtschaftsverbrechen mit Schere und Klebstoff“, ein Film von Simone Schillinger, im Auftrag des WDR und in Zusammenarbeit mit ARTE, 2022

Deutscher Bundestag: Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses, Drucksache 19/30900, 22. Juni 2021  

https://dserver.bundestag.de/btd/19/309/1930900.pdf

Nicole Donath: „Akte Balsam nun geschlossen“, NW Nachrichten (Internetseite der Neuen WestfĂ€lischen), 7. MĂ€rz 2014

https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/10646076_Akte-Balsam-nun-geschlossen.html

Felix Holtermann: Geniale BetrĂŒger. Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt, Frankfurt am Main, 2021

Michael Maier: „Wirecard: Junge Bankerin zeigt, wie einfach Betrug zu durchschauen gewesen wĂ€re“, Berliner Zeitung (Online) vom 26. Februar 2021

https://www.berliner-zeitung.de/wirtschaft-verantwortung/wirecard/wirecard-junge-bankerin-zeigt-wie-einfach-betrug-zu-durchschauen-gewesen-waere-li.142712

Bettina Pfluger: „Whistleblower Pav Gill: ‚Ich habe Wirecard zu Fall gebracht‘“, Der Standard (Online) vom 21. MĂ€rz 2021

https://www.derstandard.de/story/2000126818501/whistleblower-pav-gill-ich-habe-wirecard-zu-fall-gebracht

Heribert Prantl, „Der kleine große Widerstand“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 14. August 2023, S. 4-10

https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/whistleblowing-2023/524075/der-kleine-grosse-widerstand-essay/

Bettina Weiguny/Georg Meck: Wirecard. Das Psychogramm eines Jahrhundertskandals, MĂŒnchen, 2021

 

 

 

 

 

Der Kampf um das fossile GeschÀftsmodell. Eine Studie untersucht die Macht der Gaslobby

Die fossile Energiewirtschaft steht unter erheblichem Druck. Zum einen wird sie von denjenigen attackiert, die wirksamen Klimaschutz unter kapitalistischen Bedingungen nicht fĂŒr möglich halten. Zum anderen drĂ€ngen Stimmen in den Vordergrund, die den Kapitalismus eher als Lösung des Problems sehen denn als Zerstörer der planetarischen Lebensgrundlagen. WĂŒrden Investitionen in erneuerbare Energien gegenĂŒber fossilen grĂ¶ĂŸere Profite versprechen, heißt es etwa im Wochenblatt Die Zeit, sei international ein Wettrennen um die Erneuerbaren zu erwarten – und damit eine rettende Klimaschutz-Dynamik auf Basis nachhaltiger EnergietrĂ€ger (vgl. Die Zeit vom 23. Februar 2023).

Es wundert also nicht, dass die Gaswirtschaft erhebliche Anstrengungen unternimmt, um die eigene Existenz zu legitimieren. Mit Erfolg, denn ihr Lobbyismus zeigt offenbar durchschlagenden Erfolg, wie eine Mitte Februar veröffentlichte umfangreiche Studie des Vereins LobbyControl eindrĂŒcklich belegt. Auf Basis einer Auswertung der Daten des seit ĂŒber einem Jahr bestehenden Lobbyregisters werden die KanĂ€le untersucht, ĂŒber die die großen deutschen Gaskonzerne und ihre LobbyverbĂ€nde Einfluss auf die Politik nehmen. Dabei liegt ihr Fokus auf den einflussreichsten SchlĂŒsselfiguren und deren Netzwerken. Insbesondere habe der massive Lobbyeinfluss dazu gefĂŒhrt, dass die „ErzĂ€hlung“, fossiles Erdgas sei ein klimafreundlicher EnergietrĂ€ger und somit wichtiger Teil der Energiewende, von der Bundesregierung ĂŒbernommen worden sei – auf Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien. Dieser Einfluss setze sich aktuell beim Aufbau der LNG-Infrastruktur fort.

LobbyControl beschreibt aber nicht nur bestehende MissstÀnde, sondern beansprucht auch, die notwendigen politischen VerÀnderungen im VerhÀltnis von Politik und Gasindustrie in Form eines Forderungskatalogs aufzeigen zu können.

Wesentliche Ergebnisse der Studie sind im Folgenden zusammengefasst:

– Viele Treffen und privilegierte ZugĂ€nge

Nach weitgehender Stilllegung der „Russland-Netzwerke“ wirkt der Lobbyismus in der aktuellen Regierung fort. So trafen sich von Dezember 2021 bis September 2022 Vertreter:innen der großen Gaskonzerne im Schnitt einmal tĂ€glich mit Spitzenpolitiker:innen der Bundesregierung (mehr als 260 Mal). Wie es in der Studie heißt, sei das deutlich mehr als bei den VorgĂ€ngerregierungen. Mit UmweltverbĂ€nden oder anderen energiepolitischen Akteuren gab es dagegen nicht annĂ€hernd so viele Treffen. Die Lobbymacht der großen Konzerne wie Uniper, Wintershall DEA oder RWE wurde zudem durch energieintensive Unternehmen wie BASF unterstĂŒtzt. Gemeinsam mit der Gasindustrie ĂŒbten sie Druck auf die Politik aus, um auf genĂŒgend kostengĂŒnstiges Gas zugreifen zu können.
Die Gaskonzerne sind weiterhin Ă€ußerst aktiv, vor allem auch mit Blick auf das Projekt eines massiven Ausbaus der LNG-Infrastruktur, das große neue fossile GeschĂ€ftsfelder eröffnen soll.

Als besonders pikantes Detail sei auch genannt, dass die Deutsche Energie-Agentur (DENA) der Gasindustrie einen privilegierten Zugang in das Bundeswirtschaftsministerium anbietet. Bei der DENA handelt es sich um eine im Jahr 2000 von der rot-grĂŒnen Bundesregierung unter Gerhard Schröder gegrĂŒndete, von der Rechtsform her private, tatsĂ€chlich aber mehrheitlich bundeseigene GmbH. Ihre Aufgabe besteht darin, die Regierung in energiepolitischen Fragen zu beraten. Stattdessen aber, schreibt LobbyControl, fungiere sie als „Lobbykanal fĂŒr Unternehmen“. Soll heißen: Die Regierung toleriert den Gaslobbyismus nicht nur, sondern fördert ihn sogar. Das Unternehmen sorgt dafĂŒr, dass im Rahmen verschiedener Austauschformate einseitig Wirtschaftsvertreter:innen in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden, wĂ€hrend Umwelt- oder VerbraucherschutzverbĂ€nde weitgehend außen vor bleiben. Die DENA wird folgerichtig nicht nur vom Bundeswirtschaftsministerium, sondern auch aus privaten Quellen finanziert (z.B. von den Energiefirmen Wintershall DEA, Eon oder Exxon Mobil).

Ein Zitat aus der Studie:
„Auf diese Weise entstand auch die Gasstrategie der Bundesregierung: Sie wurde weitgehend von der Industrie selbst formuliert und rĂ€umte Gas eine entsprechend große Rolle in der deutschen Energiepolitik ein. Auch unter Wirtschaftsminister Habeck wirken die gasfreundlichen Netzwerke und Strukturen rund um das Ministerium weiter – sei es durch gasfreundliches Personal im Ministerium, durch weiterhin aktive LobbyverbĂ€nde mit guten ZugĂ€ngen ins Ministerium und weiterhin bestehende gasfreundliche Strukturen innerhalb der DENA. Gaskonzerne sind infolge der Energiekrise noch enger in die Arbeit des Wirtschaftsministeriums sowie des Bundeskanzleramts eingebunden als zuvor.“ (Seite 7)

– Hohe Ausgaben

74 Unternehmen und zwölf LobbyverbĂ€nde der Gaswirtschaft, die sich im Lobbyregister finden lassen, gaben im Jahr 2021 zusammen rund 40 Millionen Euro pro Jahr fĂŒr Lobbyarbeit aus und beschĂ€ftigten dabei 426 Personen. Hinzuzurechnen sind weitere Millionensummen aus der gasverbrauchenden Industrie sowie die Lobbyausgaben von Gazprom und dessen Tochterkonzernen, die sich seinerzeit nicht ins Lobbyregister eingetragen hatten. Zum Vergleich: Die drei grĂ¶ĂŸten UmweltverbĂ€nde, die sich fĂŒr den Ausstieg aus dem fossilen EnergietrĂ€ger Gas engagieren, verfĂŒgten in dieser Zeit insgesamt nur ĂŒber 1,5 Millionen Euro fĂŒr ihre Lobbyarbeit (Deutsche Umwelthilfe, Greenpeace und BUND). Laut Lobbyregister arbeiten lediglich zwischen 83 und 110 Lobbyisten fĂŒr diese drei Organisationen.

– Enge personelle Verbindungen

LobbyControl spricht von mindestens 30 ehemaligen Politiker:innen, die als gut bezahlte Seitenwechsler fĂŒr die Lobbyabteilungen der Gasindustrie arbeiten. Neben Gerhard Schröder, der dem „russischen Gas“ den Zugang zu wichtigen SPD-Minister:innen ebnete, handelt es sich zum Beispiel um Kerstin Andreae, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete der GrĂŒnen nun die mĂ€chtige Lobbyorganisationen BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) leitet und ĂŒber einen guten Draht ins grĂŒn gefĂŒhrte Wirtschaftsministerium verfĂŒgt. Aus dem christdemokratischen Spektrum fungiert der ehemalige CDU-Abgeordneter und parlamentarische StaatssekretĂ€r Friedbert PflĂŒger als Aufsichtsratsvorsitzender des Lobbyverbands Zukunft Gas.

Auch zwischen Wirtschaftsministerium und Gasbranche gebe es enge Verflechtungen, schreibt LobbyControl. Minister Habeck (Die GrĂŒnen) habe zwar nach Amtseintritt die FĂŒhrungskrĂ€fte seines Hauses ausgewechselt, die Abteilung „Wasserstoff und Gas, Energieeffizienz in Industrie und Gewerbe“ werde aber auf Ebene der Unterabteilungs- und Referatsleitung noch immer mit Personen besetzt, „die ĂŒber Jahre enge Verbindungen mit der Gasindustrie gepflegt haben“ (Seite 80).

– Die Forderungen von LobbyControl

Die Gaskonzerne drĂ€ngen nachdrĂŒcklich auf den Erhalt ihres fossilen GeschĂ€ftsmodells. Soll ein Ausstieg aus dem fossilen EnergietrĂ€ger Gas aber gelingen, so LobbyControl, mĂŒssten die Lobbynetzwerke zurĂŒckgedrĂ€ngt werden. Zumindest sei „mehr Ausgewogenheit in der Beteiligung verschiedener Interessengruppen sowie mehr Transparenz ĂŒber politische Entscheidungsprozesse“ (Seite 5) zu gewĂ€hrleisten. Insbesondere, da sich seit Beginn des Ukraine-Krieges die Kontakte zwischen Gasindustrie und Politik intensiviert hĂ€tten. Zudem fordert LobbyControl eine sogenannte Lobby-Fußspur, „die Kontakte zwischen Spitzenpolitiker:innen und -beamten mit Lobbyakteuren offenlegt und sichtbar macht, welche Interessen von Unternehmen oder VerbĂ€nden in konkreten Gesetzgebungsprozessen BerĂŒcksichtigung gefunden haben und welche nicht“ (Seite 43). Weitere Forderungen lauten: Das Sponsoring sollte offengelegt und begrenzt, die bestehenden Regeln fĂŒr Seitenwechsel aus der Politik in die Wirtschaft und in Lobbyjobs verschĂ€rft, Akteure mit Anliegen in den Bereichen Klima-, Umwelt- und Verbraucherschutz, Soziales und Menschenrechte in gleichem Maße angehört werden. Außerdem sollen Lobbynetzwerke und -arbeit autoritĂ€rer Staaten deutlich stĂ€rker kritisch in den Blick genommen sowie die Macht von Konzernen ĂŒber das Kartellrecht und weitere Regulierungsmaßnahmen eingeschrĂ€nkt werden.

– Fazit

Bei der Vorstellung der Studie in Berlin verwies Co-Autorin Nina Katzemich darauf, dass sich die Gaslobby als Partner der erneuerbaren Energien inszeniere. Dabei werde bewusst vernachlĂ€ssigt, dass Gas ein fossiler und eben kein nachhaltiger EnergietrĂ€ger sei (vgl. Berliner Zeitung vom 15. Februar 2023). Das Narrativ von Erdgas als vermeintlich saubere und klimafreundliche „BrĂŒckentechnologie“ habe sich erfolgreich durchgesetzt. Völlig zu Unrecht: Die letzten Bundesregierungen, heißt es schon zu Beginn der Studie, hĂ€tten es verpasst, rechtzeitig den Umstieg auf erneuerbare Energien einzuleiten. Die Folgen fĂŒr die Gesellschaft seien verheerend: „Es drohen weitere erhebliche KlimaschĂ€den, milliardenschwere Fehlinvestitionen zulasten der Steuerzahler:innen, enorme Preissteigerungen sowie möglicherweise sogar VersorgungsengpĂ€sse.“ (Seite 5)

Die vorliegende 108-seitige Studie von LobbyControl weist nach: Die Erdgaslobby ist so einflussreich wie eh und je. Die akribische Untersuchung des Transparenz-Vereins leistet aber das, was sie verspricht: Sie wirft ein erhellendes Licht auf die „Schattenpolitik“ der Giganten des Gasmarkts.Quellen:

„Pipelines in die Politik. Die Macht der Gaslobby in Deutschland“, hrsg. von LobbyControl e.V. (Autorinnen: Dr. Christina Deckwirth und Nina Katzemich), Köln, Februar 2023

Jochen Bittner: „Der Weltuntergang fĂ€llt aus“, Die Zeit vom 16. Februar 2023

Christine Dankbar: „Neue Studie: LobbyControl warnt vor fortgesetztem Einfluss der Gasindustrie“, Berliner Zeitung (Online) vom 15. Februar 2023

Der Artikel ist der Beilage der Zeitschrift Stichwort Bayer, Ausgabe 2/2023 entnommen.

 

 

Anklageschrift gegen fĂŒhrenden Unternehmensberater

Bei Unternehmen und staatlichen Institutionen geht ohne Unternehmensberatung hĂ€ufig gar nichts. Unternehmensberater wie McKinsey & Co. prĂ€gen deshalb sowohl Wirtschaftsprozesse als auch gesellschaftliche LebensverhĂ€ltnisse entscheidend mit – und verdienen damit Unsummen an Geld. In ihrem im Oktober 2022 zuerst in den USA veröffentlichten „Schwarzbuch McKinsey“ legen die beiden Investigativ-Journalisten der „New York Times“, Walt Bogdanich und Michael Forsythe, nun eine Skandalchronik der weltweit wichtigsten Unternehmensberatung vor. Es ist das bisher aktuellste einer ganzen Reihe von in den vergangenen Jahren erschienenen kritischen BĂŒchern verschiedener Autor:innen ĂŒber McKinsey – einem Unternehmen, das wohl stellvertretend fĂŒr die gesamte Consulting-Branche angeprangert werden soll.

Nach eigenen Angaben arbeiten rund 35.000 Mitarbeiter:innen von McKinsey in mehr als 130 StĂ€dten und 65 LĂ€ndern. Die beiden Autoren gehen primĂ€r der Frage nach, mit welchen Methoden dieser riesige und mit ĂŒber zehn Milliarden Dollar Jahresumsatz international fĂŒhrende Strategieberater vorgeht und welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen seiner TĂ€tigkeit bisher beobachtet werden konnten. Geschieht etwas Skandalöses, stehen die Kunden von McKinsey in der Kritik, da sie fĂŒr die Folgen ihres Handelns verantwortlich sind. Die Berater, die sie instruiert haben, bleiben dagegen weitgehend verborgen und damit aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik. Der Anspruch der amerikanischen Journalisten ist es deshalb, die „fragwĂŒrdigen Praktiken“ (Untertitel des Buches) McKinseys aus den letzten Jahrzehnten auf Basis umfangreicher Recherchen ans Licht zu zerren (oder auch der Öffentlichkeit bereits bekannte FĂ€lle der Öffentlichkeit wieder in Erinnerung zu rufen). Die beiden Autoren haben (laut Schutzumschlag des Buches) Hunderte GesprĂ€che mit Insidern gefĂŒhrt und „zehntausende vertrauliche Dokumente“ eingesehen mit dem Ziel, weiter am Lack von McKinsey zu kratzen.

Bogdanich und Forsythe listen in dem Buch detailliert auf, bei welchen strittigen oder kriminell anmutenden AktivitĂ€ten von Unternehmen Mitarbeiter:innen von McKinsey ihre Finger mit im Spiel hatten. AngefĂŒhrt wird eine Vielzahl von FĂ€llen, hier nur einige Beispiele:
2014 engagierte der Konzern U.S. Steel McKinsey, um den Stahlkonzern wieder auf Gewinnkurs zu bringen. Die Berater implementierten einen „transformativen“ Businessplan, um unter anderem Wartungskosten zu senken. Dutzende Mechaniker wurden entlassen, Hunderte beruflich herabgestuft. Tödliche ArbeitsunfĂ€lle waren die voraussehbare Folge.
In den Freizeitparks von Disneyland wurde ebenfalls die „wirtschaftliche Effizienz“ durch einen Umbau der Wartungsarbeiten gesteigert. Ein Jahr lang hatten Consultants von McKinsey die Walt Disney Company analysiert; die wenig ĂŒberraschenden Empfehlungen folgten 1997: die Instandhaltung von FahrgeschĂ€ften sollte eingeschrĂ€nkt, ArbeitsplĂ€tze gestrichen und Aufgaben an externe Dienstleister outgesourct werden. Auch hier fĂŒhren die Autoren die nachfolgenden tödlichen UnfĂ€lle in einzelnen VergnĂŒgungsparks (z. B. in einer Achterbahn) zurĂŒck auf das „eiskalte KostensenkungskalkĂŒl, das die Firma zum Klassenbesten der Unternehmensberatungen gemacht hatte“. (Seite 31)
Seit der globalen Finanzkrise spielte McKinsey eine entscheidende Rolle bei der Umgestaltung des britischen Gesundheitsdienstes „National Health Service“ (NHS). Wegen dem gewaltigen Haushaltsdefizit sollten umfangreiche KĂŒrzungen des NHS-Budgets vorgenommen werden. McKinsey schlug im MĂ€rz 2009 Einsparungen in Höhe von 20 Milliarden Pfund vor; diese sollten durch den Abbau von rund zehn Prozent der NHS-Belegschaft ermöglicht werden. Die beiden Autoren verdeutlichen, wie eng mittlerweile die Bindung der britischen Regierung mit dem privaten Consulting ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Regierung den nationalen Gesundheitsdienst noch ganz ohne die Hilfe von Beratern auf die Beine stellen. 313 Millionen Pfund gab der NHS jetzt allein im Jahr 2010 fĂŒr Consultingfirmen aus.
Als schockierendster Fall des Buches gelten McKinseys Beratungsleistungen fĂŒr die US-amerikanische Firma Purdue Pharma, einem Hersteller von Schmerzmitteln mit hohem Suchtpotenzial (Opioiden). Von 2004 bis 2019 erhielt McKinsey insgesamt 83,7 Millionen Dollar Beratungshonorar, um „das Verlangen der Nation nach dem Schmerzmittel OxyContin“ (Seite 198) zu schĂŒren. Die Autoren sprechen von 750.000 Menschen, die infolge einer Epidemie starben, die damals durch den Verkauf des Schmerzmittels in Gang gesetzt wurde.

