„Überausbeutung und Rechtsnihilismus“ ‒ Eine Medienschau zu den Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachthöfen

Seit vielen Jahren schon prangern kritische Journalisten, Gewerkschaftsvertreter*innen und auch viele ehrenamtlich arbeitende Initiativen die skandalösen Arbeits- und Wohnbedingungen von Werkvertragsbeschäftigten in der Fleischindustrie an. Aber erst die Ausbreitung des Coronavirus und die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens – vor allem im Umfeld einiger Schlachtbetriebe – rückten in den vergangenen Wochen die dort herrschenden menschenunwürdigen Zustände in den medialen Fokus. Nachfolgend bringen wir eine Zusammenstellung von Beiträgen aus Presse, Radio- und TV-Sendungen zum Thema (in eigenen Zusammenfassungen mit ausgewählten Zitaten). Die ethische Frage der Tötung und Ausbeutung von Tieren bleibt in der Medienschau unberücksichtigt.

Jens Berger von den NachDenkSeiten empfiehlt drei Beiträge des Kölner Publizisten Werner Rügemer, die „eigentlich alles bieten, was man zum Thema wissen muss“. (https://www.nachdenkseiten.de/?p=62164) Die Ankündigung macht neugierig. Daher folgt zunächst eine Zusammenfassung wesentlicher Aussagen aus Rügemers Rede, die er bereits im September 2019 anlässlich der Kampagne „Schwarzer Freitag, der 13.“ der „Aktion gegen Arbeitsunrecht“ in Rheda-Wiedenbrück, dem Hauptsitz des Tönnies-Konzerns, hielt. Die Rede wurde vorab veröffentlicht.

Das „System Tönnies“: Grundstruktur der deutschen Schlachtindustrie

Rügemer geht davon aus, dass es sich beim Unternehmen Tönnies, dem europäischen Marktführer bei der Schweineschlachtung, um ein umfassendes „System“ handelt, das sich „nicht nur in die Arbeitsverhältnisse eingefressen [hat], sondern auch in die Natur, in die Lebensgrundlage Wasser, in die Tierwelt und nicht zuletzt in die politischen Verhältnisse in Deutschland und in der Europäischen Union, auch in die Kommunen, die mit Tönnies-Standorten gesegnet beziehungsweise belastet sind“. Der Konzern würde „systematischen Lohnraub“ betreiben, vor allem, weil die Arbeiter nicht beim Unternehmen selbst, sondern bei Werkvertragsfirmen angestellt sind. Selbst Leiharbeiter seien für Tönnies zu teuer und hätten zu viele Rechte. Denn immerhin müssten diese nach neun Monaten Arbeit den regulär Beschäftigten gleichgestellt werden. Werksvertragler könnten keinen Betriebsrat wählen. Der Mindestlohn bestünde nur auf dem Papier, denn er werde vielfach unterlaufen (Überstunden würden weder dokumentiert noch bezahlt, Umkleide- und Wegezeiten nicht berücksichtigt). Das Kündigungsschutzgesetz gelte nicht. Es gebe kein tariflich vereinbartes Recht auf Kranken-, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Tönnies würde sich weigern, mit der zuständigen Gewerkschaft NGG überhaupt zu verhandeln.

Einen weiteren Baustein für den „Lohnraub“ sieht Rügemer in den überteuerten Mieten bei der Unterbringung der osteuropäischen Beschäftigten. Dabei bezieht er sich auf Aussagen des Chefs der CDU-Mittelstandsvereinigung (MIT) in Paderborn, Friedhelm Koch. Dieser habe Clemens Tönnies im August 2019 gegenüber der Neuen Westfälischen indirekt als Sklavenhalter bezeichnet. In Deutschland gebe es noch zwei Branchen, „die Sklaverei haben“, wurde der christdemokratische Politiker in der Zeitung zitiert: „Die eine ist die Prostitution, die andere die Fleischzerlegung.“ So würden Beschäftigten „schon einmal 200 Euro vom Lohn abgezogen für ein Bett in einer überfüllten Wohnung“. (Sigrun Müller-Gerbes: CDU-Mittelstandspolitiker: Tönnies macht Profit mit ‚Sklaverei‘“, Neue Westfälische, 16. August 2019; https://www.nw.de/nachrichten/wirtschaft/22536149_CDU-Mittelstandspolitiker-Toennies-macht-Profit-mit-Sklaverei.html) Außerdem führt Rügemer die „Gebühren“ an, welche die Arbeiter schon in ihren Heimatländern an ihre Werkvertragsfirmen bezahlen: „Sie müssen dieses teure Eintrittsticket kaufen, um überhaupt zu Tönnies zugelassen zu werden.“

Verantwortlich für die „Niedriglohnwüste Deutschland“ sind nach Auffassung des Publizisten die Bundesregierungen mit den jeweiligen Regierungsparteien CDU, CSU, SPD und Grüne. Auch dafür, dass rechtsverletzende Unternehmen nicht bestraft würden. Schlachtereien aus anderen EU-Staaten wie Dänemark und den Niederlanden hätten deshalb Produktionsbetriebe nach Deutschland verlegt: „So wurde der führende Niedriglohnstaat Deutschland zum führenden Schlachtzentrum Europas und Tönnies dessen Marktführer.“

Rügemer verweist auch darauf, dass das Bundeskartellamt im Jahr 2014 gegen 21 Wursthersteller wegen Preisabsprachen Bußgelder von insgesamt 338 Millionen Euro verhängt hat. Der größte Anteil davon (128 Millionen Euro) entfiel dabei auf den „Haupttäter Tönnies“. Doch dieser „trickste und löste die betroffenen Tochterfirmen Böklunder Plumrose und Könecke schnell auf. Das Kartellamt resignierte. Tönnies brauchte nicht zu zahlen.“

https://www.nachdenkseiten.de/?p=54770

Das zentrale Instrument bei der Ausbeutung in der Fleischindustrie ist für Rügemer der Werkvertrag. Damit würden „zusätzlich gezielt weitere flächendeckende, hunderttausendfache Rechtsbrüche ermöglicht“ und der Gewinn bei Vion, Westfleisch, Müller Fleisch, Anhalter Fleischwaren, Danish Crown, Tönnies & Co. ließe sich entsprechend steigern. Der Autor fasst die Merkmale von Werkverträgen wie folgt zusammen: Sie bedeuteten den in Deutschland niedrigsten arbeitsrechtlichen Status, noch unterhalb der Leiharbeit. Die Arbeitenden sind weder in dem Betrieb angestellt, in dem sie tätig sind, noch bei einer Leiharbeitsfirma, sondern „bei einer Werkvertragsfirma, die mit Vermittlungsgebühr, Abzügen für Fahrservice, Schutzausrüstung und Unterkunftsvermietung ihre Angestellten in Mehrfach-Abhängigkeit hält“. Werkvertragsfirmen seien „prinzipielle Feinde von Gewerkschaften, von Betriebsräten und von sonstigen Formen der gemeinschaftlichen Vertretung der Interessen der Beschäftigten“.

