Mangelhafte Aufarbeitung des „Cum-Ex“-Skandals: Verjährungen drohen
Laut Stefan Weismann, Präsident des Bonner Landgerichts, kommt der Staat bei der juristischen Aufarbeitung des milliardenschweren „Cum-Ex“-Steuerbetrugs nicht hinterher. „Weil es um bandenmäßigen Betrug geht, beträgt die Verjährungsfrist 20 Jahre“, sagte Weismann gegenüber dem Handelsblatt. Das sei im Prinzip eine lange Zeit. Aber die Mehrheit der juristisch zu bewertenden „Cum-Ex“-Geschäfte würde zwischen 2007 und 2009 liegen. Die erste Verjährung wäre also 2027. Weismann: „Bei der Vielzahl und Komplexität der Fälle ist das nicht mehr allzu fern.“ (Handelsblatt, 25. Mai 2020)
Nach Angaben des Handelsblatts sind in den „Cum-Ex“-Skandal mehr als 100 Banken mit etwa 1.000 Verantwortlichen auf vier Kontinenten verwickelt. Die Speerspitze der Aufklärung bildet die Staatsanwaltschaft Köln. Diese versinkt aber offenbar in einer Vielzahl von immer neuen Fällen, weil die ihr zur Verfügung stehenden Stellen für deren Bearbeitung nicht ausreichen.
„Das erste Urteil im Cum-Ex-Skandal liegt zwei Monate zurück. Die Staatsanwälte bereiten nun die nächste Anklage vor. Das Strafverfahren betrifft vier aktuelle und ehemalige Banker der M.M. Warburg Gruppe. Anders als im ersten Prozess bestreiten die Beschuldigten eine Schuld – das macht das Verfahren nicht kürzer. Frühestens im Herbst, schätzen Insider, könnte eine dritte Anklage folgen. Würde weiterhin jeder Fall sukzessive abgehandelt, wären noch sehr viele Jahre erforderlich. (…) Insider berichten von einem Stimmungswechsel unter den Steuersündern. Habe es angesichts des Aufmarsches in Bonn vor einem Jahr noch die Neigung gegeben, sich bloß schnell und glimpflich mit der Justiz zu einigen, würden mehrere Beschuldigte auf Konfrontation und Verzögerung umschalten. Ihre Botschaft an den Rechtsstaat: Ihr werdet ja doch nicht rechtzeitig fertig.“ (Handelsblatt, 25. Mai 2020)
Die Süddeutsche Zeitung (SZ) bestätigt diese pessimistische Perspektive anhand eines „Cum-Ex“-Falles in Frankfurt:
„Monatelang saß Wolfgang Schuck, einst Chef des Frankfurter Bankhauses Maple, in Untersuchungshaft. Das Geldinstitut soll den Fiskus um 388 Millionen Euro geprellt haben, der Ex-Chef ist einer der Hauptverdächtigen in einem riesigen Wirtschaftskrimi, der Cum-Ex-Affäre. Doch vergangene Woche kam Schuck frei, gegen eine Kaution in Höhe von 1,8 Millionen Euro und weitere Auflagen. Das habe auch mit Corona zu tun, glauben Anwälte, die mit dem Fall Maple zu tun haben. ‚Ein voller Gerichtssaal, wie soll das gehen?‘ Wäre der Ex-Maple-Chef weiter im Gefängnis, dann müsste das Landgericht Frankfurt bald einen Prozess gegen Schuck und sechs weitere Angeschuldigte ansetzen. Haftfälle haben Vorrang.“
Offensichtlich schiebt die Justiz in Corona-Zeiten lange Verhandlungen mit vielen Beteiligten wegen des Infektionsrisikos gerne auf (während die Verjährungsfristen selbstverständlich weiterlaufen). Und sie lässt eine auffallende Milde gegenüber mutmaßlichen Straftäter*innen walten.
Die SZ schreibt: „In München zeichnet sich ein rasches Ende eines Prozesses um Schwarzarbeit in der Baubranche ab. Die vier Angeklagten, die einen Schaden in Millionenhöhe verursacht haben sollen, dürfen auf ein mildes Urteil hoffen. In Köln habe ein Verfahren um den Verkauf von Doping-Mitteln plötzlich keine Eile mehr, nachdem der Hauptverdächtige aus der Untersuchungshaft freigekommen sei, erzählt ein beteiligter Jurist. (…) Das Coronavirus hilft mutmaßlichen Betrügern und Steuerhinterziehern, die in großer Zahl und großem Stil Straftaten begangen haben sollen. ‚De facto entwickeln wir uns durch Corona zurück in die Zeit, als Fälle von Wirtschaftskriminalität weniger deutlich verfolgt wurden als andere Verbrechen‘, warnt Michael Kubiciel, Strafrechtsprofessor an der Universität Augsburg. (…) Auf große Wirtschaftsprozesse spezialisierte Verteidiger haben in Corona-Zeiten jedenfalls meist leichtes Spiel. ‚Wir bekommen fast jeden Antrag durch‘, sagen mehrere Anwälte. Ob das nun um Haftverschonung gehe oder um Vernehmungstermine, die verschoben werden sollen. Ein Anwalt sagt, ‚wir haben derzeit in weiten Teilen des Wirtschaftsstrafrechts einen Corona-bedingten Stillstand der Rechtspflege‘.“
Quellen:
Volker Votsmeier / Sönke Iwersen: „Staat kommt bei Aufarbeitung des historischen Steuerbetrugs nicht hinterher – Verjährungen drohen“, Handelsblatt, 25. Mai 2020
Klaus Ott / Jörg Schmitt / Nils Wischmeyer: „Wirtschaftsprozesse: Coronavirus hilft mutmaßlichen Betrügern“, Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2020
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pandemie-gericht-verfahren-1.4895394