McKinsey, so heißt es in dem Buch weiter, habe auch die amerikanische Aufsichtsbehörde beraten, deren Aufgabe es war, die Auswirkungen des Skandals in den Griff zu bekommen: „Auch hier kam die Doppelrolle von McKinsey als Berater der Regulierten und der Regulierungsbehörde ins Spiel.“ (Seite 220) Gleiches geschah in China, wo McKinsey einen staatlichen Baukonzern beim Aufbau militĂ€rischer Infrastruktur beriet, zugleich aber auch fĂŒr das US-Pentagon arbeitete, die die chinesischen PlĂ€ne als Bedrohung auffasste. Zur GeschĂ€ftspolitik von McKinsey gehört es offensichtlich, zur gleichen Zeit verschiedene Unternehmen zu beraten, die auf demselben Markt miteinander konkurrieren.
McKinsey arbeitete auch fĂŒr die deutsche Spitzenpolitik: Insbesondere die Bundesregierung gehört zu ihren Dauerklienten, so auch das Bundesverteidigungsministerium. Zur Erinnerung: Nachdem Ursula von der Leyen im Jahr 2013 das Ministerium ĂŒbernommen hatte, holte sie selbst Unternehmensberatungen ins Haus, um Probleme im Beschaffungswesen zu lösen. In der 2018 bekanntgewordenen „BerateraffĂ€re“ wurde von einem eingesetzten Untersuchungsausschuss zwar kein strafbares Fehlverhalten der damaligen Verteidigungsministerin festgestellt. Deutlich wurde aber, dass unter ihrer Verantwortung McKinsey „mehrere auf unrechtmĂ€ĂŸige Weise freihĂ€ndig vergebene AuftrĂ€ge erhalten hatte“ (Seite 386). Vergaberegeln seien schlicht missachtet worden. SĂŒffisant gehen die Autoren in diesem Zusammenhang auf die besonderen Beziehungen von der Leyens – wĂ€hrend ihrer Zeit als Bundesministerin und der Auftragsvergaben an McKinsey – zu der Beratungsfirma ein: „WĂ€hrend sie als Verteidigungsministerin fungierte, waren zwei ihrer Sprösslinge fĂŒr McKinsey tĂ€tig“. (Seite 387)

TatsĂ€chlich gilt McKinsey nach wie vor als attraktive Adresse fĂŒr Neueinsteiger, da die Bewerberzahlen trotz hartem Auswahlverfahren gigantisch zu sein scheinen. Vielleicht wird sich das aber Ă€ndern, denn die Kritik an dem BranchenfĂŒhrer wird immer lauter. Die Diskrepanz zwischen Eigendarstellung und tatsĂ€chlicher Beratungspraxis sticht einfach zu sehr ins Auge. So hĂ€lt die Skandalfirma an ihrem Image als „werteorientiert“ fest und stellt sich etwa auf ihrer Webseite als „values-driven organization“ vor, die „high ethical standards“ folgt. Die akribisch vorbereitete und umfangreiche „Anklageschrift“ der beiden Autoren dementiert diese Selbstinszenierung vehement.

Walt Bogdanich/Michael Forsythe: Schwarzbuch McKinsey. Die fragwĂŒrdigen Praktiken der weltweit fĂŒhrenden Unternehmensberatung, Econ, Berlin, 2022, 496 Seiten, 24,99 Euro

Landesbanken und Cum-Ex: Versagende Kontrolle und untÀtige Justiz

Im November 2020 wurde in Hamburg der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Komplex eingerichtet. Er soll klĂ€ren, ob fĂŒhrende SPD-Politiker in den Jahren 2016 und 2017 Einfluss auf Steuerentscheidungen bei der Privatbank Warburg genommen hatten. Zwei Jahre spĂ€ter, am 17. November 2022, wurde beschlossen, dass der Arbeitsauftrag fĂŒr den Ausschuss ausgeweitet wird. Nun sollen die Abgeordneten auch die GeschĂ€fte der ehemaligen landeseigenen HSH Nordbank untersuchen.

Eine große internationale Wirtschaftskanzlei hatte bei der HSH bereits im Jahr 2013 insgesamt 29 Transaktionen festgestellt, bei denen etwa 112 Millionen Euro an Kapitalertragsteuern zu Unrecht erstattet worden waren. Im Jahr darauf zahlte die Bank das Geld inklusive Zinsen an das Finanzamt zurĂŒck – insgesamt 127 Millionen Euro. Der Fall war damit aber noch nicht abgeschlossen. So schaltete sich etwa im Jahr 2021 – im Zuge von Cum-Ex-Ermittlungen – die Kölner Staatsanwaltschaft ein und veranlasste eine Durchsuchung bei der HSH-Nachfolgerin Hamburg Commercial Bank. Durch den Untersuchungsausschuss steht die HSH jetzt erneut im öffentlichen Fokus – nachdem sie in ihrer Geschichte schon hĂ€ufig fĂŒr Aufsehen gesorgt hat:

„Zur Erinnerung: Die kleine Landesbank hatte sich zum grĂ¶ĂŸten Schiffsfinanzierer der Welt aufgeschwungen und dabei völlig ĂŒbernommen, sie hatte in windige Immobiliendeals rund um den Globus investiert und Skandal an Skandal gereiht. Am Ende blieben fĂŒr die beiden BundeslĂ€nder trotz des Verkaufs nichts als Ärger und Milliarden-Schulden. Und ausgerechnet diese HSH steigt nun wie ein Zombie aus ihrem Grab.“ [1]

Dass ausgerechnet Landesbanken kriminelle GeschĂ€fte zu Lasten der öffentlichen Hand einfĂ€delten, obwohl sie dem Staat selbst gehören und zugleich wĂ€hrend der Finanzkrise staatliche Milliardenhilfen in Anspruch genommen hatten, empörte die kritische Öffentlichkeit in den letzten Jahren allerdings nur begrenzt. Dass die VorgĂ€nge nicht vollends in Vergessenheit geraten – dafĂŒr sorgen zurzeit nicht nur die Oppositionsparteien im Hamburger Abgeordnetenhaus. Neben linken Kritiker*innen des Finanzsystems  befassen sich auch marktliberale Zeitungen wie das DĂŒsseldorfer Handelsblatt mit dem „Skandal im Skandal“, wie das Blatt das GeschĂ€ftsgebaren der Landesbanken um Cum-Ex nennt. [2] Die Landesbank Baden-WĂŒrttemberg (LBBW), die Hamburgisch-Schleswig-Holsteinische Nordbank AG (HSH Nordbank), die Landesbank Berlin, die Landesbank Hessen-ThĂŒringen Girozentrale (Helaba), die Westdeutsche Landesbank AG (WestLB) – sie alle waren im Cum-Ex-Steuerskandal verstrickt.

Vor ĂŒber sechs Jahren berichtete das Handelsblatt in einer Titelstory, dass 129 nationale und internationale Banken an den GeschĂ€ften auf Kosten der Steuerzahler beteiligt gewesen waren. Auf Nachfrage von Investigativjournalisten schlossen damals jedoch fast alle der beteiligten Geldinstitute aus, dass sie jemals mit Cum-Ex-GeschĂ€ften zu tun gehabt hĂ€tten. [3]  Allein die ehemalige Landesbank WestLB hinterzog bei den kriminellen GeschĂ€ften mutmaßlich 600 Millionen Euro an Steuern, ein Mehrfaches dessen, was der weithin bekannten Hamburger Privatbank Warburg zur Last gelegt wurde. Die von anderen landeseigenen Banken verursachten SteuerschĂ€den belaufen sich ebenfalls auf hohe MillionenbetrĂ€ge: 166 Millionen bei der LBBW, 112 Millionen bei der HSH Nordbank, 22 Millionen bei der Helaba. „Ausgerechnet bei den Banken in öffentlicher Hand wird sehr nachlĂ€ssig aufgeklĂ€rt“, zitiert das Handelsblatt den Mannheimer Finanzwirtschaftler Christoph Spengel, der sich dem milliardenschweren Steuerraub durch AktiengeschĂ€fte bestens auskennt. „Offensichtlich geht der Staat gegen Landesbanken weniger entschlossen vor als gegen Privatbanken“. [4] Der Professor formuliert recht zurĂŒckhaltend, denn bei der Verfolgung krimineller Landesbanker ĂŒbt sich die Justiz tatsĂ€chlich weitgehend in Arbeitsverweigerung. Und das, obwohl nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) bereits bei Überschreiten der Schwelle von 50.000 Euro eine „Steuerhinterziehung in besonders schweren FĂ€llen“ vorliegt – ab einer Millionen Euro muss mit GefĂ€ngnisstrafen gerechnet werden.

In den letzten beiden Jahren wurden vom BGH, vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Cum-Ex als strafbar sowie steuerrechtswidrig einzustufen ist und alle daraus erzielten Gewinne eingezogen werden können. WÀhrend aber bislang vier TÀter im Warburg-Komplex verurteilt wurden und weitere beschuldigte Manager von Privatbanken aktuell vor Gericht stehen, erging im Fall der Landesbanken keine einzige Anklage.

Justiz ohne Verfolgungsinteresse

So ist spĂ€testens seit 2013 bekannt, dass die gemeinsame Landesbank von Hamburg und Schleswig-Holstein, die HSH Nordbank, von Cum-Ex profitierte. Es ging dabei um Aktiendeals in den Jahren von 2008 bis 2011. Obwohl die Bank die Beute zurĂŒckzahlte und damit ihre Schuld anerkannte, entschied sich die Staatsanwaltschaft Hamburg seinerzeit gegen die Einleitung eines Strafverfahrens. Es wurde lediglich ein sogenannter Beobachtungsvorgang angelegt. Mit dem Ergebnis, dass die vorliegenden Indizien als offenbar nicht ausreichend bewertet wurden, um den Geschehnissen weiter nachzugehen. Erst 2018 leitete die Staatsanwaltschaft Köln aufgrund von Hinweisen aus einem anderen Cum-Ex-Fall ein Verfahren ein, so dass zurzeit etwa zehn ehemalige und noch aktive Mitarbeitende auf der Beschuldigtenliste stehen. Fazit: Die HSH entging bislang einer Strafzahlung, musste lediglich den selbst verursachten finanziellen Schaden plus Zinsen begleichen. Die TĂ€ter wurden bis heute nicht zur Verantwortung gezogen.

Im Fall der LBBW ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart seit neun Jahren, ohne dass jemand angeklagt worden wĂ€re. Ein Ende der Ermittlungen gegen insgesamt sieben Beschuldigte, so das Handelsblatt, sei nach wie vor nicht abzusehen. Obwohl es sich um ein sehr aufwĂ€ndiges Verfahren handele, gĂ€be es nur einen Ermittler. Eine erstaunliche Mitteilung, denn bei einem Steuerschaden von 166 Millionen Euro mĂŒssen letztlich viele hochkomplexe AktiengeschĂ€fte in einem Umfang von vielen Milliarden Euro abgewickelt worden sein. Gleiches gilt fĂŒr die 2012 abgewickelte WestLB, Eigentum des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkassen, fĂŒr die ihre Rechtsnachfolgerin, die Portigon AG, RĂŒckstellungen in Höhe von 600 Millionen Euro bilden musste, um die SteuerrĂŒckforderungen ĂŒbernehmen zu können. Portigon hatte jedoch jahrelang vehement bestritten, die WestLB habe jemals mit Cum-Ex-GeschĂ€ften zu tun gehabt. Im Jahr 2016 leitete die DĂŒsseldorfer Staatsanwaltschaft dann endlich Ermittlungen ein, die aber kaum vorwĂ€rtskamen. Auch dies verwundert, denn schon 2014 wurden die Telefone Hanno Bergers, Steueranwalt und SchlĂŒsselfigur im Cum-Ex-Skandal, abgehört. Der hatte mehrmals erwĂ€hnt, davon gehört zu haben, dass auch die WestLB in Cum-Ex-GeschĂ€fte verwickelt gewesen sei. Im Jahr 2020 ĂŒbernahm dann die Staatsanwaltschaft Köln das Verfahren, ermittelt aktuell gegen 18 Beschuldigte, darunter auch frĂŒhere Vorstandsmitglieder. Die Zeit zumindest zeigt sich mittlerweile verhalten optimistisch: „Wann die Ermittlungen abgeschlossen sein werden, sei noch nicht abzusehen, teilt die Staatsanwaltschaft mit. Da der Raubzug in der Sache aufgeklĂ€rt ist, sollte es nicht mehr allzu lange dauern, bis die Ermittler die Verantwortlichkeiten festgestellt haben. Im Landgericht Bonn könnten schon bald erste Anklageschriften eingehen.“ [5] Der politische Auftrag jedenfalls ist mit dem Koalitionsvertrag von GrĂŒnen und CDU in NRW gegeben. Dort heißt es: „Bei dem Cum-Ex-Skandal werden wir die Rolle der frĂŒheren WestLB aufklĂ€ren.“ Was aber weiter und in welchem Zeitrahmen konkret unternommen werden soll, bleibt nach wie vor unklar.

Dass auch die Landesbank Berlin an Cum-Ex beteiligt war, ging aus einer Antwort der damaligen Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion Die Linke im September 2017 hervor. Danach sei die Landesbank Anfang 2016 als Rechtsnachfolgerin der Bankgesellschaft Berlin AG durch die Steuerbehörden „auf wenige mögliche LeerverkaufsgeschĂ€fte aus dem Jahr 2007“ [6] aufmerksam gemacht worden. Eine interessante Bemerkung: Die Bank hat erst durch die Behörden erfahren, welche Deals sie selbst „möglicherweise“ abgeschlossen hat. Gemeinsam mit einem externen WirtschaftsprĂŒfer und in enger Kooperation mit den zustĂ€ndigen Behörden wĂŒrden alle in Frage kommenden GeschĂ€ftsvorgĂ€nge in dem Zeitraum untersucht. Nach der AnkĂŒndigung ist aber offenbar nichts passiert. „Bis heute ist nicht bekannt, um wie viel Geld sich die Landesbank bereichert haben könnte. (
) Die Ermittlungsbehörden in Berlin nahmen trotzdem vorab einen Freispruch an.“ [7] Denn laut Generalstaatsanwaltschaft Berlin wurde das Vorliegen einer Straftat verneint. Das objektive Handeln bei den Cum-Ex-GeschĂ€ften sei durchaus als strafrechtlich relevant angesehen worden, ein entsprechender individueller Vorsatz der Beschuldigten aber sei nicht nachzuweisen gewesen.

Vorsitzender des Aufsichtsrats der Landesbank Berlin ist zurzeit Helmut Schleweis, PrĂ€sident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Sein Stellvertreter Frank Wolf, Landesbezirksleiter von ver.di, war als gelernter Bankkaufmann zuvor Leiter des Fachbereichs Finanzdienstleistungen der Gewerkschaft. „Von beiden ist kein Versuch bekannt, auch nur die Schadenshöhe der Cum-Ex-GeschĂ€fte der Landesbank Berlin zu bemessen. Eine Auskunft dazu gab es nicht“. [8]
Ebenfalls seit etwa 2016 ist der Cum-Ex-Handel bei der hessischen Landesbank Helaba öffentlich bekannt. Schon 2013 hatte sie 22 Millionen Euro zuvor illegal kassierte Kapitalertragssteuern an den Fiskus zurĂŒckgezahlt. Auffallend ist auch in diesem Fall, dass sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt in der Zwischenzeit trotz der erheblichen Straftaten passiv verhielt. Im Jahr 2016 galten dann zwei Personen, darunter ein Vorstand, als verdĂ€chtig. Heute, nach weiteren sechs Jahren, kann die Strafverfolgungsbehörde keinen neuen Sachstand vermelden. Aber auch fĂŒr die Helaba gilt: Wer 22 Millionen Euro als Gewinn ergaunert, muss mit MilliardenbetrĂ€gen gehandelt haben, was mit lediglich zwei Akteuren definitiv nicht möglich ist. Zwar zeigt sich die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt bei Cum-Ex durchaus als umtriebig, schließlich laufen in Hessen mehrere Verfahren (u. a. gegen Hanno Berger). Der Helaba-Fall aber „steht weit hinten auf der PrioritĂ€tenliste“, wie es in dem Handelsblatt-Podcast von Ende August 2022 heißt. Die Journalisten der Zeitung kennen schlicht niemanden, der oder die versucht, die Ermittlungen in dem Fall voranzutreiben.

AufsichtsrÀte wissen von nichts

Zu den auffallend zurĂŒckhaltend agierenden Personen gehören auch die Aufsichts- und VerwaltungsrĂ€te der Landesbanken: „Vom Aufsichtsrat der Helaba, gespickt mit LandrĂ€ten, OberbĂŒrgermeistern und SparkassenvorstĂ€nden, sind keinerlei Versuche bekannt, die AufklĂ€rung zu beschleunigen“ [9]. So bestritt Helmut Linssen (CDU), von 2005 bis 2010 Finanzminister von NRW und damit Aufsichtsratsmitglied bei der WestLB, noch bei seiner Befragung Anfang 2017 im Untersuchungsausschuss des Bundestages, dass es bei der Landesbank je Cum-Ex-GeschĂ€fte gegeben habe. [10] Zu dem Zeitpunkt bestanden aber keine Zweifel mehr an den kriminellen GeschĂ€ften, die in der Presse bereits detailliert dargestellt worden waren. Auch Linssens Nachfolger als NRW-Finanzminister und spĂ€terer Co-Vorsitzende des SPD, Norbert Walter-Borjans, saß im Aufsichtsrat der Landesbank. Er hatte sich zwar als AufkĂ€ufer von Steuer-CDs profiliert, die auch umfassende Informationen ĂŒber Cum-Ex-GeschĂ€fte von Finanzinstituten enthielten. Im NRW-Landtag antwortete Walter-Borjans Ende 2015 jedoch auf eine diesbezĂŒgliche Anfrage, dass ihm als Finanzminister und zugleich Aufsichtsrat der WestLB keine Erkenntnisse ĂŒber missbrĂ€uchliches Verhalten der Landesbank vorliegen wĂŒrden. [11]
Auf Nachfrage des Handelsblatt vom Juli 2022 reagierte der ehemalige Chef der Deutschen Bahn, Heinz DĂŒrr, ebenfalls recht dĂŒrftig: „WĂ€hrend meiner Zeit im Verwaltungsrat der LBBW wurde nicht ĂŒber das Thema Cum-Ex gesprochen.“ [12] Der frĂŒhere ArbeitgeberprĂ€sident Dieter Hundt, bis 2014 Mitglied des obersten Kontroll- und Beratungsgremium der LBBW, antwortete dem Wirtschaftsblatt knapp und trocken: Er habe sich nicht mit dem Thema Cum-Ex beschĂ€ftigt und deshalb auch nichts unternommen. Andere angefragte namhafte Politiker oder „WirtschaftsgrĂ¶ĂŸen“ antworteten den Journalisten erst gar nicht auf eine entsprechende Anfrage.
Das konsequente Bestreiten auf Seiten von Aufsichts- bzw. VerwaltungsrÀten landeseigener Unternehmen, dass es dort Cum-Ex-GeschÀfte gegeben habe oder die Kontrollorgane davon erfahren hÀtten, und das schleppende Vorgehen der Staatsanwaltschaften passen zu einer mittlerweile durchgesetzten Erkenntnis allerdings gar nicht: Dass, wie nachfolgendes Zitat eines ehemaligen Mitarbeiters der WestLB belegt, die Abwicklung der kriminellen GeschÀfte eine systematisch organisierte Massenveranstaltung war.
„NatĂŒrlich haben wir Cum-Ex-GeschĂ€fte gemacht. Haben doch fast alle Banken in Europa gemacht. (
) Die Cum-Ex-GeschĂ€fte waren Top-Down-geplant. Die Anweisungen, wie viele Kapitalertragssteuern am Jahresende unter dem Strich stehen mussten, die kamen von oben. Sie können nicht alleine 15 Milliarden Euro durch die Bilanz ziehen. Das muss genau vorbereitet werden. Auf den Email-Verteilern, die es zu diesen GeschĂ€ften gab, waren 300 bis 400 Leute. Das Trade-Controlling, das Risiko-Management, der Vorstand. Der Ablauf der Trades stand doch in den Excel-Sheets im Anhang der Mails klar drin.“ [13]
Aussagen von Insidern wie diese rĂ€umen mit naiven Annahmen auf, der Staat wĂŒrde bei der Aufsicht seiner eigenen Unternehmen eine besondere Sorgfalt walten und wirtschaftskriminelles Vorgehen verhindern. Denn Landesbanken, ob als Aktiengesellschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (AöR) verfasst, bewegen sich auf den gleichen hart umkĂ€mpften GeschĂ€ftsfeldern wie die privaten Banken und mĂŒssen sich dort behaupten. Gelingt dies, kassieren die FĂŒhrungskrĂ€fte auch in den öffentlichen Unternehmen hohe GehĂ€lter und Boni.