Rügemer schlussfolgert: „Es sieht ganz so aus, dass die Konstruktion der Werkverträge betrügerisch ist“. Die Werkvertragsfirmen seien in Wirklichkeit gar keine solchen, sondern sie vermittelten Leiharbeiter, denen jedoch ein ihnen an sich zustehender besserer arbeitsrechtlichen Status vorenthalten würde. Da die angeblichen Werkvertragsfirmen keine Lizenz für Leiharbeit hätten, würden sie sich seit Jahrzehnten strafbar machen. Bei den sie beauftragenden Fleischkonzernen könne man von deren Beihilfe zu einer Straftat ausgehen. Die staatliche Aufsicht sei zudem weitgehend untätig geblieben. „Aber auch bei seinen bisher erstmaligen Ermittlungen in der Fleischindustrie 2019 hat das Arbeitsministerium von NRW die (Un)Rechtmäßgkeit der Werkverträge gar nicht als Frage verfolgt“, schreibt der Autor und spricht darum von einem „dauerhaften Unrechts-Zustand“.

(Werner Rügemer: „Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 13. Mai 2020). https://www.nachdenkseiten.de/?p=60935

In einem dritten Beitrag resümiert der Vorsitzende von „Aktion Arbeitsunrecht e. V.“: Die Bundesregierung, alle Aufsichtsbehörden und auch der direkt zuständige Zoll hätten dauerhaft und flächendeckend Werkverträge geduldet, und zwar gesetzwidrig. Unter allen bisherigen Regierungen wäre bisher ein dauerhafter, flächendeckender Rechtsbruch festzustellen gewesen, „durch die Parteien CDU, CSU, Grüne, FDP, durch Bundesregierungen und Landesregierungen und Aufsichtsbehörden, durch die BundesarbeitsministerInnen Riester, Müntefering, Clement, von der Leyen, Scholz, Nahles, Barley, Heil“.

(Werner Rügemer: „Werkverträge in der Fleischindustrie abschaffen? Das vordergründige Skandal-Management der Bundesregierung – Lügen inbegriffen“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 5. Juni 2020) https://www.nachdenkseiten.de/?p=61638

Politik als Teil des Systems

Das betrügerische Geschäftsgebaren vieler Unternehmen thematisiert auch der sozialpolitische Blog von Stefan Sell. Der Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften verweist auf „eine der traurigen Täuschungsmanöver in der Fleischindustrie“. Im Jahr 2015 beschlossen die sechs größten deutschen Fleischkonzerne unter Federführung des damaligen Wirtschaftsministers Gabriel (SPD) und von Clemens Tönnies eine freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung sozialer Standards in der Fleischwirtschaft. Danach sollten in Zukunft auch alle Werkvertragsarbeitnehmer nach deutschem Arbeits- und Sozialversicherungsrecht beschäftigt, die Zahl der Werkverträge reduziert und in eine Verbesserung der Unterkunftssituation investiert werden. „Herausgekommen ist bekanntlich nicht viel mehr als heiße Luft“, so Sell. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nutzte im vergangenen Mai „die Gunst der mediengeschwängerten Stunden und konnte gegen erhebliche Widerstände im Bundeskabinett die Absichtserklärung durchsetzen, jetzt aber wirklich aufzuräumen in dieser Branche“. Sell zitiert aus dem Papier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit dem Titel „Arbeitsschutzprogramm für die Fleischwirtschaft“ vom 20. Mai 2020:

„Ab dem 1. Januar 2021 soll das Schlachten und die Verarbeitung von Fleisch in Betrieben der Fleischwirtschaft im Sinne des § 6 Absatz 10 Arbeitnehmer-Entsendegesetzes nur noch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern des eigenen Betriebes zulässig sein. Damit wären Werkvertragsgestaltungen und Arbeitnehmerüberlassungen nicht mehr möglich. Bei der Ausgestaltung ist auf eine rechtssichere Branchenabgrenzung zu achten, die sicherstellt, dass eine gesetzliche Regelung nur Unternehmen trifft, deren Kerngeschäft Schlachten und Fleischverarbeitung ist.“

Sell zweifelt an der tatsächlichen Realisierung dieser gesetzlichen Regulierung: „Man sollte bei aller berechtigten Freude über den nun gefassten Beschluss aber mit der zugleich vor allen Gesetzgebungsverfahren angezeigten Skepsis hinsichtlich dessen, was am Ende hinten rauskommt, darauf hinweisen, dass 1.) es ein Verbot geben soll, 2.) das Verbot erst ab dem 1. Januar des kommenden Jahres in Kraft treten soll 3.) und dass bei der Ausgestaltung auf eine ‘rechtssichere’ Branchenabgrenzung geachtet werden soll.“ Und er verweist auf ein grundsätzliches Problem: „Auf welcher Rechtsgrundlage und mit welcher expliziten Begründung entzieht man den Unternehmen der hier im Mittelpunkt stehenden Branche an sich rechtlich zulässige Instrumente wie den Werkvertrag und die Arbeitnehmerüberlassung, die aber in anderen Branchen weiterhin in Gebrauch sein dürfen und werden?“

Sell ist nicht davon überzeugt, selektiv nur auf die großen Schlachthöfe verändernd einzuwirken und dämpft implizit die Erwartung, die Politik würde sich gegen die Überausbeutung in der Fleischindustrie durchsetzen wollen und können. „Wenn man insgesamt eine Bilanz ziehen muss“, schreibt er, „dann müsste die ganze Kette in den Blick genommen und bearbeitet werden. Also von der Produktion der Tiere bei den Landwirten über die Organisation des Schlachtens, Zerlegens und der Weiterverarbeitung bis auf die Absatzseite, hier also vor allem bei den großen Vier, die den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland beherrschen“. Letztere seien die „Quelle der betriebswirtschaftlich zwangsläufigen Effizienzsteigerungsmaßnahmen und Konzentrationsprozesse bei den Produzenten sowie der Marktmacht der großen Ketten, die sich untereinander in einem harten oligopolistischen Wettbewerb befinden und einen enormen Preisdruck auf ihre Lieferanten ausüben“.

(Stefan Sell: „Wenn Tönnies & Co. ihre Arbeiter nicht mehr über Subunternehmen und Werkverträge ausbeuten würden, dann kostet das eine Handvoll Cent. Zugleich aber ist die Engführung auf Werkverträge problematisch“, 5. Juli 2020, Aktuelle Sozialpolitik – Informationen, Analysen und Kommentare aus den Tiefen und Untiefen der Sozialpolitik)

(Ders.: „Werkverträge soll es in der Fleischindustrie nicht mehr geben. Ab dem kommenden Jahr. Vorhang wieder runter vor der Schlachthausszenerie. Aber Fragezeichen bleiben“, 21. Mai 2020, ebd.) https://aktuelle-sozialpolitik.de/2020/07/05/werkvertraege-in-der-fleischindustrie-und-mehr/

„Systemrelevanz“ von Tönnies und Co.

Ob die deutsche Politik und die EU angesichts der ökonomischen Macht, der außenwirtschaftlichen Bedeutung und damit des politischen Einflusses der Fleischindustrie tatsächlich umfassend regulierend tätig werden, scheint eher unwahrscheinlich. Das Magazin Der Spiegel beleuchtet die regionale Bedeutung der Branche: Vom nördlichen Nordrhein-Westfalen über das westliche Niedersachsen erstrecke sich eine Region, von manchen „Schweinegürtel“ genannt. Die Nähe zu den Seehäfen gelte als wichtig, um billig Futter importieren zu können. Es sei die wohl deutscheste aller denkbaren Kopien des amerikanischen Belt-Konzepts entstanden: Allein in den Landkreisen Vechta und Cloppenburg lebten rund sechsmal so viele Schweine wie Menschen, jeder dritte Job hänge an der Tierhaltung. Doch während in der Fleischbranche die Anzahl der geschlachteten Tiere hoch bleibe, sinke die Zahl der Betriebe, unter Mästern wie unter Schlachtern. Die großen Konzerne bauten ihre Macht immer mehr aus. „Laut Interessengemeinschaft der Schweinehalter werden bereits fast 80 Prozent aller Schweine von den zehn größten Konzernen geschlachtet. Allein Tönnies kommt demnach auf einen Marktanteil von einem Drittel.“

(Alexander Preker: „So funktioniert die Schlachtbank Europas“, Der Spiegel vom 28. Juni 2020)

https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/deutsche-fleischfabriken-in-der-corona-krise-schlachtbank-europas-a-bc67c942-27ce-4668-8908-ecde4af86619)

Seitdem kürzlich bekannt wurde, dass es Clemens Tönnies gelungen war, den ehemaligen Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) als Berater zu engagieren, wurden auch die Asiengeschäfte des Unternehmens stärker thematisiert. Denn Gabriel, so berichteten die Medien, sollte als Berater für den chinesischen Markt fungieren und u. a. neue Transportmöglichkeiten mit der Eisenbahn nach China ausloten. Auch das Handelsblatt analysiert die Exportoffensive der Firma Tönnies. Danach beeinträchtigt die coronabedingte Stilllegung des Stammwerks lukrative Exporte. „Ein Drittel des aus Deutschland exportierten Schweinefleischs ging im April 2020 nach China. Tönnies als mit Abstand größter deutscher Schweineschlachter profitierte davon besonders. Die Gruppe fuhr 2019 einen Rekordumsatz von 7,3 Milliarden Euro ein – ein Plus von fast zehn Prozent bei fast gleichbleibender Schlachtmenge. Der Umsatz war getrieben vom Exportboom nach China.“

(Dana Heide, Katrin Terpitz: Tönnies‘ große Pläne in China, Handelsblatt [Printausgabe] vom 3./4./5. Juli 2020)

Die junge Welt bestätigt diese Feststellung: Der Fleischkonsum scheine ungebrochen, trotz Coronakrise und Infektionswellen unter Beschäftigten in Schlachthöfen. Die Produktion hierzulande laufe nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf Hochtouren. In den ersten vier Monaten dieses Jahres sei danach der Umsatz des Gewerbes um 14,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Grund dafür sei unter anderem die hohe Nachfrage aus der Volksrepublik China gewesen, die ihren Import von Fleischprodukten mehr als verdoppelt hätte.

(Oliver Rast: „Mafiöse Strukturen“, junge Welt vom 2. Juli 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381366.nahrungsmittelbranche-in-der-brd-mafiöse-strukturen.html

Die linke politische Wochenzeitung Jungle World beschrieb die Situation schon im letzten Jahr ähnlich: „Und die Zeichen stehen auf Expansion. Zwar sank der durchschnittliche Fleischkonsum der Deutschen zuletzt leicht, doch Tönnies geht es um andere Absatzmärkte. ‚Der Weltmarkt hat eine sehr, sehr intensive Mengensteigerung im Bedarf für Fleisch‘, sagte er bereits 2012.“ Tatsächlich, so die Zeitung, sei der Umfang der deutschen Fleischexporte in den vergangenen zehn Jahren stark gewachsen. Deutschland verfüge über den fünftgrößten Bestand an Schweinen weltweit. Seit Jahren würde hierzulande mehr Fleisch hergestellt als verbraucht. Vor allem China sei zuletzt als Abnehmer immer wichtiger geworden. Seit einem Jahr würde dort das Afrikanische Schweinefieber wüten. „In normalen Jahren wurden zuletzt rund 300.000 Tonnen Schweinefleisch nach China exportiert. Wir gehen davon aus, dass sich diese Zahl in diesem Jahr annähernd verdoppeln dürfte“, sagte ein Branchenvertreter im Mai der „Tagesschau“, wie der Autor berichtet.

(Paul Simon, „Der Fleischkonzern Tönnies geht juristisch gegen seine Kritiker vor“, Jungle World vom 19. September 2029)

https://jungle.world/artikel/2019/38/protest-gegen-die-knochenarbeit?page=all)

Die Verfilzung von Politik und Wirtschaft wird in folgendem Zitat deutlich: „Firmenpatriarch Clemens Tönnies, der es dank rücksichtsloser Ausbeutungsmethoden vom Metzgerssohn zum Milliardär gebracht hat, ist bestens in der Politik vernetzt. Er ist seit 19 Jahren Aufsichtsratsvorsitzender des Erstligaclubs FC Schalke 04 [Anm. BIG-Red.: bis 30. Juni 2020] und verfügt damit über ein dichtes Beziehungsgeflecht. Der CDU, die mit Armin Laschet in NRW den Ministerpräsidenten stellt, hat seine Firma insgesamt 147.000 Euro gespendet. Prominentestes Mitglied im Beirat der Tönnies Holding ist Siegfried Russwurm, amtierender Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp und Voith, sowie früheres Vorstandsmitglied von Siemens. Russwurm wurde vergangene Woche als neuer Präsident des BDI (Bundesverband der Deutschen Industrie) vorgeschlagen.“ Obwohl gegen Tönnies selbst und seine Firma zahlreiche Ermittlungsverfahren gelaufen seien – u. a. wegen Betrugs, Steuerhinterziehung, Preisabsprachen, Bestechung, Falschetikettierung und Videoüberwachung von Mitarbeitern –, sie auch mehrmals zu hohen Geldstrafen verurteilt worden seien und die skandalösen Zustände in den Betrieben immer wieder für Schlagzeilen gesorgt hätten, „schadete das ihrem Aufstieg nicht“.

(Marianne Arens und Peter Schwarz, „Corona-Hotspot Tönnies: Profit vor Gesundheit und Leben“, trend onlinezeitung, 07/2020)

http://www.trend.infopartisan.net/trd0720/t210720.html

Warum die Politik nicht grundsätzlich gegen die Ausbeutungsverhältnisse in der Fleischindustrie vorgeht, zeigt auch eine Rezension des Buches „Das Schweinesystem“, das von der „Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg“ herausgegeben wurde und kürzlich im Verlag „Die Buchmacherei“ in Berlin erschien. Dort heißt es: „Dieter Wegner, Aktivist bei der Hamburger Gewerkschaftslinken, ergänzt in seinem Aufsatz, dass maßgeblich die deutschen Bundesregierungen und die Europäische Union diese Arbeits- und Lebensverhältnisse in den letzten Dekaden geschaffen hätten. Daher sei der aktuelle Wirbel des Politikestablishments wegen der Coronainfektionswelle in der Fleischindustrie schlicht ein ‚Schauspiel im Bundestag‘. Angesichts der bisherigen Geschichte des ‚System Tönnies‘ überrascht es auch nicht, dass in vollem Wissen um die die Ansteckungszahlen hochtreibenden Arbeits- und Lebensverhältnisse die Fleischherstellung als ‚systemrelevant‘ eingestuft wurde, als der SARS-CoV- 2-­Erreger sich hierzulande ausbreitete. Profite über alles.“

(Christian Stache: „Moderner Klassenkampf“, junge welt vom 6. Juli 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381616.ausbeutung-moderner-klassenkampf.html)