Die bizarre GeschÀftspolitik der Landesbanken

Schon mit Beginn der 1970er Jahren hatten sich die Landesbanken, deren ursprĂŒnglicher Zweck in der Förderung der regionalen Wirtschaft bestand, zu „normalen“ GeschĂ€ftsbanken gewandelt. So bauten sie zunehmend ihr AuslandsgeschĂ€ft aus und stießen damit in die angestammten Bereiche der privaten Großbanken vor, mit denen sie konkurrierten – von denen sie sich aber immer weniger unterschieden. [14]
In der Fachliteratur wird betont, dass öffentliche Unternehmen aus verfassungsrechtlichen GrĂŒnden per se dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Dieser Grundsatz befreie die GeschĂ€ftsfĂŒhrungen jedoch nicht von der Pflicht, sie nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten und damit gewinnorientiert zu fĂŒhren. Ein Widerspruch in sich, der aber klarstellt, dass der öffentliche Auftrag die Landesbanken in ihrer expansiven und international ausgerichteten GeschĂ€ftspolitik noch nie einschrĂ€nken konnte. In den Jahren seit Beginn der Finanzkrise zeigte sich, dass wegen fehlender Regularien und Kontrollen viele hochriskante GeschĂ€fte einzelne der staatlichen Banken an den Abgrund gefĂŒhrt hatten. Es wurden sogar kritische Stimmen laut, die vermuteten, die öffentlichen Landesbanken könnten ganz gezielt kaputtgewirtschaftet worden sein, „auch um zu zeigen, dass öffentlich eben nicht besser sei als privat“ [15].
Eine interessante Deutung, die sich gegen die These eines ungewollten Staatsversagens richtet. Auch die Weigerung der aktuellen und ehemaligen Aufsichts- und VerwaltungsrĂ€te, zur AufklĂ€rung ĂŒber die Verwicklung von Landesbanken im Cum-Ex-Skandal beizutragen, lĂ€sst auf ein bewusstes Handeln schließen. Wahrscheinlich sah und sieht man einfach wohlwollend darĂŒber hinweg, dass die Manager der Landesbanken, die zum Teil nicht fĂŒr das „marktĂŒbliche“ internationale InvestmentgeschĂ€ft taugten, wenigstens auf kriminelle Weise zur Gewinnerzielung (wenn auch auf Kosten der eigenen TrĂ€ger) fĂ€hig waren.

 

Anmerkungen

[1] Andreas Dey: „Plötzlich hĂ€lt ein Zombie die Hamburger Politik in Atem“, Hamburger Abendblatt (Online) vom 27. August 2022
https://www.abendblatt.de/hamburg/article236264249/cum-ex-affaere-hsh-nordbank-ein-zombie-haelt-die-politik-in-hamburg-in-atem-pua.html
[2] vgl. auch: BIG-Nachricht vom 26. Juli 2022,
https://big.businesscrime.de/nachrichten/private-fluchtprogramme-der-superreichen/ 
[3] „Landesbanken im Cum-Ex-Skandal: Chefetagen als justizfreie Zonen, Handelsblatt Crime, Podcast vom 14. August 2022
https://www.youtube.com/watch?v=TngQ05Z6q_E
[4] Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „SchĂ€den in Milliardenhöhe: Landesbanken versinken in Cum-Ex-AffĂ€re“, Handelsblatt (Online) vom 20. Juli 2022
https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steuerskandal-schaeden-in-milliardenhoehe-landesbanken-versinken-in-cum-ex-affaere/28521106.html
[5] Karsten Polke-Majewski: „Wer zahlt?“, Die Zeit (Online) vom 16. November 2022
https://www.zeit.de/2022/47/westlb-cum-ex-skandal-landesbank-finanzbetrug-ermittlung?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F
[6] Abgeordnetenhaus Berlin: Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Steffen Zillich (Die Linke) vom 13. September 2016, Drucksache 17/19081
https://www.steffen-zillich.de/fileadmin/linksfraktion/ka/2016/S17-19081.pdf
[7] Iwersen/Votsmeier, Handelsblatt vom 20. Juli 2022
[8] ebd.
[9] ebd.
[10] Deutscher Bundestag: „Beschlussempfehlung und Bericht des 4. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes“, 20. Juni 2017, Drucksache 18/12700, Seite 183
https://dserver.bundestag.de/btd/18/127/1812700.pdf
[11] „Tat ohne TĂ€ter – Wie sich Politik und Justiz im Cum-Ex-Skandal blamieren“, Handelsblatt Crime, Podcast vom 29. August 2022
https://www.handelsblatt.com/audio/crime/handelsblatt-crime-tat-ohne-taeter-wie-sich-politik-und-justiz-im-cum-ex-skandal-blamieren/28630066.html
[12] Handelsblatt-Podcast vom 14. August 2022
[13] Handelsblatt-Podcast vom 29. August 2022
[14] vgl. Benjamin Gubitz: Das Ende des Landesbankensektors. Der Einfluss vom Politik, Management und Sparkassen, Wiesbaden, 2013, Seite 64
[15] Torsten Loeser: „‚Der Abgesang kommt zu frĂŒh‘. Antwort auf Joachim Bischoff und Norbert Weber: ‚Landesbanken besser auflösen‘“, 24. November 2012
https://www.axel-troost.de/de/article/6624.der-abgesang-kommt-zu-frueh.html

Das Ende von Demokratie und Staat – Die visionĂ€re Heilsbotschaft des Tech-MilliardĂ€rs Peter Thiel

Im Mai 2022 beschrieb Die Zeit ganzseitig den Persönlichkeitskult um Elon Musk, Chef von Tesla, Twitter und dem Raumfahrtunternehmen SpaceX. FĂŒr den TV-bekannten Start-up-Investor Frank Thelen ist er „der grĂ¶ĂŸte Architekt der Menschheitsgeschichte“. Die Kombination von zur Schau gestelltem Machertum und dem Versprechen einer leuchtenden technologischen Zukunft lĂ€sst seine AnhĂ€ngerschaft offenbar stetig wachsen: „Mit Tesla will er den Klimawandel stoppen, mit Twitter die Meinungsfreiheit retten, seine Lieblings-KryptowĂ€hrung Dogecoin soll nicht die Finanzelite reich machen, sondern ‚the people‘s crypto‘ sein“. Brasiliens Ex-PrĂ€sident Jair Bolsonao bezeichnete ihn nicht weniger euphorisch als „Mythos der Freiheit“. Dies nicht gerade zufĂ€llig: Seit Monaten wird berichtet, dass Musk politisch nach rechts driftet, sich fĂŒr VerschwörungserzĂ€hlungen anfĂ€llig zeigt, fĂŒr die Republikanische Partei und fĂŒr den Ex-PrĂ€sidenten Trump wirbt. Ob die Übernahme und somit absolute Kontrolle ĂŒber den Kurznachrichtendienst Twitter, einer wichtigen globalen Informationsplattform, sein Image auch bei vielen seiner bisherigen Fans beschĂ€digen wird, bleibt vorerst abzuwarten.

„Die Erziehung eines LibertĂ€ren“

Ähnlich einflussreich wie die Kultfigur Musk, aber weitaus weniger im öffentlichen Rampenlicht stehend, ist der aus Frankfurt am Main stammende US-MilliardĂ€r Peter Thiel. Auch der GrĂŒnder des Online-Bezahldienstleisters PayPal und erste Großinvestor bei Facebook setzt auf die Republikaner: Im Jahr 2016 verhalf er mit gigantischen Summen Donald Trump zur PrĂ€sidentschaft. Seine provokanten politischen Überzeugungen legte der libertĂ€re Vordenker der politischen Rechten in den USA in zahlreichen VortrĂ€gen, Essays und Buchpublikationen dar. So zum Beispiel im FrĂŒhjahr 2009 in dem vielbeachteten Essay „The Education of a Libertarian“, den er auf Einladung der ultrakonservativen Denkfabrik Cato Institute vorlegte. Persönliche Freiheit sei das höchste Gut ĂŒberhaupt, heißt es dort zu Beginn. Er stemme sich gegen Steuererhebungen, die „beschlagnahmenden“ Charakter hĂ€tten, lehne totalitĂ€re Systeme ebenso ab wie die Ideologie von der Unausweichlichkeit des Todes jeden Einzelnen: „For all these reasons, I still call myself ‚libertarian‘“.

Auch glaube er nicht mehr daran, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar seien. Das seit 1920 zu beobachtende gewaltige Anwachsen des Wohlfahrtsstaates und die Ausweitung des Frauenwahlrechts seien verantwortlich dafĂŒr, dass die Idee einer „capitalist democracy“ ein Widerspruch in sich sei. Soll heißen: Selbst eine moderate staatliche Politik des sozialen Ausgleichs und der demokratischen Mitsprache passe nicht zum Konzept der Freiheit, die mit dem Kapitalismus identisch ist. Dieser von ihm geĂ€ußerte Gedanke fĂŒhre seiner Meinung nach zur eigentlichen Aufgabe der LibertĂ€ren, einen Ausstieg aus der Politik in all ihren Formen zu finden. Er lege seinen Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien, die einen „neuen Raum fĂŒr Freiheit“ schaffen könnten. Noch unentdeckte Gebiete mĂŒssten erschlossen werden, um neue Formen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens auszuprobieren. Als „technological frontiers“ nennt Thiel den Cyberspace, den Weltraum und die Besiedelung der Weltmeere.

Wie Thiel weiter meint, habe er als Unternehmer und Investor seine Anstrengungen auf das Internet konzentriert. So wolle er eine von jeder Regierungskontrolle freie WeltwĂ€hrung schaffen, um die WĂ€hrungssouverĂ€nitĂ€t der Staaten zu beenden. Konzerne wie Facebook hĂ€tten in den 2000er Jahren den Raum fĂŒr einen neuen Umgang mit konfligierenden Interessen oder abweichenden Meinungen („new modes of dissent“) und neue Wege zur Errichtung von nicht an Nationalstaaten gebundene Gemeinschaften geschaffen. Der Weltraum bietet nach Thiel „eine grenzenlose Möglichkeit zur Flucht vor der Weltpolitik“. Die Raketentechnologie habe aber seit den 1960er Jahren nur wenige Fortschritte gemacht. Notwendig sei eine „Verdoppelung der Anstrengungen fĂŒr die kommerzielle Raumfahrt“. Eine „libertĂ€re Zukunft“ im All, wie sie bekannte Science-Fiction-Autoren beschrieben hĂ€tten, könne in der zweiten HĂ€lfte des 21. Jahrhunderts möglich werden. Zwischen Cyberspace und Weltall verortet Thiel als Ideologe uneingeschrĂ€nkter technologischer Machbarkeit die Besiedelung der Ozeane. Diese solle einen dauerhaften Lebensraum ohne jeden Einfluss von Staaten schaffen.

Weltraum und MilitÀr

Thiels Karriere ist eng mit diversen US-Techriesen und mit dem militĂ€risch-industriellen Komplex verknĂŒpft. Sein finanzielles Engagement bei Facebook fĂŒhrte zu einer jahrelangen Freundschaft mit dessen CEO Marc Zuckerberg. Der Bezahldienst Paypal entstand aus einem Zusammenschluss von Firmen Thiels und Elon Musks im Jahr 2000. Die 2004 gegrĂŒndete Datenanalyse- und Softwarefirma Palantir brachte Thiel schließlich 2020 an die Börse. „Palantir (‚sehender Stein‘)“, schreibt Werner RĂŒgemer, „ist einer der wichtigsten Softwarezulieferer fĂŒr die US-Geheimdienste FBI, CIA und NSA, aber auch fĂŒr das Department of Home Security, fĂŒr (…) Air Force, Marines und die US-Katastrophenschutzbehörde.“ (RĂŒgemer, Seite 145) Trotz seiner behaupteten staatskritischen AttitĂŒde als LibertĂ€rer entwickelte Thiel das Unternehmen Palantir mit seinen weltweit knapp 3.000 Mitarbeiter*innen zu einem engen Partner von Regierungen, Behörden, dem MilitĂ€r und der Großindustrie.

In das von seinem ehemaligen Paypal-Kollegen Elon Musk im Jahr 2002 gegrĂŒndete Weltraumunternehmen SpaceX investierte Thiel die ersten 20 Millionen Dollar (vgl. Wagner, Seite 95). Selbstredend gilt Thiel als großer Fan von Musks Projekt, den Mars zu besiedeln – er ist an dessen Finanzierung beteiligt (vgl. n-tv). Im Oktober 2022 wurde bekannt, dass er nun auch in ein oberbayerisches Start-up investiert, das unbemannte Flugobjekte an die Ukraine liefert. Zusammen mit dem Berliner Risikokapitalgeber Project A steigt Thiel mit 17,5 Millionen Dollar bei der Drohnenfirma Quantum Systems ein. Bisher ist es bei deutschen Startups eher verpönt, offen im RĂŒstungssektor tĂ€tig zu werden – Investoren aus der Venture Capital-Branche schließen Investments in RĂŒstungsprojekten in der Regel aus. Quantum aber lieferte im FrĂŒhjahr die ersten Überwachungsdrohnen zur AusspĂ€hung russischer Truppen an die Ukraine. Weitere sollen folgen. Da die Grenzen zwischen AufklĂ€rungs- und Waffensystemen in Zeiten der vernetzten KriegsfĂŒhrung immer mehr verschwimmen, fallen offensichtlich – mit krĂ€ftiger UnterstĂŒtzung des Neuinvestors Peter Thiel – bei deutschen Startups zunehmend bisher vorhandene Hemmungen, sich militĂ€risch zu engagieren (vgl. Handelsblatt vom 21. Oktober 2022 und SĂŒddeutsche Zeitung vom 18. Oktober 2022).

Weltmeer und SeestÀdte

Wie stellt sich Thiel aber nun eine Gesellschaft der Zukunft vor, in der Freiheit im Sinne des Libertarismus handlungsleitend sein soll? In jedem Fall in Form „freier RĂ€ume“ jenseits staatlicher Regulation. Zum Beispiel auf hoher See, denn das Meer und ferne unbewohnte Inseln gehören scheinbar niemanden, sind also eine Welt, die nach Thiel und Co. nur darauf wartet, angeeignet zu werden.

„In der Geschichte des Kolonialismus“, heißt es in einem FAZ-Artikel von Theresia Enzensberger, „war das unbeschriebene Blatt schon immer eine nĂŒtzliche Illusion. Das Niemandsland war fĂŒr die kolonisierenden Seefahrer eine ganz selbstverstĂ€ndliche Erweiterung ihres geschichtslosen, unbeanspruchten Meeresraums.“ Deren Erben im heutigen Silicon Valley sĂ€hen sich als Pioniere, als Entdecker von neuen Möglichkeiten und Lebenswelten. „Wenn Elon Musk die indonesische Insel Biak gegen den Widerstand der indigenen Bevölkerung durch eine Startrampe in ein ‚Space Island‘ verwandeln will; wenn Peter Thiel in das Seasteading Institute investiert, das vorhat, kĂŒnstliche Inseln zu errichten; wenn der RohstoffhĂ€ndler Titus Gebel in Honduras freie PrivatstĂ€dte entwickelt, bei denen die Regierung durch einen ‚Staatsdienstleister‘ ersetzt wird, dann tun sie das alle im Namen der AufklĂ€rung – wie schon die Seefahrer Jahrhunderte vor ihnen.“

Das genannte Seasteading Institute wurde 2008 von Patri Friedman gegrĂŒndet – dem Enkel Milton Friedmans, des BegrĂŒnders der Chicagoer Schule, und Sohn des Anarcho-Kapitalisten David Friedman. Sein Projekt, eine „radikal libertĂ€re“ Seestadt zu entwickeln, wurde von Thiel durch eine Spende von einer halben Millionen Dollar ins Rollen gebracht (vgl. Kemper, Seite 62f.). Laut Wikipedia-Eintrag bezeichnet „Seasteading“ (engl. Sea [Meer] und homesteading [Besiedlung, Inbesitznahme]) das Konzept, StĂ€tten dauerhaften Wohn- und Lebensraums auf dem Meer zu schaffen, außerhalb der von nationalen Regierungen beanpruchten Gebiete. Die Washington Post beschrieb im Jahr 2011 Thiels Ideen nĂ€her:

„Thiel believes these islands may be important in ‚experimenting with new ideas for government‘, such as no welfare, no minimum wage, fewer weapons restrictions, and looser building codes.“ („Thiel glaubt, dass diese Inseln wichtig sein könnten, um mit ‚neuen Ideen fĂŒr Regierungen zu experimentieren‘, wie z.B. keine Sozialhilfe, kein Mindestlohn, weniger WaffenbeschrĂ€nkungen und lockerere Bauvorschriften.“ Vgl. Hinweis und Übersetzung im „ZDF-Magazin Royale“ vom 11. Februar 2022)

Am Ende seines Essays „The Education of a Libertarian“ (2009) wĂŒnscht Thiel ĂŒbrigens Patri Friedman fĂŒr sein außergewöhnliches Experiment nur das Beste.

KryptowÀhrung

Thiel ist auch ein langjĂ€hriger Fan von DigitalwĂ€hrungen wie etwa Bitcoin. Er wird nicht mĂŒde, gegen alle Barrieren anzukĂ€mpfen, die seinem Ziel im Wege stehen, eine von staatlichen Banken unabhĂ€ngige WĂ€hrung zu schaffen. Mit seiner Firma PayPal wollte er damit nichts weniger als das Weltfinanzsystem aus den Angeln heben. ZunĂ€chst profitierte er aber persönlich davon. Über seinen Founders Fund investierte er 2017 rund 20 Millionen Dollar in die KryptowĂ€hrung; schon Anfang 2018 soll sein Investment laut Manager Magazin hunderte Millionen Dollar wert gewesen sein.

Auf der Konferenz „Bitcoin 2022“ im April 2022 in Miami Beach griff Thiel dann die drei bekannten GrĂ¶ĂŸen der US-Finanzindustrie frontal an: Warren Buffett, den JP Morgan-Chef Jamie Dimon und Blackrock-Chef Larry Fink. Er machte sie fĂŒr die aktuelle KursschwĂ€che der KryptowĂ€hrung verantwortlich und beschimpfte sie als „Finanz-Gerontokraten“, die sich gegen die „revolutionĂ€re Jugendbewegung“ rund um die DigitalwĂ€hrung Bitcoin verschworen hĂ€tten. Er warf ihnen vor, den Trend zu nachhaltigen InvestitionsansĂ€tzen gegen Bitcoin-Anlagen zu stĂŒtzen (wegen des hohen Stromverbrauchs beim Mining achten Investoren offensichtlich mittlerweile auf mehr Energieeffizienz). Das Handelsblatt kommentierte dies am 8. April 2022 wie folgt:

„Thiels Verbalattacke einfach als unschöne Stimmungsmache abzutun wĂ€re (
) zu einfach. Denn seine Rhetorik ist gefĂ€hrlich. Thiel spricht von ‚Feindeslisten‘, Buffett nennt er den ‚Feind Nummer eins‘, NachhaltigkeitsansĂ€tze seien eine ‚Hassfabrik‘, die er mit der Kommunistischen Partei Chinas gleichsetzt. SinngemĂ€ĂŸ drĂŒckt er damit aus: Bitcoin bedeutet Freiheit, alles andere ist Diktatur. (
) Um diesen Standpunkt zu legitimieren, inszeniert sich der 54-JĂ€hrige, ironischerweise je nach Betrachtung selbst schon ein alter weißer Mann, als Interessenvertreter einer Jugendbewegung. Doch erstens besteht gerade in der jungen Generation ein starkes VerantwortungsgefĂŒhl gegenĂŒber der Umwelt. WĂ€hrend Thiel den Staat am liebsten abschaffen wĂŒrde, befĂŒrworten gerade viele junge Menschen EinschrĂ€nkungen zugunsten grĂ¶ĂŸerer Nachhaltigkeit.“

Thiels Jugendkult passt ĂŒbrigens zu einzelnen von ihm geförderten Forschungsprojekten, die das Ziel verfolgen, den biologischen Alterungsprozess aufzuhalten. Beispielsweise steckt er Geld in die Kryonik, einer Technologie, die es ermöglichen soll, Menschen nach ihrem Ableben einzufrieren, um sie zu einem spĂ€teren Zeitpunkt wieder aufzutauen. Thiel erklĂ€rte bereits 2012, der Tod sei ein Problem, das sich lösen ließe. Laut Medienberichten wollte er an umstrittenen klinischen Tests teilnehmen, bei denen sich Erwachsene das Blut jĂŒngerer Menschen spritzen lassen, um selbst wieder jugendlich frisch zu werden – in den USA als „Vampir-Therapie“ bekannt. Ende Oktober 2022 boten Internetportale dazu eine passende Meldung: Elon Musk hatte eine Reihe von Prominenten aus der globalen Tech-Szene und einzelne Hollywood-Stars zu einer Halloween-Party auf ein rumĂ€nisches „Dracula-Schloss“ eingeladen. Auch Peter Thiel stand auf der GĂ€steliste. Ein Sinn fĂŒr skurrilen Humor ist den Tech-MilliardĂ€ren kaum abzusprechen.

Königsmacher der neuen Rechten

Thiel hat allerdings bei öffentlichen Auftritten bestritten, ein Vampir zu sein. Das Manager Magazin hĂ€lt in seiner Oktoberausgabe 2022 eine weitere Metapher fĂŒr ihn bereit. Nach Auffassung des Blatts schĂŒrt Thiel schon lange Umsturzfantasien und greift als „Dark Lord“ nicht weniger als nach der politischen und gesellschaftlichen Macht in den USA. Sein SelbstverstĂ€ndnis zeigt eine mehrtĂ€gige Konferenz, zu der seine Capital-Venture-Firma Founders Fund Anfang 2022 in ein luxuriöses Hotel in Miami Beach einlud. Die „wichtigsten Unruhestifter unserer Kultur“ (unter anderem Elon Musk) versammelten sich dort unter dem Motto „A Conference for Thoughtcrime“. Die Teilnehmer*innen verstanden sich offenbar als Ketzer und Nonkonformisten, die „‚von anderen Konferenzen verbannt sind‘, wie es in der Einladung hieß. (…) Die Besucher sollten sich mit Widerspruch und unpopulĂ€ren Ideen beschĂ€ftigen, wesentlich fĂŒr den Fortschritt der menschlichen Zivilisation.“

Das Manager Magazin ernannte Peter Thiel als „Megaspender“ der Republikanischen Partei zum „Königsmacher der radikalen Rechten“. Denn mit seinen Millionen wolle er den Machtwechsel im US-Senat herbeifĂŒhren – und unterstĂŒtzte bei den US-Zwischenwahlen im November zwei Trump-AnhĂ€nger und politische Newcomer, die selbst aus der Venture-Capitalist-Branche kommen: J.D. Vance (Ohio) und Blake Masters (Arizona). „Sie ĂŒberbieten sich mit kruden Thesen von rassistischen Anspielungen, Verschwörungstheorien und Attacken auf die ‚woke culture‘, die Bewegung gegen Diskriminierung.“ Thiel selbst ist seit 2016 Großspender der Republikaner und gilt seitdem als Vertrauter und Berater von Ex-PrĂ€sident Trump. Dies ist ungewöhnlich, weil es auch in den USA offenbar eher selten ist, dass sich das „Wagniskapital“ direkt parteipolitisch einmischt. Anders bei Thiel: „‚Die Politik hat immer mehr Raum bei ihm eingenommen. Peter ist superpolitisch, und das schon seit fĂŒnf, sechs Jahren‘“. So zitierte das Handelsblatt jedenfalls am 8. Februar 2022 eine ihm nahestehende Person. Thiel, im gesellschaftspolitisch eher liberal geprĂ€gt Silicon Valley als Außenseiter geltend, versucht die Republikaner politisch weiter nach rechts zu verschieben, in dem er systematisch als Netzwerker agiert. Der amerikanische UniversitĂ€tsprofessor Moira Weigel erklĂ€rte Mitte des Jahres gegenĂŒber dem britischen Guardian, dass Thiel selbst aber gar nicht entscheidend sei: „What matters about him is whom he connects.“ Thiel stelle die Kontakte und Verbindungen her zwischen den „most rightwing politicians in recent US-history“.

Thiel möchte aber offensichtlich auch seine Kontakte nach Europa intensivieren. So heuerte Österreichs Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang 2022 bei der Investmentfirma Thiel Capital als „Global Strategist“ an. Vor allem die guten Kontakte des ehemaligen ÖVP-Politikers zu Autokraten im osteuropĂ€ischen Raum und zur EU könnten Thiel bei der Entwicklung seines rechten Netzwerks von Nutzen sein. Kurz war zuvor wegen KorruptionsvorwĂŒrfen als Kanzler zurĂŒckgetreten und hatte alle politischen Ämter niedergelegt.

Herrschaft der Monopole

Der vorgeblich staats- und politikferne Tech-MilliardĂ€r scheut also nicht vor einer engen Kooperation mit einflussreichen und die freie Marktwirtschaft verherrlichenden (Ex-)Politikern zurĂŒck. Die suchen umgekehrt seine NĂ€he – ungeachtet der von Thiel provokant vertretenen Auffassung, Kapitalismus und Wettbewerb seien fĂŒr ihn unvereinbar. „FĂŒr weite Teile der Allgemeinheit“, schreibt sein Biograf Thomas Rappold, „gilt der Grundsatz, dass Kapitalismus und Wettbewerb Synonyme sind. TatsĂ€chlich sind sie fĂŒr Thiel aber GegensĂ€tze.“ (Rappold, Seite 37) Aufsehen erregte Thiel immer dann, wenn er öffentlich feststellte, dass er das Prinzip des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs fĂŒr innovations- und profithemmend halte und deshalb die Herrschaft kapitalistischer Monopolunternehmen befĂŒrworte. GrĂŒnder sollten einen Monopolstatus anstreben, das heißt eine einzigartige Firma aufbauen und sich stark von Wettbewerbern differenzieren, um nicht in eine Wettbewerbssituation zu geraten. MarktfĂŒhrer der Digitalwirtschaft, wie Apple, Microsoft, Facebook und Amazon, seien als Garanten des technologischen Fortschritts ein Segen fĂŒr die Entwicklung der Menschheit (vgl. auch Wagner, Seite 68). Zwischen Politik und Technologie bestehe deshalb ein Wettkampf auf Leben und Tod – so schrieb er es in seinem im Jahre 2009 erschienenen Essay.

Steuerparadies

Recht erfolgreich kĂ€mpft Thiel gegen den Staat aber auch in eigener Sache. Steuern sind die wichtigste Einnahmequelle fĂŒr Staatsapparate. Auf große Teile seines Vermögens, das der Bloomberg Billionaires Index am 10. November 2022 auf 7,14 Milliarden US-Dollar taxiert, zahlt Thiel aber seit mehr als zwei Jahrzehnten keine Steuern. Eine Grauzone des US-Steuerrechts ermöglicht es ihm, in einem Rentenfonds Milliarden Dollar steuerfrei zur Seite zu schaffen. „Thiel verteidigt seine persönliche Steueroase inmitten der USA mit allem, was er hat. Dass sie unangetastet bleibt, ist unter republikanischer Regierung deutlich wahrscheinlicher.“ (Manager Magazin, Seite 116) Offenbar wird der großzĂŒgige Sponsor der amerikanischen Rechten von privaten VerlustĂ€ngsten geplagt.

Ängstlicher VisionĂ€r

Seine technokratischen Allmachtsfantasien und erfolgreichen Investitionsentscheidungen sowie sein politisches „Networking“ haben den selbsternannten „Contrarian“ (Querdenker, Nonkonformist) fĂŒr viele zu einer Ă€hnlichen Lichtgestalt wie Elon Musk gemacht. So schreibt der Thiel-Biograf Rappold, selbst Internetunternehmer und Investor: „Die Gabe, Dinge in hellseherische Voraussicht zu sehen und dann unmittelbar und konsequent in konkrete Handlungen umszusetzen, ist nur wenigen gegeben. Thiel ist ohne Zweifel ein großer Denker mit einer starken Vision auf die Sicht der Welt.“ (Rappold, Seite 107)

Aber der VisionĂ€r trifft auch auf Gegner. Zum Beispiel in Neuseeland, das sich Thiel als RĂŒckzugsort fĂŒr apokalyptische Zeiten sozialen, politischen oder ökologischen Zerfalls ausgesucht hat (vgl. The Guardian vom 18. August 2022). Im Jahr 2011 sicherte sich der US-Amerikaner, der auch die deutsche StaatsbĂŒrgerschaft besitzt, einen neuseelĂ€ndischen Pass, obwohl er sich gerade erst zwölf Tage im Land aufgehalten hatte. Um eine StaatsbĂŒrgerschaft zu erhalten, mĂŒssen Bewerber*innen ĂŒblicherweise mindestens 1.350 Tage in fĂŒnf Jahren in dem Staat gelebt haben. Aber fĂŒr den erfolgreichen Unternehmer drĂŒckten die neuseelĂ€ndischen Behörden offenbar beide Augen zu. Die wohlwollende Entscheidung wurde 2017 bekannt – erwies sich dann aber in der Öffentlichkeit als höchst umstritten.

„Thiel“, schreibt Rappold, „reiht sich damit ein in ein Silicon-Valley-PhĂ€nomen: Obschon die Vordenker fĂŒr eine neue Welt gerne viel Optimismus in der Öffentlichkeit versprĂŒhen, wenn sie ihre Innovationen als gesellschaftliche DurchbrĂŒche messiasartig ihrer weltweit treu ergebenen Fangemeinde prĂ€sentieren, sorgen sich immer mehr wohlhabende Silicon-Valley-GrĂ¶ĂŸen um ihre eigene Zukunft. WĂ€hrend Thiel sich einen Zufluchtsort im malerischen Neuseeland ausgesucht hat, kaufen sich andere in luxuriöse Bunkeranlagen ein, horten Treibstoff und Nahrungsmittel. (
) Vielen gemein ist eine geradezu dystopische Sicht auf die Welt. Wer viel hat, kann eben auch viel verlieren.“ (Rappold, Seite 293)

Quellen

BĂŒcher:

Andreas Kemper: PrivatstĂ€dte. Labore fĂŒr einen neuen Manchesterkapitalismus, MĂŒnster, 2022

Thomas Rappold: Peter Thiel. Facebook, PayPal, Palantir. Wie Peter Thiel die Welt revolutioniert, MĂŒnchen, 2017

Werner RĂŒgemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts, Köln, 2018

Thomas Wagner: Robokratie. Google, das Silicon Valley und der Mensch als Auslaufmodell, Köln, 2015

Artikel:

Heike Buchter et al.: „Elon Musk sein“, Die Zeit vom 25. Mai 2022

Diana Dittmer: „Der Mann, der Trump wieder an die Macht bringen will“, n-tv, 12. Mai 2022
https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Milliardaer-Peter-Thiel-Der-Mann-der-Trumps-Truppen-in-Stellung-bringt-article23116635.html

Theresia Enzenberger: „Die Möglichkeiten einer Insel“, FAZ (Online) vom 19. September 2022
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/privatstaaten-von-techmilliardaeren-die-moeglichkeiten-einer-insel-18385728.html

Elizabeth Flock: „Peter Thiel, founder of Paypal, invests $1.24 million to create floating micro-countries“, The Washington Post vom 17. August 2011
https://www.washingtonpost.com/blogs/blogpost/post/peter-thiel-founder-of-paypal-invests-124-million-to-create-floating-micro-countries/2011/08/17/gIQA88AhLJ_blog.html

Thomas Fromm: „Peter Thiel investiert in Quantum Systems aus Gilching “, SĂŒddeutsche Zeitung (Online) vom 18. Oktober 2022
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/peter-thiel-drohnen-ukraine-quantum-systems-1.5676733

Edward Helmore, „‚Don’ of a new era: the rise of Peter Thiel as a US rightwing power player“, The Guardian vom 30. Mai 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/may/30/peter-thiel-republican-midterms-trump-paypal-mafia

Felix Holtermann et al.: Peter Thiel im Wahlkampf: Die Wagniskapitalgeber greifen an“, Handelbslatt (Online) vom 8. Februar 2022
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/us-zwischenwahlen-peter-thiel-im-wahlkampf-die-wagniskapitalgeber-greifen-an/28049440.html

Larissa Holzki: „Quantum Systems aus MĂŒnchen erhĂ€lt Thiel-Invest“, Handelsblatt (Online) vom 21. Oktober 2022
https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/drohnen-hersteller-quantum-systems-aus-muenchen-erhaelt-thiel-invest/28748324.html

Christina Kyriasoglou: „Dark Lord“, Manager Magazin, Oktober 2022, Seite 110-116

Tess McClure: „Billionaire Peter Thiel refused consent for sprawling lodge in New Zealand“, The Guardian vom 18. August 2022
https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/18/peter-thiel-refused-consent-for-sprawling-lodge-in-new-zealand-local-council

Mareike MĂŒller: „Peter Thiel erzĂ€hlt Unsinn ĂŒber den Bitcoin – und rĂŒckt immer weiter nach rechts“, Handelsblatt (Online) vom 8. April 2022
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-peter-thiel-erzaehlt-unsinn-ueber-den-bitcoin-und-rueckt-immer-weiter-nach-rechts/28239920.html

Peter Thiel: „The Education of a Libertarian“, Cato Unbound: A Journal of Debate, 13. April 2009
https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian/

 

Totaler Kapitalismus

Bereits im Jahr 2015 erschien in BIG Business Crime ein Artikel, der sich mit damals aktuellen Utopien libertĂ€rer Vordenker auseinandersetzte (BIG Nr. 2/2015). Im MĂ€rz 2021 berichtete BIG dann ĂŒber PlĂ€ne des US-Bundesstaats Nevada, auf seinem Territorium sogenannte Innovationszonen einzurichten, in denen ohne demokratische Legitimation ganze StĂ€dte neu aufgebaut und investierenden Unternehmen die staatlichen Hoheitsrechte ĂŒbertragen werden sollen (Justiz, Polizei, Schulen). Schon in den 2000er Jahren kursierte die Idee, in „EntwicklungslĂ€ndern“ staatenlose Enklaven zu bilden, fĂŒr deren Rechtssicherheit und Verwaltung westliche PartnerlĂ€nder zu sorgen hĂ€tten („Charter Cities“). Solche von vollstĂ€ndiger unternehmerischer Freiheit geprĂ€gte ModellstĂ€dte gelten als Weiterentwicklung der seit den 1990er Jahren weltweit bekannten Sonderwirtschaftszonen.

In seinem neuen Buch „PrivatstĂ€dte“ beschreibt der Soziologe und Publizist Andreas Kemper detailliert, wie sogenannte Libertarians oder Anarchokapitalisten nun den nĂ€chsten Schritt gehen und die ideologische BegrĂŒndung fĂŒr „freie PrivatstĂ€dte“ und deren praktische Errichtung vorantreiben. Deren Vorhaben, so der Autor, werde mit dem Argument legitimiert, dass die Beschneidung des Eigentums an Produktionsmitteln durch Demokratie und Gerechtigkeitspostulate die gesellschaftliche StabilitĂ€t gefĂ€hrden wĂŒrde.

Da es aber letztlich auch hier darum gehe, in abgegrenzten rĂ€umlichen Gebieten, die nur der Marktlogik unterworfen sind, dem Schutz von Investoren bzw. Kapitaleignern höchste PrioritĂ€t einzurĂ€umen und zugleich jegliche sozialstaatlichen Leistungen abzuschaffen, spricht Kemper in Anlehnung an den französischen Ökonomen Thomas Piketty von einem „Enklaven-Proprietarismus“. Gemeint ist eine Ideologie, „die das Recht von EigentĂŒmer*innen, ihre Produktionsmittel zu besitzen und möglichst uneingeschrĂ€nkt zu nutzen, als wichtiger erachtet als alle anderen Rechte“ (Seite 141f.). Die Strategie, PrivatstĂ€dte zu errichten, bezeichnet der Autor als „Privarismus“ (von lat. privare: rauben) (Seite 8). Denn das Ziel sei es, den Bewohner dieser StĂ€dte ihre Rechte wegzunehmen und so einen von demokratischen Verfahren losgelösten Kapitalismus durchzusetzen (ohne Gewerkschaften, allgemeine Wahlen usw.).

Der Autor gliedert seine Darstellung in zwei Teile: Im ersten erlĂ€utert er die Ideologie und die Netzwerke der Privatstadt-Bewegung, im zweiten geht er auf die Entwicklung einzelner konkreter Projekte ein. Dabei liegt der Fokus auf Honduras, einem der Ă€rmsten LĂ€nder Lateinamerikas. Nach einem rechten Putsch im Jahr 2009 öffnete sich der Staat fĂŒr die Einrichtung einer von seinem Rechtssystem abgekoppelten Charter City unter der Schirmherrschaft eines reichen westlichen Landes. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 10. Mai 2022 erlĂ€uterte Kemper, die Vorstellung sei gewesen, dass die neue Stadt als eine Art Leuchtturm auf den Rest des Landes abstrahlen sollte. Unter dem Einfluss der globalen proprietaristischen Netzwerke hĂ€tte sich das Projekt jedoch radikalisiert, so dass bald die GrĂŒndung einer Stadt ohne jegliche staatliche Beteiligung und unter rein privatwirtschaftlicher Verwaltung ins Auge gefasst worden sei.