Das Geschäftsmodell der Werkverträge und der Subunternehmen

Matthias Brümmer von der Gewerkschaft NGG referierte Ende Januar 2020 in Oldenburg bei einer Veranstaltung zu den Missständen in der Fleischindustrie. Das Thema Werkverträge sei seit fast 40 Jahren in Deutschland ein Problem. Dies begann in der Bauindustrie und sei zunächst in verschiedene andere Bereiche „rübergschwappt“, dann innerhalb der Fleischwirtschaft „zur absoluten perversen Qualität“ geführt worden. In den letzten 30 bis 40 Jahren seien in der deutschen Schlachtindustrie rundweg bis zu 90 Prozent der Arbeitsplätze eines jeden Betriebes ausgegliedert und in Werkverträge umgemünzt worden. Mit der Folge, dass sich teilweise bis zu 30, 40 Firmen an einem Standort befinden. Dies habe zu einer Entsolidarisierung der Beschäftigten geführt. Es könne davon ausgegangen werden, dass von den 200.000 in der Fleischwirtschaft in Deutschland arbeitenden Menschen mittlerweile 80.000 nicht mehr in normalen Arbeitsverhältnissen beschäftigt seien. Das habe zu einem massiven Druck auf die Festbeschäftigung geführt (Löhne, Arbeitszeit, Nachtschicht- und Mehrarbeitszuschläge, Samstags- und Sonntagsarbeit). Auch Brümmer spricht vom „System Tönnies“: „Dieser Mann ist dabei, nicht nur die gesamte Fleischbranche, sondern mittlerweile auch viele andere Branchen umzukrempeln in der Frage der grundsätzlichen Beschäftigung. Und das hat massive Auswirkungen.“ Die Folgen zeigt der Abschlussbericht einer Untersuchung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales in NRW vom Dezember 2019 auf. Dort werden „gravierende Verstöße“ bei 85 Prozent der insgesamt 30 untersuchten Fleischbetriebe festgestellt. In seinem Vortrag geht der Gewerkschafter eingehend darauf ein. Weiteres dazu im Anschluss an die Medienschau.**

Brümmer stellt abschließend fest: Es fehlten gesetzliche Bestimmungen darüber, was ein Werkvertrag wirklich sei (die Bestimmungen des BGB reichten nicht). Firmen müssten daran gehindert werde, ihre Kernkompetenzen an fremde Unternehmen auszugliedern. Grundsätzlich fehle es an einer wirtschaftlichen Mitbestimmung in diesem Land.

(Vortrag von Mathias Brümmer bei der Veranstaltung „Sprengt die Fleischindustrie jegliche Menschenrechte?“, organsisiert von Attac und ALSO [Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg e.V.] am 31. Januar 2020) https://youtu.be/sUbvi6xUFOI

Den Trend der Informalisierung der Arbeitsbeziehungen thematisiert auch Stefan Dietl, Autor der Wochenzeitung Jungle World. Er legt den Schwerpunkt allerdings auf das Verhältnis der industriellen Peripherie und der klassischen Industrieländer. Zunächst stellt er fest, dass nur darüber spekuliert werden könne, wie viele Menschen in solchen prekären Werkvertragsverhältnissen stecken würden. Genaue Zahlen habe selbst das Bundesarbeitsministerium nicht. Denn da diese Arbeitskräfte nicht den Status von Arbeitnehmern hätten, würden sie in der Buchhaltung der Unternehmen auch nicht im Personalkostenbudget, sondern unter Sachkosten – „wie der Gabelstapler im Lager oder das Kopierpapier im Büro“ – geführt.

Dietl führt weiter aus, dass das Subunternehmertum aus der Ökonomie des postmodernen Kapitalismus kaum noch wegzudenken sei und am deutlichsten aufzeigen würde, wie sich in den industriellen Zentren die Arbeitsbeziehungen immer weiter informalisieren. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, wie sie seit langem die Ökonomie der ehemaligen industriellen Peripherie prägten, würden seit Jahren auch in die klassischen Industrieländer einziehen. „Kurz gesagt: In den Branchen – zum Beispiel der Nahrungsmittelindustrie oder der Bauwirtschaft –, die nicht nach Asien oder Osteuropa ausgelagert wurden, findet eine Übertragung der dortigen Lohnbedingungen und Arbeitsbeziehungen nach Deutschland statt.“ Prekäre, informelle Arbeitsverhältnisse wie die Scheinselbständigkeit mittels Werkvertrag rückten immer weiter in die verbliebenen Kernbereiche der Produktion vor. So steige die Zahl der Werkvertragsnehmer an den Bändern der deutschen Automobilindustrie ebenso an wie bei deren Zulieferern oder im Maschinenbau. Alle denen jedoch würde das jüngste Vorhaben des Arbeitsministers nicht helfen.

(Stefan Dietl, „Schöne neue Arbeitswelt“, Jungle World vom 25. Juni 2020)

https://jungle.world/artikel/2020/26/schoene-neue-arbeitswelt

Gemeint ist ein Gesetzentwurf, den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil noch im Juli 2020 vorlegen will. Danach sollen ab 1. Januar 2021 in Fleischfabriken keine Werkvertragler, sondern nur eigene Mitarbeiter Tiere schlachten und Fleisch verarbeiten dürfen. Kommentatoren bleiben skeptisch:

„Nach anfänglichem Widerstand hat sogar der Verband der Fleischwirtschaft dem von der Bundesregierung geplanten Verbot der Werkverträge in den Kernbereichen von Schlachthöfen zugestimmt. Plötzlich behauptet die Lobbyorganisation nicht mehr, dass viele Betriebe ohne Subunternehmer ihre Wettbewerbsfähigkeit verlieren und Teile der Branche ins Ausland abwandern würden“, schreibt etwa die taz. Dass diese Kehrtwende ehrlich gemeint sei, dürfe allerdings bezweifelt werden. Denn Anfang Juli habe der maßgeblich von der Firma Wiesenhof beeinflusste Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft vorgeschlagen, die Werkverträge nicht per Gesetz, sondern durch einen Tarifvertrag aus seiner Branche zu verbannen. Mit der Begründung, es wäre verfassungswidrig, Werkverträge nur in einer Branche gesetzlich zu untersagen. Die NGG spreche von einer „Nebelkerze“ einer Industrie, die schon mehrmals aufgefallen sei, weil sie Versprechen nicht gehalten hätte.

(Jost Maurin: „Für eine Handvoll Cent“, taz vom 4. Juli 2020)

https://taz.de/Arbeit-in-der-Fleischindustrie/!5693754&s=fleischindustrie/

Auch für Stefan Dietl von der Jungle World scheint die Hoffnung wenig realistisch, dass das Vorgehen gegen das Subunternehmertum in der Fleischbranche eine allgemeine Zurückdrängung von Werkverträgen einläuten könnte: „Denn der Grund für die staatliche Intervention bei in den Schlachthöfen sind nicht primär die bereits seit Jahren bekannten katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Betroffenen, sondern es ist die Angst davor, dass die Infektionen in den Schlachthöfen in manchen Regionen zu einer neuerlichen Beschränkung der Kontaktmöglichkeiten mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft führen konnten.“ Unklar sei auch, wie die gesetzliche Neuregelung genau aussehen soll und wie wirksam sie sein würde. CDU-Politiker und Industrieverbände würden bereits öffentlich auf die Verschiebung und Verwässerung der Gesetzesinitiative hinarbeiten.

(Stefan Dietl, „Schöne neue Arbeitswelt“, Jungle World vom 25. Juni 2020)

https://jungle.world/artikel/2020/26/schoene-neue-arbeitswelt

Katastrophale Unterkünfte für osteuropäische Arbeiter*innen

Nach Angabe von Adrian Peter, Leiter der SWR-Rechercheredaktion und Buchautor zum Thema, bilden an osteuropäische Fleischarbeiter vermietete Schrottimmobilien „mittlerweile ein zweites Standbein für viele Subunternehmer“ in der Branche. Sie würden Schrottimmobilien kaufen und dann „wahnsinnig hohe Mieten für Schlafplätze nehmen“. Auch er stellt fest, dass auf dem Papier der richtige Mindestlohn bezahlt würde, aber das Geld wieder über überzogene Mieten von den Arbeitern zurückgeholt würde. Theoretisch sei das ein „total legales“ Geschäft. Und auch er bestätigt, dass die Politik seit vielen Jahren davon gewusst habe.

(WDR 5 Morgenecho-Interview mit Adrian Peter vom 9. Juli 2020: „Das wusste die Politik seit etlichen Jahren“)

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-morgenecho-interview/audio-fleischindustrie-das-wusste-die-politik-seit-etlichen-jahren-100.html

Inge Bultschnieder, die in Rheda-Wiedenbrück – dem Stammsitz von Tönnies – lebt, gründete 2013 die „Interessengemeinschaft WerkFAIRträge“, eine lokale Initiative für die Rechte von Fleischarbeitern. In einem Interview mit der „sozialistischen Wochenzeitung“ UZ Unsere Zeit beschreibt sie die Wohnungsmisere. Besonders im Falle von Entlassungen stünden die Menschen vor einem großen Problem. Denn die Wohnung sei an den Arbeitsplatz gebunden. Auf die Frage, ob sich die Arbeiter aus dem Fleischwerk nicht selbst aussuchen könnten, wo sie wohnen, antwortet sie: „Das hier ist eine Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern – hier gibt es keinen freien Wohnraum. Natürlich können sie es sich nicht aussuchen, dazu müsste erst mal ein sozialer Wohnungsbau geschaffen werden. Wenn ich ein Geschäft aufmache, muss ich nachweisen, dass ich ausreichend Parkplätze habe. Wenn ich 5.000 Leute einstelle, sollte ich auch nachweisen müssen, dass ich die unterbringen kann.“

(Olaf Matthes, „Deutschland ist schrecklich“, Interview mit Inge Bultschnieder, UZ–Unsere Zeit vom 3. Juli 2020)

https://www.unsere-zeit.de/deutschland-ist-schrecklich-131828/)

Am 8. Juli 2020 berichteten auch überregionale Zeitungen über eine Untersuchung für den Landtag in NRW, der die desaströsen Bedingungen der Unterbringung von Arbeitern in der Fleischindustrie aufzeigt. Die FAZ nennt die Details des Berichts, den der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister vorlegte, „abermals schockierend“. Bei der Kontrolle von 650 Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften oder Werkswohnungen in Nordrhein-Westfalen, in denen insgesamt 5.300 Personen lebten, wurden bis Ende Mai rund 1.900 „mittlere und gravierende“ Mängel festgestellt. In extremen Fällen seien Schimmelpilzbefall, Einsturzgefahr, undichte Dächer, katastrophale Sanitäreinrichtungen, Ungezieferbefall und Brandschutzmängel festgestellt worden. Vier Wohnungen an verschiedenen Orten hätten wegen erheblicher Baumängel sowie Gesundheitsgefahren geräumt werden müssen. Auch 250 Unterkünfte mit 5.800 dort untergebrachten Erntehelfern wurden kontrolliert. Hier kam es hingegen nur zu 170 Beanstandungen.

(Reiner Burger: „Schlimmste Befürchtungen werden bestätigt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Juli 2020)

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/laumanns-bericht-zur-schlimmen-lage-in-der-fleischindustrie-16851683.html#void

Umgehung der Mitbestimmung

Ein Baustein des Geschäftsmodells von „Tönnies & Co.“ besteht in der systematisch betriebenen Umgehung der unternehmensbezogenen und betrieblichen Mitbestimmung. In einer Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung heißt es: „Ein verbreitetes Vehikel, um Mitbestimmungsrechte über eine juristische Lücke legal zu unterlaufen, sind nach der I.M.U.-Analyse [Anm. BIG-Red.: Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung] gesellschaftsrechtliche Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die B.V. & Co. KG oder die Ltd. & Co. KG. Hintergrund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sie sich in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform.“

Kombinierten Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fielen sie nach herrschender juristischer Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das sei nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. So firmierten im Februar 2020 insgesamt 62 Unternehmen mit jeweils mehr als 2.000 inländischen Beschäftigten in einer hybriden Rechtsform, was ein Zuwachs um 9 Prozent gegenüber 2015 bedeutet. „Mindestens rund 432.000 dort Beschäftigten blieb dadurch die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat versagt. Als Beispiele nennt der Report etwa den Entsorger ALBA, die Meyer Werft oder den Fleischfabrikanten Tönnies.“

(Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung vom 29. April 2020: „Mindestens 2,1 Millionen Beschäftigten in Deutschland wird paritätische Mitbestimmung vorenthalten – starker Anstieg seit 2015“)

https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-23239.htm

Nach Ansicht von Werner Rügemer stehen die Fleischkonzerne an der Spitze beim Vermeiden der gesetzlichen Mitbestimmung. Rügemer holt etwas weiter aus: „Das paritätische Mitbestimmungsgesetz von 1976 (Regierung Brandt) verpflichtet Unternehmen ab 2.000 Beschäftigten zur Bildung eines Aufsichtsrats, in dem die Beschäftigten die Hälfte der Mitglieder stellen (allerdings hat der Vorsitzende, der geheimnisvoller Weise von der Unternehmerseite kommt, die ausschlaggebende Stimme). Das Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 (Regierung Schröder) legt für Unternehmen ab 500 Beschäftigten einen Aufsichtsrat fest, in dem die Beschäftigten zumindest ein Drittel der Mitglieder stellen. Das sind bekanntlich eher Abnicker-Gremien. Aber selbst das ist hunderten Unternehmen zu viel.“

Entweder würden sie in die Societas Europaea (SE), eine von der Europäischen Union geschaffene Aktiengesellschaft, flüchten, die zu keiner Mitbestimmung verpflichtet. Oder die Unternehmen verlegten ihre Zentrale rechtlich in eine europäische Finanzoase wie die Niederlande oder Luxemburg. „Oder die Unternehmen ignorieren die Gesetze einfach: Im ‚Rechtsstaat Deutschland‘ dürfen insbesondere Arbeitsgesetze nachhaltig und flächendeckend und straflos gebrochen werden.“ Alle Fleischkonzerne in Deutschland würden die Mitbestimmung umgehen. So habe Tönnies, obwohl die meisten Betriebe des Unternehmens sich in Deutschland befinden würden, seine zentrale Holding in die Briefkastenfirma Tönnies Holding Verwaltungs ApS ins dänische Städtchen Brorup verlegt.