Diese erste Phase endete jedoch 2012, als der dortige Oberste Gerichtshof das Vorhaben als verfassungswidrig einstufte. Diese Niederlage, so Kemper, leitete jedoch eine erfolgreiche zweite Phase der Entwicklung von PrivatstĂ€dten ein, die bis heute andauere. Im Jahr 2013 wurde die gesetzliche Grundlage fĂŒr „Sonderzonen fĂŒr BeschĂ€ftigung und Entwicklung“ (Zona de empleo y desarrollo econĂłmico – ZEDE) geschaffen, um die ModellstĂ€dte zu ermöglichen. Die honduranische Regierung ernannte im Jahr darauf einen international besetzten Aufsichtsrat fĂŒr die ZEDEs, der klar von Mitgliedern proprietaristischer Netzwerke dominiert wurde. Im Jahr 2020 erfolgte der Startschuss fĂŒr die Sonderzone PrĂłspera auf der honduranischen Insel RoatĂĄn.

Kemper illustriert an diesem Beispiel die Demokratiefeindlichkeit der Privatstadt-PlĂ€ne. So sei in PrĂłspera „eine Form von StĂ€ndedemokratie“ vorgesehen (Seite 100). Nur drei von neun Mitgliedern des fĂŒr die Verwaltung zustĂ€ndigen Gremiums sollen von den Bewohnern gewĂ€hlt werden, die Mehrzahl der Stimmen soll den Land- und Grundbesitzern vorbehalten bleiben. In anderen ZEDEs scheint gar kein Wahlrecht geplant zu sein.*

Kemper geht auch auf die Verbindungen des Proprietarismus mit deutschen Akteuren und Institutionen ein. So trat der deutsche Unternehmer Titus Gebel, einer der Vordenker der Bewegung, im April 2019 im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des Landes Hessen und des Verlags DIE ZEIT auf. Bei der „5. Jahrestagung Öffentliches Bauen“ durfte er den Eröffnungsvortrag halten und ĂŒber seine Vorstellung von „Freien PrivatstĂ€dten“ sprechen. Auch wird er mit den Worten zitiert: „Wenn Sie einen Sicherheitsdienstleister haben und sich sonst um ihre eigenen Angelegenheiten kĂŒmmern können – wozu brauchen Sie dann noch Demokratie?“ (Seite 86) Verschiedene UniversitĂ€ten trugen ebenfalls zur Propagierung des PrivatstĂ€dte-Konzepts bei. Die TUM international GmbH, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Technischen UniversitĂ€t MĂŒnchen, organisierte zum Beispiel im Jahr 2019 eine Investorenkonferenz zur Finanzierung des demokratiefreien Privatstadtprojekts auf der Insel RoatĂĄn.

Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass das international renommierte britische ArchitekturbĂŒro Zaha Hadid Architects fĂŒr das PrĂłspera-Projekt WohngebĂ€ude entwarf. Nicht ganz zufĂ€llig, denn der deutsche Architekt und Hochschullehrer Patrik Schumacher, Teilhaber des BĂŒros in London, setzt sich konsequent fĂŒr eine Radikalisierung des Neoliberalismus ein und hĂ€lt Sozialwohnungen und Maßnahmen fĂŒr billiges Wohnen „fĂŒr schĂ€dliches Teufelszeug“, wie es in einem von Kemper wiedergegebenen Zitat heißt (Seite 95). Selbstredend hĂ€lt er Datenschutz fĂŒr völlig ĂŒbertrieben, spricht sich gegen Arbeitsrechte aus und bezeichnet sich selbst als Sympathisant des Anarcho-Kapitalismus. Da aus dessen Sicht der Ausgleich von sozialen Unterschieden einen unzulĂ€ssigen Eingriff ins Marktgeschehen darstellt, benötigt der Proprietarismus die Rassen- und Klassenbiologie zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie Kemper schon zu Beginn seines Buches auf mehreren Seiten ausfĂŒhrt. Ein wichtiger Hinweis, weil der Autor damit auch die in Deutschland fortwirkende Relevanz der sogenannten Sarrazin-Debatte von vor ĂŒber zehn Jahren unterstreicht.

Die von den PrivatstĂ€dte-Propagandisten vorgetragene radikal individualistische Konzeption von Freiheit versteht der Autor letztlich als Ausdruck der Verachtung der Superreichen gegenĂŒber den Armen der Welt. Sie wendet sich gegen jede Idee von Gemeinwohl und sozialen Grundrechten, setzt dagegen auf die langfristige Abschaffung aller bekannten demokratischen Standards. Bislang beziehen sich die Ideen fĂŒr PrivatstĂ€dte zwar auf LĂ€nder des globalen SĂŒdens, die Investitionen mit weitreichenden Konzessionen anlocken wollen. Aber aus diesen Enklaven könnte perspektivisch ein weltweites Netz aus PrivatstĂ€dten entstehen. „Im Kleinen“ wird quasi unter Laborbedingungen erprobt, was zukĂŒnftig auch in Europa Raum greifen soll.

Andreas Kemper hat mit seinen akribisch zusammengetragenen Informationen ein deutliches Signal gesetzt, das eindrĂŒcklich vor dem bislang noch zu wenig beachteten „a-sozialen“ Treiben der selbsternannten Anarchokapitalisten warnt.

* Im April 2022 hat das Parlament von Honduras die Gesetze zur Schaffung von InvestorenstĂ€dten jedoch rĂŒckgĂ€ngig gemacht. Damit können nun keine neuen ZEDEs mehr errichtet werden. Allerdings scheinen die an den bereits existierenden Projekten beteiligten Investoren ihre Rechte umfassend durch Abkommen mit der honduranischen Regierung abgesichert zu haben. Bereits getĂ€tigte Investitionen im PrĂłspera-Projekt beispielsweise sollen von der Entscheidung des Nationalkongresses ĂŒber die Abschaffung der ZEDEs unberĂŒhrt bleiben (vgl. Armin Rothemann: „Gegen rechtsfreie Ministaaten“, taz am 22. April 2022).

Andreas Kemper: PrivatstĂ€dte. Labore fĂŒr einen neuen Manchesterkapitalismus, Unrast-Verlag, MĂŒnster 2022, ISBN 978-3-897771-175-4, 184 Seiten, 14 Euro

 

Gute und schlechte Gewinne? Übergewinnsteuer und die Frage der Moral

Laut Bertelsmann-Stiftung empfinden fast drei Viertel der Menschen in Deutschland die sozialen Unterschiede als ungerecht, noch mehr zweifeln an der gerechten Verteilung der wirtschaftlichen Gewinne im Land (vgl. SĂŒddeutsche Zeitung vom 9. September 2022). Zudem ergab eine im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemachte reprĂ€sentative Umfrage, dass ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer derzeit hohe Zustimmungswerte erzielen – ĂŒber alle ParteiprĂ€ferenzen hinweg. Etwa 72 Prozent der Befragten hierzulande befĂŒrworten eine stĂ€rkere Besteuerung von Unternehmen, die von der Marktentwicklung in der gegenwĂ€rtigen Krise stark profitieren und satte Gewinne einfahren.

Die sogenannte Übergewinnsteuer scheint in weiten Teilen der Bevölkerung in gleichem Maße populĂ€r zu sein, wie die moralische Empörung ĂŒber die „Krisen- und Kriegsgewinnler“ spĂŒrbar ist. Wohl auch um möglichen „Wutprotesten“ ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, kĂŒndigte deshalb die Bundesregierung Anfang September im dritten Entlastungspaket eine Reihe von Maßnahmen an. So will sie hohe Krisengewinne von Energieunternehmen abschöpfen, um mit den Einnahmen eine Begrenzung der Strompreise, das heißt einen gĂŒnstigen „Basistarif“ fĂŒr Privathaushalte sowie kleine und mittelstĂ€ndische Unternehmen finanzieren zu können.

Damit liegt die Ampelkoalition auf einer Linie mit der EU-Kommission, die bereits im MĂ€rz den Mitgliedsstaaten eine Leitlinie an die Hand gegeben hatte, wie sie solche „Zufallsgewinne“ abschöpfen und die Erlöse umverteilen könnte. Am 7. September schlug sie erneut vor, die Gewinne von Unternehmen ab einer gewissen Grenze mit einer Abgabe zu belegen. Die Initiativen von EU und Bundesregierung zielen dabei auf die Produzenten von Wind-, Sonnen- , aber auch Atomstrom, denen zurzeit Traumrenditen beschert werden, da der Strompreis am teuersten EnergietrĂ€ger Gas gekoppelt ist, ohne dass fĂŒr sie die Kosten gestiegen wĂ€ren. Nicht mehr im Fokus der Diskussion stehen dagegen die großen internationalen Energiekonzerne, die ihre GeschĂ€fte mit fossilen Brennstoffen machen und wegen der drastisch gestiegenen Gas- und Ölpreise ebenfalls hohe Gewinne verzeichnen können. Die Idee, auch von ihnen einen „SolidaritĂ€tsbeitrag“ in Form einer Steuer einzufordern, ist bislang am Widerstand von Finanzminister Christian Lindner und der FDP gescheitert.

Politisch kontroverse Initiativen dieser Art erscheinen einem ökonomischen Laien kompliziert und unĂŒbersichtlich. Sie werden zusĂ€tzlich seit vielen Wochen von einer nicht minder vielseitigen öffentlichen Debatte begleitet – bei der die Frage nach der rechtlichen Machbarkeit der Abschöpfung von „ungerechten“ Gewinnen ĂŒberprĂŒft, markttheoretische sowie verteilungspolitische Überlegungen angestellt und nicht zuletzt moralische Bewertungen vorgenommen werden. Fundierte Antworten dazu bietet eine im Sommer 2022 veröffentlichte Studie vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“, nach der in Deutschland bei EinfĂŒhrung einer Übergewinnsteuer fĂŒr Unternehmen der Gas-, Öl- und Strombranche Einnahmen in Höhe von 30 bis 100 Milliarden Euro pro Jahr möglich sind. Dem Zweifel, ob die Politik die Mittel dazu hat, die Abschöpfung der Übergewinne rechtssicher umzusetzen, entgegnet die Studie mit Verweis auf Veröffentlichungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestag, der eine solche Maßnahme fĂŒr juristisch umsetzbar hĂ€lt.

Auch dem besonders in der wirtschaftsliberalen Presse vorgebrachten Vorwurf, eine Übergewinnsteuer wĂŒrde die marktwirtschaftliche Ordnung und das Vertrauen in das Steuersystem gefĂ€hrden, parieren die Autoren der Studie: „Das Argument ist vor allem eine ideologische Verteidigung des Status Quo. In Zeiten eines Wirtschaftskrieges ist die Übergewinnsteuer möglicherweise sogar nötig, um das Vertrauen der BĂŒrger in das Steuersystem und das politische System aufrecht zu erhalten.“ (Seite 18) Der Journalist und Jurist Heribert Prantl hĂ€lt eine Abschöpfung der Krisengewinne ebenfalls fĂŒr verfassungskonform, ihre Nichtabschöpfung dagegen fĂŒr „obszön“ (SĂŒddeutsche Zeitung vom 3./4.September 2022).

Einer seiner Kollegen von der SĂŒddeutschen Zeitung, Nikolaus Pieper, hĂ€lt dagegen die Absicht der Regierung, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, fĂŒr „anmaßend“ (SĂŒddeutsche Zeitung vom 6. September 2022). Damit assistiert er Clemens Fuest vom Institut fĂŒr Wirtschaftsforschung (Ifo), der den BefĂŒrwortern einer Übergewinnsteuer entgegenhĂ€lt, es sei nicht sinnvoll, Sondersteuern zu erheben, da die Meinungen darĂŒber, welche GeschĂ€fte moralisch mehr oder weniger wertvoll seien, voneinander abwichen. Das aktuelle Gerechtigkeitsempfinden oder die besonderen Interessen einzelner Politiker, Parteien oder öffentliche Stimmungen dĂŒrften fĂŒr die Besteuerung nicht maßgeblich sein. Nur die Gleichbehandlung aller Steuerzahler schĂŒtze vor ungerechter Belastung und WillkĂŒr (vgl. Handelsblatt vom 9. Juni 2022).

Die gesamte FDP-Riege sperrt sich gegen die Übergewinnsteuer. Im ZDF-Talk „Markus Lanz“ beharrte das Mitglied des Bundesvorstands der Partei, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, darauf, dass es in Krisen immer Unternehmen geben werde, die plötzlich viel verdienten. Es gĂ€be schlicht keinen Übergewinn, so die Wirtschaftsliberale, sondern nur einen Gewinn. Damit zeigt sie Kante und kontert der allgemeinen Stimmungslage im Lande – und wundert sich nicht ganz zu Unrecht ĂŒber die kritischen Stimmen, denn sie bekennt sich lediglich zu einer Grundregel des kapitalistischen Marktsystems. Denn wer Marktgewinne von Unternehmen, die zu wirtschaftlichen Nachteilen oder Notsituationen bei anderen Marktteilnehmern fĂŒhren – ob Firmen oder Einzelpersonen – als unmoralisch oder ungerecht bewertet, muss zwingend das dem Missstand zugrundeliegende ökonomische System abschaffen wollen. Das System beruht schließlich auf Mechanismen, die Ungleichheiten voraussetzen und zugleich permanent erzeugen.

„Das wird ganz besonders deutlich im Zusammenhang mit der so genannten Globalisierung,“ so der Jurist Thomas Fischer im Rechtsmagazin Legal Tribune Online, „weil aufgrund der gravierenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklungen sich Gewinne erzielen lassen, die innerhalb entwickelter nationaler oder beschrĂ€nkter MĂ€rkte nicht möglich wĂ€ren. Karl Marx wĂŒrde sagen: Der ‚Surplus-Profit‘ ist das Alpha und das Omega des rational handelnden Kapitalisten.“ Um dessen wirtschaftliches Handeln mit seinen unsozialen Folgen zumindest einzuschrĂ€nken, sollte vor allem auf Instrumente zurĂŒckgegriffen werden, die verfassungsgemĂ€ĂŸ sind und fĂŒr die die schwierige Unterscheidung von „schlechten ĂŒbermĂ€ĂŸigen“ und „guten normalen“ Gewinnen ĂŒberflĂŒssig ist.

Nichts spricht gegen die EinfĂŒhrung von Übergewinnsteuern, wie sie andere LĂ€nder bereits eingefĂŒhrt oder beschlossen haben. Die weitgehend fehlende gesellschaftliche Legitimation von sogenannten Krisengewinnen sollte aber genutzt werden, Forderungen und Überlegungen aufzugreifen, die ĂŒber die aktuelle Debatte hinausgehen. Dazu gehört es zum Beispiel, die Preissetzungsmacht monopolistisch auftretender Energiekonzerne in den Fokus zu nehmen (Forderung nach Entflechtung und Vergesellschaftung), das Steuersystem mit Blick auf die extremen sozialen Ungleichheiten umfassend zu ĂŒberprĂŒfen (inklusive der wirtschaftskriminellen Machenschaften) und die historisch immer wieder aufflammende Diskussion ĂŒber die Demokratisierung der Wirtschaft zu fördern.

Quellen:

Mario Candeias/Eva Völpel/Uwe Witt: „Mehrheit fĂŒr Energiepreisdeckel und Übergewinnsteuer. Ergebnisse einer reprĂ€sentativen Befragung“. Hrsg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, September 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46961/mehrheit-fuer-energiepreisdeckel-und-uebergewinnsteuer

Thomas Fischer: „Sollte der Staat ‚Über‘- und ‚Zufallsgewinne‘ abschöpfen?“, 5. September 2022, LTO – Legal Tribune Online
https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/fragen-an-fischer-uebergewinn-steuer-zufallsgewinn-abschoepfung-wucher/

Christoph Trautvetter/David Kern-Fehrenbach: „Kriegsgewinne besteuern: Ein Beitrag zur Debatte um Übergewinnsteuern“. Studie des Netzwerk Steuergerechtigkeit im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Sriftung, Berlin, August 2022
https://www.rosalux.de/publikation/id/46854/uebergewinnsteuer

Literaturtipp:

Christoph Trautvetter/Yannick Schwarz: Jahrbuch Steuergerechtigkeit 2021. Hrsg. vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, Berlin, August 2021
https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/jahrbuch2021/

Neues zum Kampf gegen GeldwÀsche

Zwei Jahre hatte die Financial Action Task Force (FATF) die BekĂ€mpfung von GeldwĂ€sche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland geprĂŒft. Das Ergebnis fiel ernĂŒchternd aus: In einem umfangreichen Bericht vom August 2022 stellt das wichtigste internationale Gremium gegen GeldwĂ€sche fest, dass es trotz einzelner Fortschritte auch große Defizite beim AufspĂŒren und der Verfolgung vieler FĂ€lle gibt. Schon vor Veröffentlichung der Studie ging deshalb Bundesfinanzminister Lindner in die Offensive und propagierte einen „Paradigmenwechsel“ beim Kampf gegen FinanzkriminalitĂ€t. Vor allem soll laut „Eckpunktepapier“ des Ministeriums vom 23. August eine neue zentrale Bundesbehörde aufgebaut werden, um die bislang zersplitterten Kompetenzen zu bĂŒndeln – noch sind rund 300 Aufsichtsbehörden, vom Bund bis in die Kommunen, mit der Ermittlungsarbeit gegen die FinanzkriminalitĂ€t betraut.

Laut FATF hĂ€tte es vor allem Erfolge bei den kleinen FĂ€llen gegeben, Vollzugsbedarf dagegen beim AufspĂŒren der großen, international verzweigten FinanzkriminalitĂ€t. Einen von mehreren StrĂ€ngen der neuen Oberbehörde soll deshalb ein neues Bundesfinanzkriminalamt bilden, „das gezielt komplexe FĂ€lle von illegalen FinanzflĂŒssen aufklĂ€rt, sich auf den ‚follow-the-money‘-Ansatz fokussiert und bei der Sanktionsdurchsetzung den Hut aufhat“, wie es im Eckpunktepapier heißt.

Der Vorstoß des FDP-Ministers stieß ĂŒberwiegend auf positive Resonanz. Der rechtspolitische Sprecher der oppositionellen Union, GĂŒnter Krings, bezeichnete die VorschlĂ€ge als „richtig und ĂŒberfĂ€llig“. Zustimmung kam ebenfalls von den GrĂŒnen: Marcel Emmerich, Obmann im Innenausschuss, hĂ€lt allerdings auch die Einrichtung eines Immobilienregisters fĂŒr nötig, da viele Kriminelle mit ihrem „schmutzigen Geld“ HĂ€user, Wohnungen oder auch GrundstĂŒcke bar und ohne Nachweis bezahlen wĂŒrden und deshalb nicht nur eine Bundesbehörde erforderlich sei. Ähnlich argumentierte der Bundestagsabgeordnete der Linken, Pascal Meiser, der eine Pflicht zur Offenlegung der tatsĂ€chlichen EigentĂŒmer von Immobilien und Unternehmensanteilen sowie der Herkunft grĂ¶ĂŸerer Vermögen fordert (vgl. Stern vom 23. August 2022).

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, begrĂŒĂŸte den politischen Vorstoß zwar generell, zeigte sich aber skeptisch gegenĂŒber der Einrichtung einer weiteren zusĂ€tzlichen Behörde. Er forderte, die bereits bestehenden polizeilichen Teile des Zolls besser zu organisieren. Entscheidend seien eine gute organisatorische Einbindung der neuen Behörde in die deutsche Sicherheitsarchitektur und zusĂ€tzliche Befugnisse, um verdĂ€chtiges Vermögen aufzuspĂŒren und zu konfiszieren (vgl. junge Welt vom 26. August 2022 und Handelsblatt Online vom 23. August 2022).