(Werner Rügemer, „Hoch-Risikogruppe: Fleischarbeiter“, NachDenkSeiten – Die kritische Website, 13. Mai 2020). https://www.nachdenkseiten.de/?p=60935

Mafiöse Strukturen

Das gesamte System der Wohnungs- und Arbeitsvermittlung ist mit organisierter Kriminalität verstrickt“, schreibt die syndikalistische orientierte Zeitschrift wildcat. „ArbeiterInnen werden im Betrieb und außerhalb eingeschüchtert – auch mit physischer Gewalt. Sie sind abhängig vom Subunternehmer, weil sie in einer Art Schuldknechtschaft Abzahlungen leisten müssen. Und weil durchaus nicht feststeht, dass sie im Streitfall ihren Lohn kriegen. Vielleicht haben sie auch selbst mal schwarz gearbeitet und fühlen sich erpressbar. In den Fängen dieses Milieus wird es schwieriger, sich Informationen und Hilfe zu holen, sich zusammenzutun und kämpferisch aufzutreten.“

(„Stachel im Fleisch“, Wildcat 106, Sommer 2020). https://www.wildcat-www.de/wildcat/106/w106_fleisch.html

Dass Beschäftigte auch körperlich massiv unter Druck gesetzt werden, berichten auch frühere Beschäftigte aus der Fleischindustrie. Gegenüber der ARD-Sendung „Report Mainz“ erhebt ein ehemaliger Mitarbeiter bei Tönnies schwere Vorwürfe gegen den Subunternehmer: „Konntest du nicht zur Arbeit gehen, weil du Schmerzen hattest oder krank warst, wurdest du trotzdem gezwungen. Sonst hätte es eine Ohrfeige oder einen Tritt gegeben. Oder noch schlimmer.“ Aus einer Krankenakte eines anderen Arbeiters aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass er von seinen Vorarbeitern mit einer Eisenstange zusammengeschlagen wurde. Auch die Gewerkschaft NGG wird häufig über solche Fälle mutmaßlicher Gewalt in der Fleischbranche informiert. Für den NGG-Vertreter Matthias Brümmert ist das „auch das klare Zeichen, dass wir hier über mafiöse Strukturen reden.“ Report Mainz: „Wir konfrontieren zunächst das Subunternehmen und dann auch den Tönnies-Konzern mit den Vorwürfen. Eine Antwort erhalten wir nicht.“

(ARD, Report Mainz: „Alles Wurst? Warum Schweinebaron Tönnies kritische Berichterstattung jahrelang nichts anhaben konnte“, Sendung vom 7. Juli 2020). https://www.swr.de/report/alles-wurst-warum-schweinebaron-toennies-kritische-berichterstattung-jahrelang-nichts-anhaben-konnte/-/id=233454/did=25301338/nid=233454/1494g1i/index.html

Peter Kossen, katholischer Pfarrer im münsterländischen Lengerich und wegen seiner Protestaktionen gegen die desaströsen Zustände in der Fleischindustrie mittlerweile bundesweit bekannt, äußerte sich gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Er spricht von einer Grauzone, die durch Werkverträge, Leiharbeit und Subunternehmer in Großschlachtereien entstanden und von politischer Seite zugelassen worden sei. Dadurch habe man kriminellen und mafiösen Strukturen, die in der Arbeitnehmerüberlassung Züge von Menschenhandel hätten, Tür und Tor geöffnet. In der ARD -Sendung „Hart aber fair“ am 22. Juni sprach Kossen in diesem Kontext von „organisierter Kriminalität“ und auf die Frage des Moderators, was er von der Ankündigung Tönnies‘ halte, selber die Branche zu verändern: „Man kann mit der Mafia nicht die Mafia bekämpfen.“ Mit Kriminellen könne auch kein Vertrag für mehr Rechtssicherheit gemacht werden.

(Markus Decker: „Pfarrer Kossen zur Fleischindustrie: ‚Das ist moderne Sklaverei‘“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, 22.5.20)

https://www.rnd.de/politik/pfarrer-kossen-zur-fleischindustrie-das-ist-moderne-sklaverei-KXA5XJ3SRZF2DA6U7SZEEFHXGY.html

(ARD, „Hart aber fair“, „Massenerkrankung in der Fleischfabrik: Gefahr fürs ganze Land?“, Sendung vom 22. Juni 2020)

https://www1.wdr.de/daserste/hartaberfair/videos/video-massenerkrankung-in-der-fleischfabrik-gefahr-fuers-ganze-land-100.html

Ähnlich äußert sich Adrian Peter vom SWR. Bei den Subunternehmern habe man es mit einem zum Teil hochkriminellen Milieu zu tun. Er hält wenig von Kontrollen und schärferen Auflagen, die schon in der Vergangenheit schlicht nichts gebracht hätten. In den vergangenen Jahren haben es immer wieder Selbstverpflichtungen gegeben, der Mindestlohn sei eingeführt worden. „Wenn Sie es mit einem Milieu zu tun haben“, meint Peter, „dass sich zum Teil aus ehemaligen Zuhältern, Rockern oder Drogenkriminellen rekrutiert, dann bringen Selbstverpflichtungen oder schärfere Kontrollen überhaupt nichts. Die Leute können damit umgehen, die zu umgehen.“ Der einzig gangbare Weg sei, die Leute, die das Fleisch produzieren, dort anzustellen, wo das Fleisch auch verkauft würde.

(„Milieu aus ehemaligen Zuhältern, Rockern oder Drogenkriminellen“, Interview von Michael Lueg mit Adrian Peter, SWR 1, 20. Mai 2020)

https://www.swr.de/swr1/rp/fleischmafia-100.html

Institutioneller Rassismus

Im Folgenden sei auf zwei Artikel in der klassenkämpferisch ausgerichteten Monatszeitung ak – analyse & kritik verwiesen, in der grundsätzlich auf die Situation der Arbeitsmigranten und die polit-ökonomischen Rahmenbedingung ihrer Überausbeutung eingegangen wird.

Nach Auffassung von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann werden Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie eingesetzt, „um erstens massiv die Lohn- und damit Produktionskosten zu senken, zweitens Lohndruck auf die sozialversicherungspflichtig angestellte Rumpfbelegschaft auszuüben, drittens die Arbeitskraft strategisch und politisch durch eine Vielzahl prekärer Arbeitsverhältnisse zu fragmentieren und viertens soziale Verhältnisse zu produzieren, die durch rassistische Diskurse kapitalistische Ausbeutung legitimieren. Alle vier genannten Dimensionen bilden die Grundlage des exportbasierten Akkumulationsmodells der hiesigen Fleischindustrie“.

Sebastian Friedrich, Jens Zimmermann: „Empörung reicht nicht“, ak – analyse & kritik vom 20. Januar 2015)

https://www.akweb.de/ak_s/ak601/27.htm

Elmar Wiegand, Pressesprecher der „Aktion gegen Arbeitsunrecht e.V.“, fasst in der Ausgabe vom 16. Juni 2020 thesenartig seine Schlussfolgerungen aus der Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter zusammen.

„Erstens: In Deutschland existiert eine Schattenarmee, die wesentliche Teile der Produktion stemmt. Arbeiter*innen aus Osteuropa sind anzutreffen in den Bereichen Landwirtschaft, Fleisch-Industrie, Schiffbau (Meyer-Werft), Reinigung, häusliche Pflege, Bau-Industrie. (…) Der industrielle Rassismus besteht vor allem in systematischer Ungleichbehandlung, Ausbeutung, Rechtsnihilismus und Vertuschung.

Zweitens: Wir dürften uns nicht durch liberale Multi-Kulti-PR täuschen lassen, die für Ausbeuter*innen wie den Schweine-Baron Clemens Tönnies und viele andere inzwischen zum guten Ton gehört. Der industrielle Rassismus hat nichts gegen Ausländer*innen, solange sie brav den Platz einnehmen, der für sie vorgesehen ist. (…)

Drittens: Diese industrielle Schattenarmee und das verschämte Verschweigen ihrer Existenz (…) hat ihren direkten Vorläufer in der Zwangsarbeit, die im 1. Weltkrieg begann und im 2. Weltkrieg perfektioniert wurde. Danach kamen die ‚Fremdarbeiter‘, die zu ‚Gastarbeitern‘ wurden. Heute: Werkverträge, Leiharbeit, sachgrundlose Befristung. Das Verschweigen, Verdrängen, Ignorieren ist eine überlieferte Verhaltensweise.

Viertens: Die Grundlage des industriellen Rassismus ist die Zerstörung vormals intakter Regionen: de-industrialisierte, bankrotte, privatisierte und von Land-Grabbing betroffene EU-Regionen vor allem Bulgariens und Rumäniens. Viele Obdachlose und Bettler*innen in deutschen Städten dürften eine Vorgeschichte als Wanderarbeiter*innen haben (…) Da sie als EU-Staatsbürger*innen Freizügigkeit genießen, haben sie zwar einerseits ein Recht hier zu bleiben, genießen aber andererseits viel weniger Aufmerksamkeit und Sympathie als Geflüchtete.

Fünftens: Die Behörden greifen nicht ein. Sie sehen zu, auch wenn offensichtlich rechtswidriges Verhalten, Straftaten und sogar organisierte Kriminalität selbst für Laien schon erkennbar sind. Zudem sind wichtige Kontrollinstanzen systematisch unterversorgt mit Personal und Ressourcen. Die Folge sind Rechtsnihilismus, Straflosigkeit bis hin zu mafiösen Strukturen. (…)“

(Elmar Wigand, „Verschweigen, verdrängen, ignorieren“, ak – analyse & kritik vom 16. Juni.2020). https://www.akweb.de/ak_s/ak661/07.htm

Wirtschaftsdemokratie

In der Süddeutschen Zeitung vom 5. Juli erinnert Oliver Nachtwey, der als Professor an der Universität Basel zum digitalen Kapitalismus, neuen Autoritarismus und zum Wandel der Arbeitsgesellschaft forscht, an die alte und zugleich aktuelle Idee der Wirtschaftsdemokratie.

Der mangelnde Arbeits- und Gesundheitsschutz habe seine Ursache weniger in der Liberalisierung des Arbeitsmarkts in den letzten 30 Jahren, sondern in der Unternehmensverfassung selbst. Im Innern seien Unternehmen so etwas wie eine „private Regierung“, wie es die US-Philosophin Elizabeth Anderson genannt habe. „Die Beschäftigten treten zwar freiwillig (dies allerdings nur halb, denn sie brauchen ja einen Job) in das Unternehmen ein, aber mit Abschluss des Arbeitsvertrages unterliegen sie dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Die Unternehmen verfügen, wie man sich auf der Arbeit zu kleiden hat, durchsuchen den Mailverkehr ihrer Mitarbeiter und bestimmen, wie mit Gefahren am Arbeitsplatz umgegangen wird. Bei Amazon wird fast jede Bewegung der Beschäftigten überwacht.“

Arbeit sei in einer modernen Gesellschaft jedoch keine rein private Angelegenheit mehr. Anderson fordere deshalb, die private Regierung durch eine öffentliche zu ersetzen. Solch eine öffentliche Regierung gebe es eigentlich schon, sie sei jedoch durch den Neoliberalismus unter die Räder gekommen: Die gesetzlichen Regelungen für Arbeits- und Gesundheitsschutz seien auf dem Papier recht gut, würden jedoch zu wenig umgesetzt. Und die Gewerbeaufsicht habe wegen der Sparpolitik der vergangenen Jahre ihre Kontrollen massiv zurückgefahren. Gewerkschaften und Betriebsräte bewirkten nur wenig und seien im Niedriglohnsektor zu schwach.

Nachtwey schließt mi den Worten: „Im Niedriglohnsektor ist Wasser in den Keller gelaufen, die Fundamente werden unterspült. Vor allem dort brauchen wir einen neuen Anlauf für wirtschaftliche Bürgerrechte. Und diese müssen für alle Menschen gelten, die hier arbeiten. Bürgerrechte, die man an die Staatsbürgerschaft bindet (…), würden nur neue Ausschlüsse produzieren. (…) Demokratie darf nicht mehr am Betriebstor haltmachen, egal, ob dieses der Eingang zu einem Schlachthof oder virtuell der Algorithmus eines Plattformunternehmens ist.“

(Oliver Nachtwey: „Die Demokratie darf nicht am Betriebstor enden“, Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2020)

https://www.sueddeutsche.de/politik/toennies-fleischindustrie-niedriglohnsektor-buergerrechte-nachtwey-gastkommentar-1.4955863)

* Im Sinne besserer Lesbarkeit haben wir in unseren Ausführungen die männliche Geschlechtsform verwendet, die selbstverständlich gleichberechtigt alle Geschlechter umfassen soll.

** Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.):

Überwachungsaktion. „Faire Arbeit in der Fleischindustrie“. Abschlussbericht, Dezember 2019

Auszüge aus dem Abschlussbericht (von den Seiten 5 bis 9):

„Im Aktionszeitraum Juli bis September 2019 sind von der Arbeitsschutzverwaltung Nordrhein-Westfalen 30 Betriebe der Fleischindustrie und die in der Produktion eingesetzten Werkvertragsfirmen überprüft worden.

  • Es wurden 30 Großbetriebe überprüft.
  • In den 30 Großbetrieben wurde 90 Mal Werkvertragnehmer eingesetzt.
  • Im Rahmen der Prüfung wurden die Arbeitsplätze von ca. 17.000 Beschäftigten überprüft.
  • Bei den Werkvertragnehmern werden vorwiegend Arbeitnehmer aus Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Polen beschäftigt.
  • Anzahl der Verstöße gesamt: 8.752.
  • 5.863 Einzelverstöße im Bereich des Arbeitszeitrechts.
  • 2.481 Mal fehlten arbeitsmedizinische Vorsorgen.
  • 296 technische Arbeitsschutzmängel.
  • 112 Mängel in der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes.

Die Bilanz:

In 85 Prozent der überprüften Betriebe wurde von den Aufsichtsbeamtinnen und -beamten eine hohe Anzahl teils gravierender Arbeitsschutzmängel ermittelt.(…) Die Werkvertragsnehmer haben mit den Schlachthofbetreibern Werkverträge geschlossen, die beispielsweise die Anzahl der zu schlachtenden Tiere oder Gewichtstonnen an zu zerlegenden Tieren zu einem bestimmten Preis vertraglich regeln. Damit verbleibt die Verantwortung für das Personal und für die Umsetzung des Arbeitsschutzes beim Werkvertragsnehmer, der Schlachthofbetreiber übernimmt rechtlich keine Verantwortung. Der Großteil der Beschäftigten der Werkvertragsnehmer stammt nach den Erkenntnissen aus der Aktion aus Osteuropa (insbesondere Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn).

Bei nur vier Betrieben wurden wenige relevante Arbeitsschutzmängeln festgestellt.