Frank Buckenhofer, bei der Gewerkschaft der Polizei fĂŒr den Zoll zustĂ€ndig, fand es zwar gut, dass sich die Regierungskoalition verstĂ€rkt fĂŒr die BekĂ€mpfung der GeldwĂ€sche interessiert. Er zeigte sich aber skeptisch gegenĂŒber der Einrichtung eines Bundesfinanzkriminalamtes, das zunĂ€chst „nur eine sperrige WorthĂŒlse“ sei. Die Behörde könnte ihren Zweck verfehlen, sollte sie sich nur durch einen zentralen Charakter auszeichnen. „Neben einer koordinierenden Zentralstelle“, so Buckenhofer, „brauchen wir auch Fahnder vor Ort, quasi an der Front, die mit ausreichenden polizeilichen Kompetenzen ausgestattet werden.“ So wie es bei der Guardia di Finanza in Italien der Fall sei. Buckenhofer sprach sich auch fĂŒr eine Darlegungspflicht aus: Besitzer großer Vermögen sollten im Zweifelsfall erklĂ€ren können, woher diese stammten. Doch genau davor scheine das FDP-gefĂŒhrte Finanzministerium zurĂŒckzuschrecken. Diese Art der Beweislastumkehr sei offensichtlich nicht vorgesehen (vgl. Wirtschaftswoche Online vom 24. August 2022).

Gerhard Schick von der BĂŒrgerbewegung Finanzwende begrĂŒĂŸte die PlĂ€ne Lindners fĂŒr eine stĂ€rker zentralisierte GeldwĂ€scheaufsicht, hielt sie jedoch auch nicht fĂŒr weitreichend genug. Schwere SteuerkriminalitĂ€t Ă  la Cum-Ex wĂŒrde offensichtlich ausgeklammert. Zudem mĂŒssten den Behörden auch die richtigen Werkzeuge in die Hand gegeben werden. Er plĂ€dierte fĂŒr mehr Möglichkeiten bei der Abschöpfung von Vermögenswerten. In Zukunft sollte der Grundsatz gelten, dass diese beschlagnahmt werden, wenn deren wirtschaftlich Berechtigte nicht transparent gemacht werden könnten (rp-online.de vom 23. August 2022).

FĂŒr Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit kann eine neue Behörde durchaus ein Beitrag zur Lösung des Problems darstellen. Bislang ermittele das Bundeskriminalamt im Fall einer der GeldwĂ€sche vorausgehenden Straftat und wĂŒrde so nur „die kleinen Fische“ fangen. Es reiche aber nicht, den Drogendealer zu verfolgen, nicht aber den Anwalt, den Notar oder den Mitarbeiter einer Bank, der das Geld wasche. Das Finanzministerium habe richtig erkannt, dass es einen Paradigmenwechsel geben mĂŒsse – es sei vom verdĂ€chtigen Geldfluss ausgehend zu ermitteln, damit die professionellen GeldwĂ€scher, die organisiert KriminalitĂ€t betrieben, von den Behörden nicht unerkannt bleiben (vgl. junge Welt vom 1. September 2022).

Im Interview mit der jungen Welt antwortete Trautvetter auf die Frage, woher plötzlich der Wille der Bundesregierung komme, FinanzkriminalitĂ€t zu verfolgen, die sonst Unternehmen willfĂ€hrig Geld hinterherwerfen wĂŒrde:

„Der politische Wille, den Schattenfinanzmarkt auszutrocknen, ist erst vorhanden, seit die Financial Action Taskforce droht, Deutschland vom internationalen Finanzmarkt abzukoppeln. Die bisherige UntĂ€tigkeit ist auch darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass das Geld im Fall von GeldwĂ€sche meist nicht dem deutschen Staat direkt entgeht, sondern oft aus Straftaten aus anderen LĂ€ndern stammt. Man sagt einfach: Geld stinkt nicht; die dahinterstehende KriminalitĂ€t ist nicht unser Problem! Ich bin aber optimistisch, dass der Druck etwas bewirkt.“

 

Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und „Sozialbetrug“ im Vergleich

Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar fĂŒr viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen GerichtssĂ€len von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe wĂŒrden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, mĂŒssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschĂ€rft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von ArmutskriminalitĂ€t zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-GesprĂ€ch erlĂ€uterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kĂ€men Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-BetrĂŒgern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit wĂŒrde in beiden FĂ€llen geschĂ€digt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffĂ€llig. [4]

Wissenschaftlich unterfĂŒttert wird diese – nicht unbedingt ĂŒberraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrĂŒgerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen fĂŒr beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fĂŒnf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von VergĂŒnstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen BetrĂ€ge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit fĂŒr eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der fĂŒr beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„FĂŒr die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (
) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhĂ€ngt werden; bei höheren HinterziehungsbetrĂ€gen soll es dann zu BewĂ€hrungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € ĂŒbersteigt, sollten regelmĂ€ĂŸig Freiheitsstrafen ohne BewĂ€hrung verhĂ€ngt werden. FĂŒr den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren SchadensbetrĂ€gen mit wesentlich hĂ€rteren Strafen geahndet. Beaucamp fĂŒhrt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf BewĂ€hrung fĂŒhren, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf BewĂ€hrung. Das Landgericht OsnabrĂŒck verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschĂ€tzte SchĂ€den von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 EinzelfĂ€lle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht fĂŒr den deutschen Staat nach SchĂ€tzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jĂ€hrlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als SozialleistungsempfĂ€nger. Viele Menschen mit LeistungsansprĂŒchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine AntrĂ€ge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrĂŒgen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschrĂ€nkt. In FĂ€llen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gĂ€be es keine „natĂŒrliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, AnwĂ€lte und Banken fĂŒr ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten ĂŒberschreiten wĂŒrden. FĂŒr Steuerhinterziehung im grĂ¶ĂŸeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrĂŒckt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fĂ€hrt, begeht eine Straftat und wird mit aller HĂ€rte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld fĂŒr Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld fĂŒr mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (AnkĂŒndigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins GefĂ€ngnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

VorschlĂ€ge fĂŒr eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. MĂ€rz 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454

Aggressiver Lobbyismus des Fahrtenvermittlers Uber

Die am 10. Juli 2022 veröffentlichten Uber-Files zeigen, wie der global agierende US-Fahrdienstleister versuchte, Politik und Öffentlichkeit mit dubiosen Methoden zu beeinflussen. Das Ziel bestand darin, sich Zugang zu den europĂ€ischen MĂ€rkten zu verschaffen und etwa in Deutschland das Personenbeförderungsgesetz zu Ă€ndern. UnterstĂŒtzt wurde der Konzern dabei von Politik, Wissenschaft und Medien.

Die Informationen basieren auf internen Dokumenten des Unternehmens, die dem britischen Guardian zugespielt und von rund 40 Medien weltweit ausgewertet wurden. In Deutschland beteiligten sich daran WDR, NDR und SĂŒddeutsche Zeitung (SZ). Laut SZ vom 11. Juli 2022 stammt das Material (rund 124.000 E-Mails, Textnachrichten und Analysen) von einem ehemaligen Uber-Manager, der von 2014 bis 2016 fĂŒr das Unternehmen als Cheflobbyist in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gearbeitet hatte. Belegt werden vor allem die Lobbypraktiken des US-Konzerns in der Zeit von 2013 bis 2017, als Uber weltweit aggressiv expandierte. Ab 2014 wollte sich Uber auch in Deutschland verstĂ€rkt etablieren. Allerdings wehrte sich die Taxibranche massiv gegen die PlĂ€ne des Konzerns. Es kam zu mehreren Gerichtsurteilen, die Uber-Dienste verboten: „Das Dumme nur: Deutsche Gerichte sehen in Uber nicht nur ein digitales Start-up, das lediglich eine App zur VerfĂŒgung stellt, sondern vielmehr einen Fahrdienst, der deshalb, ebenso wie Taxis, eine Lizenz benötige und dafĂŒr auch örtliche Niederlassungen grĂŒnden mĂŒsste. Infolge wĂ€re der US-Konzern in Deutschland damit voll steuerpflichtig.“ (Tagesschau.de vom 10. Juli 2022)

Das GeschĂ€ftsmodell von Uber besteht darin, ĂŒber eine App und gegen satte Provisionen Fahrdienste zu vermitteln, das heißt ohne einen eigenen Fuhrpark Mitfahrgelegenheiten via Smartphone zu ermöglichen – und damit das Taximonopol zu brechen. Der Konzern, der 2009 in San Francisco gegrĂŒndet wurde und im letzten Jahr 17 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte, steht damit in direkter Konkurrenz zum regulierten deutschen Taxi-Markt. Deshalb tat sich bislang auch die öffentliche Meinung mit der Dienstleistung des US-Unternehmens eher schwer.

Einen Eindruck vom rabiaten Auftreten des UnternehmensgrĂŒnders Travis Kalanick vermittelte die SZ am 11. Juli 2022:

„Dass dieser Expansion bisweilen nationale Arbeitsschutzgesetze oder Beförderungsbestimmungen entgegenstanden, störte Kalanick offenbar nicht. GesprĂ€che mit Politikern bezeichnete er als ‚Zeitverschwendung‘, demonstrierenden Taxifahrern hielt er entgegen, Roboter wĂŒrden bald ihren Platz einnehmen. Kaum hatte das Unternehmen einen Markt betreten, sollten die Behörden dort die Regeln im Sinne Ubers Ă€ndern. Das Manager Magazin verglich Kalanick einmal mit einem Cowboy, der die SchwingtĂŒren zum Saloon eintritt, sich den Weg zum Tresen freischießt – und dort zuvorkommend bedient werden will.“

Wie aber konnte Uber ĂŒber Jahre hinweg Politiker, Wissenschaftler und Medien fĂŒr sich einspannen, um die öffentliche Meinung und die Gesetze in seinem Sinne zu beeinflussen?

Die Politik:

Laut SZ setzte sich der damalige französische Wirtschaftsminister Emmanuel Macron direkt fĂŒr Uber ein. Zwischen 2014 und 2017 traf er sich mindestens vier Mal mit Kalanick, drei der ZusammenkĂŒnfte waren bisher nicht öffentlich bekannt. „Dabei soll es auch zu einer geheimen Absprache gekommen sein, die Uber das GeschĂ€ft erleichtert haben soll“, schreibt das Handelsblatt am 10. Juli 2022. „Als Finanzminister habe Macron sich ‚selbstverstĂ€ndlich mit zahlreichen Unternehmen ausgetauscht‘, erklĂ€rte ein Sprecher des PrĂ€sidenten. Dabei sei es auch darum gegangen, bestimmte administrative oder regulatorische Sperren aufzuheben.“ Auf EU-Ebene war die NiederlĂ€nderin Neelie Kroes, bis Ende 2014 als EU-Kommissarin fĂŒr die digitale Agenda verantwortlich, behilflich. Sie soll sich bei Politikern ihres Landes fĂŒr Uber stark gemacht haben. Nach ihrem Ausscheiden in BrĂŒssel und nach Ablauf einer Karenzzeit ĂŒbernahm sie einen gut bezahlten Job als Beraterin bei dem US-Unternehmen (vgl. Spiegel vom 10. Juli 2022).

FDP-Politiker Otto Fricke stellte den Kontakt zu deutschen Politikern her, zum Beispiel zum damaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt und zur StaatssekretĂ€rin Dorothee BĂ€r (beide CSU). Laut SZ sei es das Ziel gewesen, das Personenbeförderungsgesetz zu Ă€ndern. In dieser Zeit, zwischen 2014 und 2016, war Fricke fĂŒr eine Beratungsfirma als Lobbyist tĂ€tig. Bereits von 2002 bis 2013 gewĂ€hlter Bundestagsabgeordneter, stieg er dann ab 2017 wieder in die Politik ein und kam erneut in den Bundestag.

Die Wissenschaft:

Laut Uber-Files fand der Konzern ĂŒber Fricke auch Kontakt zu Justus Haucap, Professor fĂŒr Wirtschaftslehre an der UniversitĂ€t DĂŒsseldorf – einem „ÜberzeugungstĂ€ter, der im Taximonopol ohnehin ein Problem sah“ (SZ vom 11. Juli 2022). Dieser verfasste 2015 fĂŒr 44.000 Euro eine Studie zu den angeblich positiven Wirkungen der Marktöffnung fĂŒr die Verbraucher und platzierte laut SZ einen „flankierenden“ Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fĂŒr weitere 4.000 Euro. Die Studie wurde vor Erscheinen offensichtlich von Uber noch einmal gegengelesen und in Absprache mit Haucap abgeĂ€ndert.

Die Medien:

Die Uber-Files enthĂŒllen, dass „die Berater des Unternehmens von Beginn an auch einige der mĂ€chtigsten Medienkonzerne Deutschlands auf dem Zettel hatten: Axel Springer, Hubert Burda Media, Pro Sieben Sat 1“. (SZ vom 12. Juli 2022) Tagesschau.de beschrieb am 11. Juli das strategische Vorgehen Ubers:

„Um in Deutschland besser angenommen zu werden, hoffte Uber auch auf UnterstĂŒtzung von Medienunternehmen. Der Springer-Konzern bot Hilfe an und investierte in das Start-up. Vor allem fĂŒr den damaligen ‚Bild‘-Chef Diekmann interessierte sich Uber. (
) Man wollte sich am liebsten mit der grĂ¶ĂŸten deutschen Boulevardzeitung zusammentun, um den Zutritt zum deutschen Markt zu erleichtern. ‚Wir brauchen jemanden wie Kai Diekmann, der TĂŒren fĂŒr uns öffnet‘, schrieben die Uber-Manager damals. Und in einer anderen E-Mail: ‚Kai Diekmann ist der beste Weg, auch um zu Merkel zu kommen.‘ Diekmann galt bei Uber als einer der mĂ€chtigsten Medienmacher. (
) Offen fĂŒr UnterstĂŒtzungsleistungen zeigte sich laut den Uber Files Axel Springer. Der Konzern beteiligte sich Anfang 2016 mit einem kleinen Investment am US-Unternehmen. ‚FĂŒr uns ist der Wert die UnterstĂŒtzung und der Einfluss des Verlags in Berlin und BrĂŒssel‘, hielten Uber-Manager dazu intern fest. (
) E-Mails zeigen auch, wie hilfsbereit Springer-Manager fĂŒr Uber waren. Sie wollten zum Beispiel dabei helfen, den Uber-Chef Travis Kalanick mit hochrangigen Politikern zusammenzubringen. ‚Bitte teilen Sie uns mit, welche Politiker Travis in dem Zusammenhang treffen möchte (…)‘. (
) Über Springers Uber-Beteiligung erfuhr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls lange nichts, erst im April 2017 wurde sie bekannt, als Diekmann ‚Bild‘ verließ und in ein Beratergremium von Uber wechselte – das ‚Policy Advisory Board‘, wie Uber es nennt.

Diekmann ließ mitteilen, er habe dabei geholfen, fĂŒr Axel Springer bei den relevanten Technologieunternehmen TĂŒren zu öffnen und wichtige Kontakte herzustellen. ‚Es ging darum, den ‚Spirit‘ zu verstehen‘. Einen Interessenkonflikt zwischen seinen GesprĂ€chen und Treffen mit Tech-Unternehmen wie Uber und seinen Aufgaben bei ‚Bild‘ habe es nie gegeben.“

 

Quellen:

Nina Bovensiepen u.a.: „Über Uber“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Jan Diesteldorf u.a.: „Wer schreibt, der bleibt“, SZ vom 11. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum/Jan Diesteldorf: „Bitte recht Uber-freundlich“, SZ vom 12. Juli 2022 (Printausgabe)

Petra Blum u.a.: „Deutsche Lobbyisten im Dienste eines US-Konzerns“, Tagesschau.de vom 10. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-105.html

Petra Blum u.a.: „Wie Uber deutsche Medien umwarb“, Tagesschau.de vom 11. Juli 2022

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/uber-files-107.html

„Datenlecks decken schmutzige Lobbyarbeit des Fahrdienstleisters Uber auf“, Der Spiegel (Online) vom 10. Juli 2022

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/uber-datenlecks-decken-schmutzige-lobbyarbeit-des-fahrdienstleisters-auf-a-c1cae170-ce5c-44a0-90b4-58b0d66416ad

 

Adler Group: derzeit Skandalunternehmen Nummer eins in der deutschen Immobilienbranche

Über Jahre hinweg informierte fast nur die Fachpresse ĂŒber die undurchsichtigen GeschĂ€fte der Adler Group, ehemals einer der grĂ¶ĂŸten Wohnungskonzerne Europas. Ende Juni wurde dann von NDR und rbb eine TV-Dokumentation ĂŒber die „dubiosen“ Praktiken des Unternehmens ausgestrahlt – bleibt zu hoffen, dass damit eine öffentlichkeitswirksame Berichterstattung Fahrt aufnimmt und die Adler Group weiter unter Druck gerĂ€t. Der Aktienkurs der rechtlich in Luxemburg ansĂ€ssigen und von Berlin aus operierenden Unternehmensgruppe ist bereits innerhalb eines Jahres um nicht weniger als 80 Prozent eingebrochen und liegt aktuell (Ende Juni 2022) nur noch bei knapp ĂŒber vier Euro.

FĂŒr Aufsehen in Fachkreisen sorgte Adler zuletzt Ende MĂ€rz 2022, als die WirtschaftsprĂŒfer von KPMG etwas taten, was in der Branche extrem ungewöhnlich ist – sie verweigerten dem Unternehmen das Testat fĂŒr den Jahresabschluss 2021. Seitdem ist fĂŒr Adler der Zugang zu frischen Geldern am Kapitalmarkt blockiert. Wegen fehlender Unterlagen konnten die PrĂŒfer verschiedene Transaktionen der Firma nicht nachvollziehen. So wurden ihnen etwa 800.000 Dokumente vorenthalten, vornehmlich E-Mails zwischen der Gesellschaft und ihren Rechtsberatern. Auch deshalb blieb unklar, in welchem Ausmaß GeschĂ€fte mit „nahestehenden Personen“ abgeschlossen werden konnten und gegen geltende Vorschriften verstoßen wurde. Nun kommen Berichte ĂŒber unseriöse GeschĂ€ftspraktiken hinzu: Vor allem geht es um unbezahlte Rechnungen von Handwerksbetrieben und Baustopps bei Großprojekten trotz vorliegender Baugenehmigungen. Auch deshalb spricht der Journalist Christoph Twickel in der Zeit davon, dass sich der Konzern, dem zwischenzeitlich rund 70.000 Wohnungen gehörten, sogar „zu einer Art Wirecard der Immobilienbranche“ auswachsen wĂŒrde (Die Zeit vom 27. Juni 2022).

Den Stein ins Rollen brachte aber wieder einmal der britische LeerverkĂ€ufer Fraser Perring, der bereits zur AufklĂ€rung des Wirecard-Skandals entscheidend beigetragen und im vergangenen Oktober in einem Bericht seiner Analysefirma Viceroy ein vernichtendes Urteil ĂŒber die Adler Group gefĂ€llt hatte („eine BrutstĂ€tte fĂŒr Betrug, TĂ€uschung und finanzielle Falschdarstellung“). [1] Eine Gruppe von „nahestehenden“ Personen plĂŒndere das Unternehmen zulasten der AktionĂ€re aus, heißt es dort. In der ARD-Doku vom 27. Juni 2022 beschrieb Perring das GeschĂ€ftsmodell der Adler-Gruppe: Es gehe vor allem darum, Bewertungen von Immobilien zu fĂ€lschen, um den Strippenziehern hinter den Kulissen Geld zuzuschanzen. Das funktioniere wie ein Schneeballsystem, das dazu diene, Gelder abzuziehen, zugleich aber immer neue Anleihen auszugeben. Deshalb habe Viceroy die Adler-Profiteure in ihrem Report „bond-villains“ („Anleihe-Schurken“) genannt. Mit dem Begriff „ausplĂŒndern“ („looting“) meine er, dass Adler Immobilienwerte kĂŒnstlich aufblĂ€he, sich dann gĂŒnstige Kredite besorge, um davon Geld an die eigenen Leute ausschĂŒtten zu können.

 

Bewertungstricks

Wirklich neu ist das Problem der Bewertung von Immobilien allerdings nicht. Die Bilanzexpertin Carola Rinker unterstrich jĂŒngst in einem Video der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK), dass Wertsteigerungen von Immobilien von Wohnungskonzernen bilanziell gewinnerhöhend erfasst werden können. Soll heißen: Auch die Adler Group hat ihren Gewinn nicht in erster Linie durch Vermietung von Wohnungen oder den Bau und Verkauf von Immobilien gemacht, sondern durch WertzuwĂ€chse ihrer „assets“. Besonders GeschĂ€fte der Adler Group mit nahestehenden Personen halfen also Buchwerte zu begrĂŒnden, aus denen Gewinne – ohne LiquiditĂ€tszuflĂŒsse – abgeleitet werden konnten.

Mit Blick auf den Jahresabschluss von 2020 stellt Rinker nĂŒchtern fest, dass das Unternehmen ohne Wertsteigerungen der Immobilien keine schwarzen Zahlen hĂ€tte vorweisen können. Die Adler Group stelle mit ihrer Praxis aber keinen Einzelfall dar. TatsĂ€chlich belegte der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup schon vor einigen Jahren in verschiedenen Gutachten fĂŒr die Partei Die Linke, dass börsennotierte Immobilienkonzerne wie Vonovia und die Deutsche Wohnen (DW) außerordentlich hohe Renditen auf ihr Eigenkapital erzielten – fĂŒr DW in den Jahren 2012 bis 2015 durchschnittlich 18,7 Prozent. Normal seien damals fĂŒnf bis sechs Prozent gewesen. Ungewöhnlich hohe Dividenden fĂŒr die AktionĂ€re seien die Folge gewesen. Die reale Wertschöpfung durch die Bewirtschaftung der Immobilien hĂ€tte die Höhe der AusschĂŒttungen jedoch nicht gedeckt. Dieser gemĂ€ĂŸ der internationalen Bilanzregeln legale Praxis, Bewertungsgewinne zu erzielen, wĂŒrde es zum einen ermöglichten, leichter an gĂŒnstige Bankkredite zu kommen, zum anderen Teile der Buchgewinne an die Shareholder auszuschĂŒtten. [2] FĂŒr die Mieter:innen eine beĂ€ngstigende Praxis: Denn eine Höherbewertung der Immobilien basiert letztlich auf erwarteten ĂŒppigen zukĂŒnftige Mieteinnahmen bei möglichst moderaten Instandhaltungskosten.

Bontrups wissenschaftliche Analyse bestĂ€tigt auch die Aussagen des Shortsellers Perring ĂŒber die GeschĂ€ftsstrategie der Adler-Gruppe. Bemerkenswert ist, dass die AufklĂ€rung im Fall der dubiosen Adler-Deals vornehmlich von einem Insider betrieben wird, der selbst vom fallenden Aktienkurs der Adler-Gruppe profitiert. Die Bundesanstalt fĂŒr Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dagegen lĂ€uft hinterher und stĂŒtzt sich auf die Expertise des selbst am Markt agierenden LeerverkĂ€ufers. Aber immerhin – die viel gescholtene Bundesbehörde wird nun endlich aktiv. Aktuell fĂŒhrt sie ein Bilanzkontrollverfahren bei Adler durch, da „konkrete Anhaltspunkte fĂŒr RechnungslegungsverstĂ¶ĂŸe vorliegen“.

 

Staatliche Aufsicht

„Bilanzkontrollverfahren gelten als scharfes Schwert der Behörde“, schrieb das Handelsblatt am 22. Juni 2022. „Die Bafin kann direkt und auch vor Ort bei Unternehmen eingreifen, beispielsweise mit forensischen Mitteln. Die Aufsicht ist zudem befugt, Organvertreter und BeschĂ€ftigte zur Vernehmung vorzuladen. Bei erheblichen VerstĂ¶ĂŸen kann sie GeschĂ€fts- und WohnrĂ€ume durchsuchen und GegenstĂ€nde beschlagnahmen. (…) Vor einigen Wochen stellte die Bafin dann Strafanzeige, nachdem sie den Verdacht einer womöglich unrichtigen Bilanzierung hegt. Der Blick der Aufseher richtete sich vor allem auf eine Immobilientransaktion aus dem Jahr 2019.“

Diese betraf ein Entwicklungsareal in DĂŒsseldorf-Gerresheim. Laut ARD-Doku wollte die Adler-Group damals den Berliner Konzern ADO Properties fĂŒr 350 Millionen Euro ĂŒbernehmen. Deshalb verkaufte Adler das DĂŒsseldorfer GrundstĂŒck fĂŒr 375 Millionen Euro an einen anderen Investor, dessen GeschĂ€ftsfĂŒhrer ein Schwager des Adler-Beraters Cevded Caner ist. Caner wiederum lenkt nach Meinung von Branchenkennern im Hintergrund maßgeblich die Geschicke der Adler-Gruppe. Caners Schwager bezahlte offensichtlich aber nur einen kleinen Teil des Kaufpreises. Auf dem Papier jedoch hatte Adler nun genĂŒgend Kapital, um die ADO zu ĂŒbernehmen. Nach nur einem Jahr wurde der Kauf wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht. „Der Verdacht: Es war ein Scheinverkauf, um die Bilanz nach oben zu treiben“, so Christoph Twickel in der Zeit vom 27. Juni.

Die Bilanz des Konzerns sollte mutmaßlich aufpoliert werden, um das Ausmaß seiner hohen Verbindlichkeiten zu verschleiern. Denn Adler hat in der Vergangenheit viele Anleihen ausgegeben und ist hoch verschuldet. FĂŒr Anleihen garantiert die Adler Group aber einen maximalen Verschuldungsgrad von 60 Prozent (Loan-to-value)*. „Ein Bruch mit den Bedingungen“, so das Handelsblatt am 24. Mai, „hĂ€tte das Unternehmen ins Verderben fĂŒhren können. RĂŒckzahlungen von bis zu 1,8 Milliarden Euro hĂ€tten gedroht“.

Nachdem der Konzern einen großen Teil seines Wohnungsbestandes verkaufen musste, um fĂ€llige Anleihen zurĂŒckzahlen zu können, schwindet die Bedeutung des angeschlagenen Konzerns zunehmend. Branchenkenner verweisen jedoch auch wegen der verbliebenen Milliardenschulden auf seine „Systemrelevanz“. Grund genug fĂŒr den Konzern, weiter alle gegen ihn erhobenen VorwĂŒrfe abzustreiten – als wĂ€re nichts geschehen. Mit Blick auf die Jahreshauptversammlung am 29. Juni 2022 zeigte sich das Handelsblatt deshalb stark verwundert ĂŒber die unkritische Haltung der Anteilseigner und titelte: „Hauptversammlung nach nur 20 Minuten beendet: Adler-AktionĂ€re bestĂ€tigen Verwaltungsratschef und CEO. Trotz Ermittlungen der Behörden, verweigertem Testat und Milliardenverlust darf selbst der aktuelle Chef weitermachen.“

* Der Loan to Value ist eine wichtige immobilienwirtschaftliche Kennzahl, definiert das VerhĂ€ltnis von Kredit zum Verkehrswert einer Immobilie und wird zur BonitĂ€tsprĂŒfung genutzt. 

 

Anmerkungen:

[1] vgl. auch „BetrugsvorwĂŒrfe gegen Immobilienkonzern Adler“, BIG-Nachricht vom 22. Oktober 2021

http://big.businesscrime.de/category/nachrichten/page/2/

[2] vgl. Joachim Maiworm: „Giganten auf dem Wohnungsmarkt“, in: BIG Business Crime 3-2017, Seite 27f.

Tipps:

„Immobilienpoker – Die dubiosen GeschĂ€fte eines Wohnungskonzerns“. Ein Film der ARD von Miichael Richter und Christoph Twickel, 27. Juni 2022

https://www.ardmediathek.de/video/dokus-im-ersten/immobilienpoker-dubiose-geschaefte/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL3JlcG9ydGFnZSBfIGRva3VtZW50YXRpb24gaW0gZXJzdGVuLzA2NzYwNTQ0LWFkNDYtNDcyZC1hMTk1LTRhODJmNzliMDFlZg

„Immobilienpoker“, Ein Feature von Christoph Twickel, NDR Feature Box, 28. Juni 2022

https://www.ardaudiothek.de/episode/ndr-feature-box/immobilienpoker/ndr-info/10616065/

 

Ein erhellender Blick hinter die Werkstore

Zur Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt von Migrant:innen liegt bereits eine breite Forschungsliteratur vor. Untersuchungen zu deren konkreten ArbeitsverhĂ€ltnissen gibt es dagegen nur wenige. „Grenzen aus Glas“ dokumentiert deshalb die Ergebnisse einer breit angelegten empirischen Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen ĂŒber die Arbeitsbedingungen, die Arbeitsprozesse und die ArbeitskĂ€mpfe im Online-Versandhandel und in der Fleischindustrie. Der Autor Peter Birke und seine Mitarbeiter:innen fĂŒhrten in der Zeit von 2017 bis Mitte 2021 bei Amazon, Tönnies und anderen Unternehmen fast 220 qualitative Interviews durch – vor allem mit BeschĂ€ftigen, aber auch mit Manager:innen, BetriebsrĂ€t:innen und weiteren Expert:innen. Dabei wurde ein breites Spektrum der Migration abgedeckt (geflĂŒchtete Menschen aus Drittstaaten und EU-Migrant:innen). Wichtige Erkenntnisse konnten die Wissenschaftler:innen auch durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen und BeratungsgesprĂ€chen sammeln.

WĂ€hrend der Hochzeit der Corona-Pandemie mit ihren Masseninfektionen standen beide Branchen (als Fallbeispiele fĂŒr den Dienstleistungssektor und die „klassische“ Industrie) kurzzeitig massiv in der öffentlichen Kritik. Deutlich wurde dabei, dass in deren Niedriglohnbereichen fast ausschließlich Menschen ohne deutschen Pass arbeiten. Die Untersuchung setzt aber bereits einige Jahre zuvor an, nimmt das Anwerben und Ankommen der Betroffenen in den Blick und offenbart eindrĂŒcklich die HĂ€rten des Arbeitsalltags mit ihren vielfĂ€ltigen Diskriminierungen.

Online-Handel und Fleischindustrie weisen dabei trotz aller Unterschiede große Ähnlichkeiten auf. Beide Branchen expandieren seit zwanzig Jahren außerordentlich schnell und produzieren auf dem neuesten Stand der Technik. Sie rationalisieren kontinuierlich ihre Arbeitsprozesse, beuten zeitgleich immer neue ArbeitskrĂ€fte zu Niedriglöhnen und unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen aus. Von einem Verschwinden der „Einfacharbeit“ in Zeiten durchdigitalisierter Arbeitsprozesse kann deshalb nicht die Rede sein. Denn in beiden Bereichen muss schwere körperliche und psychische Arbeit geleistet werden. Der Gesundheitsschutz wird hier wie dort oft vernachlĂ€ssigt; die Arbeitszeiten sind lang (mitunter bis zu zwölf Stunden am Tag bei einer 7-Tage-Woche). In der Fleischindustrie wurden in der Vergangenheit sogar körperliche Übergriffe von Vorgesetzten bekannt; im Versandhandel stehen die Arbeitenden unter einer permanenten computergestĂŒtzten Echtzeit-Kontrolle. Auf Seite 64 des Buches heißt es: „So gilt insbesondere das, was man ĂŒber die Arbeitsbedingungen bei Amazon weiß, als Musterbeispiel fĂŒr ein System rigider Zergliederung und Kontrolle der Arbeit in Anwendung digitaler Technologien“.

Der Autor wendet sich jedoch gegen die Verwendung der Bezeichnung „moderne Sklaven“ fĂŒr die BeschĂ€ftigten, selbst wenn sich manche der gefragten Arbeiter:innen selbst so bezeichnen – insbesondere solche in der Fleischindustrie. Denn diese sind keineswegs nur wehrlose Opfer ausbeuterischer Unternehmer. Reflektiert werden in dem Buch deshalb auch die Möglichkeiten der Gegenwehr gegen die „Vernutzung von ArbeitskrĂ€ften“, wie es der Autor formuliert. Viele der Betroffenen entwickeln durchaus vielfĂ€ltige Formen von Alltagswiderstand. Auch fanden in den Jahren 2020 bis 2022 kollektive Protestaktionen statt, ohne dass die breite Öffentlichkeit diese wahrgenommen hĂ€tte. Es gab Tarifstreiks der Gewerkschaft NGG und vor allem im Jahr 2020 etliche „wilde Streiks“ ohne gewerkschaftliche RĂŒckendeckung, stattdessen begleitet von engagierten Beratungsstellen. Dies blieb nicht ohne Erfolg: Das seit Anfang 2021 geltende Arbeitsschutzkontrollgesetz verbietet beispielsweise den Einsatz von WerkvertrĂ€gen in der Fleischindustrie. In den Bereichen Schlachtung und Zerlegung darf nur noch eigenes Stammpersonal der Unternehmen arbeiten. Im vergangenen Jahr konnte durch die Gewerkschaft NGG eine Erhöhung des Mindestlohnes durchgesetzt werden.

Die gefĂŒhrten Interviews belegen auch, dass vor allem in der Fleischwirtschaft wirtschaftskriminelle Praktiken ĂŒblich sind. Befragte berichten davon, dass sie fĂŒr einige Wochen ununterbrochen an sieben Tagen die Woche arbeiten mussten. Die Industriereinigung (Reinigung der Maschineneparks) stellt dabei die „Nachtseite“ der Fleischindustrie dar. Sie wird öffentlich wenig beachtet, umfasst aber einige der gefĂ€hrlichsten TĂ€tigkeiten in der Branche. Da das Arbeitsschutzkontrollgesetz diesen Bereich nicht umfasst, wird diese TĂ€tigkeit auch nach Beginn der Pandemie weiterhin von Serviceunternehmen auf Werkvertragsbasis durchgefĂŒhrt. Interviewte klagten beispielsweise durchgehend darĂŒber, schlecht eingearbeitet worden zu sein:

„Da (gibt es) so eine Art Sicherheitsknopf oder so einen Alarmknopf, wo man (
) drei Mal draufdrĂŒcken muss. (
) Und, ja, (ein Kollege) war neu und wusste auch wohl nichts, hat wohl einmal gedrĂŒckt. Das war schon eher verwunderlich , dass der am StĂŒck wieder rausgekommen ist. (
) ArbeitsunfĂ€lle passieren (auch), weil tendenziell hohe Fluktuation. Also jemand, der zwei, drei Jahre dabei ist, ist schon eigentlich ein ganz alter Hase. Sind viele dabei, die zwei, drei Monate und (dann) wieder wechseln.“ (Seite 216)

Mangelnde Einarbeitung stellt einen wesentlichen Grund fĂŒr UnfĂ€lle und Verletzungen dar. Der Druck auf das Reinigungspersonal nimmt zudem dann stark zu, wenn in Schlachtung und Zerlegung Überstunden anfallen. Letztlich fĂŒhre dies, so der Autor, zu deutlichen Verzögerungen beim Arbeitsbeginn der Reinigungskolonne und einem entsprechend verdichteten Pensum. Dabei komme es dann auch zur illegalen Streichung der arbeitsrechtlich vorgeschriebenen halbstĂŒndigen Pause – die daraus resultierende Arbeitsverdichtung fĂŒhre im Effekt zu UnfĂ€llen. Auch berichten ArbeitskrĂ€fte davon, dass sie fĂŒr den Abschluss eines Arbeitsvertrages – selbstredend illegale – Schmiergelder, oft auch „GebĂŒhren“ genannt, an Vermittler oder Vorgesetzte bezahlen mussten (eine Betroffene nennt den Betrag von 1.200 Euro).

Dennoch hĂ€lt Birke, wie schon erwĂ€hnt, wenig davon, von „modernen Sklaven“ zu reden. Die typische öffentliche Verwendung dieses Begriffs spiegele zudem nicht die „multiple PrekaritĂ€t“ der Betroffenen wider. Dies sei ein wichtiger Aspekt – der Begriff beziehe sich nĂ€mlich nicht nur auf den Arbeitsprozess selbst, sondern schließe die LebensverhĂ€ltnisse insgesamt ein (eingeschrĂ€nkte Aufenthalts- und Sozialrechte, miserable Wohnbedingungen).

Dass sich die BeschĂ€ftigten von Amazon, Tönnies und Co. mit wenigen Ausnahmen nicht vorstellen können, unter den gegebenen Bedingungen lange in den jeweiligen Unternehmen zu arbeiten, wundert deshalb nicht. Mitte 2021 waren rund drei Viertel der GesprĂ€chspartner:innen nicht mehr in dem Betrieb beschĂ€ftigt, in dem sie zum Zeitpunkt der Interviews einen Arbeitsvertrag hatten. Der weitgehend bestehende gesellschaftliche Konsens darĂŒber, dass „Arbeit“ auf jeden Fall gut fĂŒr die gesellschaftliche Integration von geflĂŒchteten Menschen sei – unabhĂ€ngig von den jeweiligen Arbeitsbedingungen – darf deshalb als zynisch anmutender Unsinn bewertet werden. Die vorliegende Studie zeigt, dass diese Form der Erwerbsarbeit  vielmehr einen sozialen Ausschluss zementiert.

Die ankommenden Migrant:innen werden immer wieder mit „glĂ€sernen WĂ€nden“ konfrontiert, die von außen kaum sichtbar, aber fĂŒr die Betroffenen doch spĂŒrbar sind. „Grenzen aus Glas“ werden erlebt als Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt, durch die Tatsache, dass in der Fleischwirtschaft „Eintrittsgelder“ bezahlt werden mĂŒssen, um einen Arbeitsplatz zu erhalten, durch das Tragen markierter Kleidung fĂŒr die Mitarbeiter:innen von Subunternehmen oder das Verbot, PausenrĂ€ume benutzen zu dĂŒrfen, die Festangestellten vorbehalten sind. Migrantische ArbeitskrĂ€fte laufen gegen WĂ€nde, weil sie geltende RechtsansprĂŒche kaum durchsetzen können, denn unter den gegebenen MachtverhĂ€ltnissen lĂ€sst sich erfahrenes Unrecht nur selten korrigieren. „Aber die Frage, wie das Unrecht von vornherein vermieden werden könnte, ruft bei uns allen, den Arbeitenden selbst und den sie begleitenden Angehörigen, Berater*innen, Gewerkschafter*innen, Forschenden – Ratlosigkeit hervor.“ (Seite 221)

Dieser pessimistischen Feststellung hĂ€lt der Autor im ResĂŒmee allerdings eine kĂ€mpferische Ansage entgegen: „Es stellt sich also erstens die Frage, warum man fĂŒr einen Zugang von Migrant*innen zu ArbeitsmĂ€rkten kĂ€mpfen sollte, auf denen praktisch nur derartige und vergleichbare TĂ€tigkeiten angeboten werden. Und zweitens, ob man mit Blick auf die konkrete Ausformung von Produktion und Dienstleistungen nicht sogar fĂŒr eine Abschaffung dieser Art von Arbeit eintreten sollte.“ (Seite 337) Bei einer Buchvorstellung im Rahmen der „Linke Buchtage Berlin“ Mitte Mai 2022 wurde Peter Birke im Hinblick auf die Fleischindustrie noch deutlicher: Die Arbeit dort sei nicht humanisierbar, die Fabriken mĂŒssten geschlossen werden.

Peter Birke: „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und KĂ€mpfe der Migration in Deutschland“, Mandelbaum Verlag, Wien und Berlin 2022, 400 Seiten, 27 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Cum-Ex als Form der ElitenkriminalitĂ€t – und der Staat schaut zu

Das Buch erschien zum richtigen Zeitpunkt: nur wenige Wochen vor Beginn des lang erwarteten Strafprozesses gegen Steueranwalt Hanno Berger. Dieser – eine zentrale Figur im Cum-Ex-Skandal – steht nach neun Jahren Flucht seit Anfang April 2022 in Bonn vor Gericht.

Allerdings waren die Machenschaften um Cum-Ex schon vor etwa 30 Jahren bekannt. Insider der Finanzszene wussten bereits damals, dass sich Banken und Anleger am Fiskus bereichern, indem sie sich Steuern rĂŒckerstatten ließen, die sie zuvor ĂŒberhaupt nicht bezahlt hatten. Vor nunmehr 20 Jahren befasste sich das Bundesfinanzministerium mit dem Komplex, unternahm aber (wohl unter dem Einfluss der Bankenlobby) trotz vorliegender Hinweise vorerst nichts. Erst weitere zehn Jahre spĂ€ter, im Herbst letzten Jahres, veröffentlichte der Investigativjournalist Oliver Schröm eine erste umfangreiche und spannend geschriebene Monografie („Die Cum-Ex-Files“, erschienen im Ch. Links Verlag) ĂŒber den Megabetrug.

Massimo Bognanni, der vor zwei Jahren bereits an einer preisgekrönten TV-Dokumentation zu Cum-Ex mitgearbeitet hatte, legte jetzt nach. Bognanni weist in dem neuen Buch ebenfalls nach, um was es bei dem Steuerbetrug in Milliardenhöhe letztlich geht: um organisierte KriminalitĂ€t zu Lasten des Gemeinwohls. Es ist zu hoffen, dass die beiden BĂŒcher dazu beitragen, den bislang ausgebliebenen öffentlichen Proteststurm gegen diese Form der WirtschaftskriminalitĂ€t zu entfachen.

Bognanni versucht erst gar nicht, die Cum-Ex-Praxis in ihrer KomplexitĂ€t zu beschreiben. Er belĂ€sst es bei der leicht nachvollziehbaren Einsicht, dass GeschĂ€fte nicht legal oder moralisch vertretbar sein können, bei denen der Staat Steuern erstattet, die nie gezahlt wurden. Der Autor konzentriert sich auf zwei ErzĂ€hlstrĂ€nge. Zum einen dokumentiert er das „jahrzehntelange Versagen des Staates und seiner Institutionen“ (Seite 5), zum anderen folgt er Schritt fĂŒr Schritt der AufklĂ€rung des Skandals und damit der Arbeit der eigentlichen „Heldin“ des Buches – der Kölner StaatsanwĂ€ltin Anne Brorhilker. Diese hat durch ihre unermĂŒdliche Arbeit und auch gegen WiderstĂ€nde in den eigenen Reihen eine Reihe von TĂ€tern vor Gericht gebracht.

Die Verstrickungen des Staatsapparates in die „Steuerbetrugsindustrie“ (Seite 9) belegt der Autor anhand mehrerer Beispiele. So begann erst im Oktober 2014 eine ernstzunehmende Ermittlung gegen Cum-Ex. In elf LĂ€ndern und mit mehr als tausend Beamten wurde damals eine Großrazzia veranstaltet – mit Brorhilker als leitender StaatsanwĂ€ltin. Der Staat hĂ€tte jedoch schon 1992 tĂ€tig werden können. Ein hessischer Börsenaufseher hatte in einem Artikel fĂŒr den vielbeachteten Frankfurter Finanzmarktbericht festgestellt, dass es bei Banken offenbar gĂ€ngige Praxis war, mehrere Steuerbescheinigungen fĂŒr ein und dieselbe Aktie auszustellen. Der Börsenaufseher durchschaute damit „ein perfides System“, so Bognanni. „Denn wer Steuerbescheinigungen ausstellen kann, der kann quasi Geld drucken.“ (Seite 23)

Das Bundesfinanzministerium unter Leitung von Theo Waigel (CSU) sah jedoch keinen Anlass, etwas zu unternehmen. Eine grundsĂ€tzliche Lösung des Problems, so das Ministerium damals, hĂ€tte in „gewissen ZeitrĂ€umen“ zu einem Verbot des Handels sowohl von Aktien als auch im Rahmen von TermingeschĂ€ften fĂŒhren mĂŒssen. Angeblich wĂ€ren eine weitgehende Verlagerung der GeschĂ€fte ins Ausland und damit ein „gravierender Schaden fĂŒr den Finanzplatz Deutschland“ die Folgen gewesen (Seite 25). Im gleichen Zusammenhang sah die Frankfurter Finanzbehörde nach Absprache mit dem Oberstaatsanwalt von Ermittlungsverfahren gegen mehrere Makler ab, die unter dem Verdacht standen, doppelte Steuerbescheinigungen produziert zu haben – mit dem schlichten Verweis auf fehlendes Personal bei der Steuerfahndungsstelle (Seite 28f.).

Neben Ex-Bundesfinanzminister Theo Waigel zeigten sich auch seine Amtsnachfolger SteinbrĂŒck (SPD), SchĂ€uble (CDU) und Scholz (SPD) wenig geneigt, den Cum-Ex-GeschĂ€ften einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Unter der Ägide von Peer SteinbrĂŒck etwa wurde im Jahr 2009 zwar eine Meldepflicht eingefĂŒhrt, die jede Bank verpflichtete, „dem Bundeszentralamt fĂŒr Steuern zu melden, wenn die technischen Voraussetzungen fĂŒr Cum-Ex-Deals gegeben waren“. (Seite 240) Offensichtlich wurde eine dann akribisch erstellte Liste mit ĂŒber fĂŒnfhundert EintrĂ€gen von der Behörde aber nicht ĂŒberprĂŒft, auch nicht in Stichproben. Die Aufstellung der VerdachtsfĂ€lle wurde an das Finanzministerium weitergereicht. Was dort damit geschah, blieb jedoch völlig unklar. Bei StaatsanwĂ€ltin Brorhilker, die die Liste dringend gebraucht hĂ€tte, landeten die Informationen jedenfalls erst im Juni 2020.

Ein weiterer Fall fĂŒr das dubiose Verhalten der Behörden waren die Cum-Ex-GeschĂ€fte der einst mĂ€chtigen landeseigenen WestLB, die bestens mit der NRW-Politik vernetzt war. Im Mai 2007 meldete sich ein Whistleblower aus dem Innern der Finanzindustrie bei der BaFin (Bundesanstalt fĂŒr Finanzdienstleistungsaufsicht), um auf Praktiken der Landesbank aufmerksam zu machen, die auf Cum-Ex-GeschĂ€fte hinwiesen. Die BaFin recherchierte selbst – jedoch ausgerechnet bei der WestLB. „Der Bauer fragt den Fuchs“, kommentiert Bognanni (Seite 79). Im FrĂŒhjahr 2021 enthĂŒllten Journalisten schließlich, dass die BaFin ihre im Jahr 2007 erhaltenen Informationen wegen ihrer Verschwiegenheitspflicht nach dem Kreditwesengesetz, so die Darstellung der BaFin, nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben hatte. Die jedoch bestreitet ausdrĂŒcklich, dass es je eine Verschwiegenheitspflicht fĂŒr mutmaßliche Steuerhinterzieher gegeben habe (Seite 82).

Nach all den unglaublichen VorgĂ€ngen im Umkreis des Cum-Ex-Komplexes stellt Bognanni in seinem Epilog nĂŒchtern fest, dass der Skandal noch lange nicht vorbei sei. Auch wĂŒrde StaatsanwĂ€ltin Brorhilker, die sich seit 2013 mit superreichen Investoren und abgebrĂŒhten WirtschaftsanwĂ€lten herumschlagen muss, noch Jahrzehnte brauchen, ihre Ermittlungen abzuschließen. Nach Meinung des Rezensenten kann das als Beleg dafĂŒr gewertet werden, dass die staatlichen politischen Entscheider das Entstehen einer Betrugsindustrie erst ermöglicht haben.

Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Staatsanwaltschaften, wie Anne Brorhilker dem Buchautor anvertraute, auf Insiderwissen angewiesen sind, um die immer neuen Steuerbetrugsmodelle verstehen und damit den mafiösen Netzwerken auf die Spur kommen zu können. Ohne Whistleblowing erscheint eine AufklĂ€rung nĂ€mlich kaum möglich. Dem Optimismus Bognannis, der Staat könne selbst gegenĂŒber einer global agierenden Steuermafia wehrhaft sein, denn es brauche nur „die richtigen Menschen an der richtigen Stelle“ (Seite 6), ist trotz des beeindruckenden Engagements einzelner StaatsanwĂ€lt*innen, Journalisten und anderer Aktivist*innen nicht zuzustimmen.

Was Bognanni nicht leistet, ist eine Analyse des politischen und ökonomischen Systems, welches GeschÀfte wie Cum-Ex immer wieder hervorbringt beziehungsweise sie ermöglicht. Eine solche Analyse zu liefern war aber auch nicht Anliegen des Autors. Er liefert lediglich die detaillierte und lebendige Beschreibung des Cum-Ex-Komplexes als Form organisierter KriminalitÀt und der korrupten Rolle staatlicher Institutionen und ReprÀsentanten. Und dies ist ihm bestens gelungen.

Massimo Bognanni: Unter den Augen des Staates. Der grĂ¶ĂŸte Steuerraub in der Geschichte der Bundesrepublik, MĂŒnchen 2022, dtv, 285 Seiten, 20 Euro

 

 

 

 

 

Eigentumsfrage auf der Agenda. Volksentscheid der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ erfolgreich

In den letzten 30 Jahren stellten Politik und privater Wohnungsmarkt wieder einmal ihre UnfĂ€higkeit unter Beweis, der Mehrheitsbevölkerung eine Grundversorgung an Wohnraum zu garantieren. Dennoch ĂŒberraschte es, dass die Berliner*innen am 26. September 2021 mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen gegenĂŒber 39 Prozent Nein-Stimmen deutlich fĂŒr den Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer renditeorientierter Wohnungskonzerne votierten. Mehr als eine Millionen Wahlberechtigte der Stadt folgten damit der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Die Forderung zur Vergesellschaftung vereinte damit fast dreimal so viele Stimmen hinter sich wie die Wahlsiegerin SPD bei der parallel ablaufenden Abgeordnetenhauswahl. Jetzt ist der kĂŒnftige Senat am Zug: Er ist gehalten ein Gesetz zu erarbeiten, um die Vergesellschaftung der BestĂ€nde aller privaten Wohnungsunternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen umzusetzen – das heißt die Konzerne gegen EntschĂ€digung zu enteignen und die Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts zu ĂŒberfĂŒhren. Insgesamt handelt es sich um mehr als 240.000 Wohneinheiten (etwa 15 Prozent der Berliner Mietwohnungen), die in Zukunft gemeinwohlorientiert bewirtschaftet werden sollen. Rund ein Dutzend Immobilienunternehmen wĂ€ren betroffen.

Nicht nur in traditionell linken Kiezen wie Kreuzberg-Friedrichshain und Neukölln stimmte eine Mehrheit fĂŒr das Vorhaben, auch in eher konservativen Bezirken unterstĂŒtzen die BĂŒrger*innen mehrheitlich „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“. Selbst in vielen Außenbezirken, in denen die Initiative eher schwach organisiert war, unterstĂŒtzten die Menschen die Forderung: in Marzahn-Hellersdorf mit 55,8 Prozent, in Spandau mit 51,9 Prozent, in Pankow mit 60,8 Prozent. Bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl wurde allerdings die SPD stĂ€rkste Kraft, obwohl sie sich zuvor dezidiert als Gegnerin der Enteignungsidee positioniert hatte. So hatte Franziska Giffey (SPD), vermutlich die neue Regierende BĂŒrgermeisterin Berlins, zuletzt mehrfach geĂ€ußert, auch einen erfolgreichen Volksentscheid nicht umsetzen zu wollen – obwohl sich Umfragen zufolge 61 Prozent der SPD-AnhĂ€nger*innen fĂŒr die Vergesellschaftung ausgesprochen hatten. Auch nach der Entscheidung sagte Giffey zwar eine PrĂŒfung des Vorhabens zu, betonte aber auch, die Enteignung bei fehlender VerfassungskonformitĂ€t nicht zu vollziehen. Auch CDU, AfD und FDP sind – ebenso wie die Wirtschaftslobby – prinzipiell gegen Enteignungen. WĂ€hrend sich Die Linke klar fĂŒr das Vorhaben ausspricht, weicht BĂŒndnis 90/DieGrĂŒnen aus: Die Partei hĂ€lt einen solchen Schritt allenfalls „als Ultima Ratio“ fĂŒr möglich.

Was von manchen Leuten als letzte Möglichkeit gesehen wird, gegen die prekÀre Wohnsituation in der Hauptstadt vorzugehen, weist in der Tat einige Problempunkte auf.

  • Es wurde nicht ĂŒber einen konkreten Gesetzentwurf abgestimmt, der nun vom Berliner Senat umgesetzt werden mĂŒsste. Insofern, so kritische Stimmen, sei das Ergebnis fĂŒr die zukĂŒnftige Landesregierung rechtlich nicht bindend. Das Votum bedeute lediglich eine Aufforderung an den Senat, ein entsprechendes Gesetz zur ÜberfĂŒhrung der BestĂ€nde großer privater Wohnungsunternehmen zu erarbeiten und vom Abgeordnetenhaus verabschieden zu lassen.
  • Gutachten sĂ€en generell Zweifel an der rechtlichen ZulĂ€ssigkeit einer Enteignung. Nach EinschĂ€tzung von Juristen stelle diese einen „unverhĂ€ltnismĂ€ĂŸiger Eingriff in privates Eigentum“ dar. Laut Enteignungs-Initiative bejahen dagegen sieben Gutachten die Möglichkeit einer verfassungsgemĂ€ĂŸen Umsetzung; drei vertreten eine gegenteilige Auffassung. Alle drei negativen Voten, so berichtet das Neue Deutschland, seien vom Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) in Auftrag gegeben worden. In jedem Fall dĂŒrfte ein erarbeitetes Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht landen und die juristische Auseinandersetzung die Stadt ĂŒber Jahre beschĂ€ftigen.
  • Ein weiterer Streitpunkt ist die Frage, ob sich die Höhe der EntschĂ€digung am Marktwert der Immobilien orientieren muss oder auch darunter bleiben kann. Die EntschĂ€digungskosten wĂŒrden sich laut Prognosen des Senats auf bis zu 36 Milliarden Euro belaufen, wĂ€hrend die Enteignungsinitiative mit allenfalls 7,3 bis 13,7 Milliarden Euro rechnet. Laut Initiative sollen die zu diesem Zwecke aufzunehmenden Kredite aus den Mieteinnahmen der enteigneten WohnungsbestĂ€nde getilgt werden – die Stadt mĂŒsse keine neuen Schulden anhĂ€ufen. Sollte der vom Senat errechnete Höchstwert von 36 Milliarden Euro veranschlagt werden, könnte die EntschĂ€digung mit einer durchschnittlichen Miete von etwa 8,87 Euro/qm refinanziert werden. Dies ist allerdings eine deutliche Erhöhung gegenĂŒber der gegenwĂ€rtigen Durchschnittsmiete von Deutsche Wohnen & Co von 6,71 Euro/qm.
  • BefĂŒrworter*innen des Volksentscheids argumentieren, dass nur die Ablösung von profitorientierten durch gemeinwohlorientierte TrĂ€ger durch die Decke schießende Mieten verhindern könnte und deshalb enteignet werden mĂŒsse – weil eben kein anderes Mittel mehr helfe. Dieser Blick blendet aber tatsĂ€chlich vorhandene Möglichkeiten aus: Vor allem die Schaffung von neuem, dauerhaft im öffentlichem Eigentum verbleibenden und bezahlbaren Wohnraum fĂŒr alle Bevölkerungsschichten – eine Voraussetzung fĂŒr einen anzustrebenden entspannten Wohnungsmarkt. Auch beim Wohnungsbau ist deshalb die Eigentumsfrage zu stellen. Letztlich sollte der Ausbau der sozialen Infrastruktur in allen Bereichen angesteuert werden: Wohnen, Gesundheit, Bildung, Verkehr.

Als vorlÀufiges Fazit folgt ein lÀngeres Zitat aus dem Berliner MieterEcho:

„Bestehende EigentumsverhĂ€ltnisse werden von großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr als unverĂ€nderlich oder gar als ‚gerecht‘ empfunden. Und das weit in die Klientele von SPD, CDU und auch der AfD hinein. Es ist zweifellos ein Verdienst dieser Initiative, eine im besten Sinne ‚linkspopulistische‘, antikapitalistische Kampagne erfolgreich initiiert und verbreitert zu haben. (…) Materiell ist von dem Volksentscheid (…) allerdings kaum etwas zu erwarten. Zum einen soll es sich nicht um eine ‚Enteignung‘ im klassischen Sinne handeln. Vielmehr geht es um eine Art gesetzlich angeordneten Zwangsverkauf an kommunale TrĂ€ger. Wobei der zu entrichtende Preis voraussichtlich erst durch langwierige Gerichtsverfahren ermittelt werden wĂŒrde. Und zum anderen hat der Volksentscheid kein entsprechendes Gesetz zum Inhalt, sondern nur die Aufforderung an den kommenden Senat, ein solches zu erlassen. Was dieser wohl (…) kaum tun wird, da außer den Linken keine Partei die Enteignungsforderung unterstĂŒtzt. (…) Außerdem ignoriert das Volksbegehren geflissentlich das Hauptproblem des Berliner Wohnungsmarktes: Den Mangel an dauerhaft bezahlbaren Wohnungen und den Mangel an Wohnungen ĂŒberhaupt. Und dieses Defizit ist in erster Linie nur durch den massiven Neubau kommunaler Wohnungen zu ĂŒberwinden. Den politischen Verdienst der Initiative, das Thema Enteignung in den Fokus der stadtpolitischen Auseinandersetzung gerĂŒckt zu haben, schmĂ€lert das aber nicht.

 

Quellen:

Nicolas Ơustr: „Sozialisierung ist Regierungsauftrag“, Neues Deutschland vom 27. September 2021

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157025.deutsche-wohnen-co-enteignen-sozialisierung-ist-regierungsauftrag.html

Rainer Balcerowiak: „Volksentscheid als Appell an die Politik“, MieterEcho 420/September 2021

https://www.bmgev.de/mieterecho/archiv/2021/me-single/article/volksentscheid-als-appell-an-die-politik/

Initiative Deutsche Wohnen & Co. Enteignen: Was Vergesellschaftung kostet. Zahlen und Mythen, 1. Dezember 2020

https://www.dwenteignen.de/was-vergesellschaftung-kostet/