Folgende Verstöße wurden festgestellt:

  • mehr als 5.800 Arbeitszeitverstöße (dabei wurden unter anderem gravierende Verstöße gegen die werktägliche Arbeitszeit ermittelt, z. B., dass Beschäftigte über 16 Stunden an einem Arbeitstag gearbeitet haben, die Ruhezeit von 11 Stunden nicht eingehalten worden ist oder keine Pausen gemacht wurden). Diese Verstöße ergaben sich bereits aufgrund der handschriftlichen oder selbst in Dateiform erfassten Stundenbelege. Eine elektronische Zeiterfassung gab es nur in ganz wenigen Einzelfällen.
  • in mehr als 2.400 Fällen wurde keine arbeitsmedizinische Vorsorge durchgeführt (z. B. Untersuchungen im Zusammenhang mit sogenannter Feuchtarbeit, damit dauerhafte Schädigungen der Haut durch das ständig feuchte Arbeitsumfeld bei der Fleischverarbeitung verhindert werden oder bei Tätigkeiten in Lärmbereichen, damit lärmbedingten irreversiblen Hörschäden vorgebeugt wird)
  • fast 300 technische Arbeitsschutzmängel mit teilweise hohem Gefährdungspotenzial (z. B. entfernte Schutzeinrichtungen, gefährlicher Umgang mit Gefahrstoffen, abgeschlossene Notausgänge, zugestellte Fluchtwege, gefährlich abgenutzte und nicht geprüfte Arbeitswerkzeuge, fehlende persönliche Schutzausrüstung).
  • über 100 Mängel in der Arbeitsschutzorganisation (z.B. fehlende Gefährdungsbeurteilung, Unterweisung, Betriebsanweisungen in der Sprache der Beschäftigten, keinen Betriebsarzt oder keine Fachkraft für Arbeitssicherheit). Die Schlachthofbetreiber sind in der Regel für die technischen Mängel verantwortlich. Durch direkte mündliche Anordnungen der Aufsichtsbeamtinnen und -beamten ist die sofortige Beseitigung der gefährlichen technischen Mängel durch die Schlachthofbetreiber veranlasst worden. Die Werkvertragsnehmer haben grundsätzlich die Verstöße gegen die Arbeitszeitvorschriften und die fehlenden arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen zu verantworten.

Mit Stand von Anfang Dezember 2019, sind 86 Bußgeldverfahren eingeleitet worden und erste Bußgeldbescheide sind inzwischen rechtskräftig geworden. Hinsichtlich der Einhaltung des Mindestlohns sind Verdachtsmomente bzgl. der Nichteinhaltung des Gesetzes zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch) und des Mindestlohns im Zusammenhang mit folgenden Umständen erhoben worden:

  • Lohneinbehalt für persönliche Schutzausrüstung,
  • Lohneinbehalt für Miete,
  • Lohneinbehalt für Fahrservice,
  • Lohneinbehalt für die Einarbeitung, wenn der Arbeitnehmer vorzeitig sein Arbeitsverhältnis beenden möchte und • Kürzung des Lohns wegen Fehlverhaltens.“

https://www.mags.nrw/sites/default/files/asset/document/191220_abschlussbericht_fleischindustrie_druckdatei.pdf

Wirtschaft läuft Sturm gegen Lieferkettengesetz

Die Bundesregierung erwartet offiziell von deutschen Unternehmen, dass sie Menschenrechts- und Sozialstandards auch bei ihren Zulieferern im Ausland in den Blick nehmen. Einmal mehr zeigt sich jedoch: Das Prinzip der Freiwilligkeit funktioniert nicht.

Im Dezember 2016 hatte die Bundesregierung dazu ihren „Nationalen Aktionsplan“ (NAP) verabschiedet. Dieser soll die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte aus dem Jahr 2011 umsetzen. Unter anderem wird dort die unternehmerische Verantwortung für Menschenrechte in globalen Lieferketten definiert. Das Ziel des geplanten Gesetzes ist, deutsche Unternehmen dafür in die Pflicht nehmen, dass ihre Lieferanten im Ausland soziale und ökologische Mindeststandards einhalten. Ausgelöst wurde die Initiative durch die Brandkatastrophe in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im Jahr 2013, bei der über 1.100 Arbeiter*innen ums Leben kamen. Hungerlöhne, Kinderarbeit und fehlende Sicherheitsstandards in Fabriken entlang der Lieferketten sollen so unterbunden werden.

Der NAP sieht vor, dass „weitergehende Schritte bis hin zu gesetzlichen Maßnahmen“ durchgeführt werden, wenn weniger als die Hälfte der großen Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten bis 2020 der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nachkommen. Die deutsche Regierung hat bislang auf eine freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen gesetzt und zur Überprüfung ein Monitoring eingerichtet.  Nach dpa-Informationen, so schreibt das Magazin Wirtschaftswoche, erfüllen die deutschen Unternehmen die an sie gesetzten Anforderungen aber nach wie vor nicht. Das sei das Ergebnis einer am 14. Juli veröffentlichten zweiten Fragerunde, die die Regierung unter großen Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten organisiert hatte. 2.250 Unternehmen waren demnach befragt worden. Davon antworteten nur 455. Die Gruppe der „Erfüller“ hat sich im Vergleich zu 2019 in ihrer Größenordnung offensichtlich nicht maßgeblich verändert. Im vergangenen Jahr hatten nur etwa 20 Prozent der Unternehmen die Vorgaben erfüllt, das heißt Vorkehrungen dafür getroffen, dass ihre Geschäftspartner die jeweils geltenden Umwelt- und Sozialstandards einhalten.

Da das geplante Lieferkettengesetz nun wahrscheinlicher wird, laufen die Spitzenverbände der Wirtschaft gegen das Vorhaben „Sturm“, wie die Wirtschaftswoche mit Bezug auf die dpa schreibt. Die Lobbyvertreter befürchten, das Gesetz gehe zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Firmen. Auch unter Verweis auf die Coronakrise müssten „nationale Sonderwege mit nationalen Belastungen“ vermieden werden. Nach einem Statement Steffen Kampeters von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) verhalte sich die deutsche Wirtschaft bei ihren Aktivitäten im Ausland vorbildlich und fühle sich auch dort den Menschenrechten verpflichtet. Problematisch sei aber, wenn Unternehmen für Missstände aufkommen müssten, die auf Dritte zurückzuführen seien und nicht in ihrem eigenen Verschulden lägen.

Unterstützung erhält die Kapitallobby von Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Auf dessen Betreiben hin wurde offenbar schon der Fragebogen entschärft. In einer Pressemitteilung der von zahlreichen NGOs getragenen „Initiative Lieferkettengesetz“ vom 14. Juli 2020 heißt es:

„Die Wirtschaftsverbände haben durch massive Lobbyarbeit in Wirtschaftsministerium und Kanzleramt die Methodik der Befragung schon im Vorfeld völlig verwässert. Trotz der niedrigen Anforderungen der Befragung schaffen es nur 22 Prozent der Unternehmen, diese zu erfüllen. Dieses Ergebnis ist ein Offenbarungseid und zeigt den Stellenwert, den Menschenrechte bei den meisten deutschen Unternehmen haben. Die Bundesregierung muss nun ihrem Versprechen aus dem Koalitionsvertrag nachkommen und noch in dieser Legislaturperiode für ein nationales Lieferkettengesetz sorgen.“

Die Initiative hat im Juli 2020 ein „Briefing“ zum Thema veröffentlicht:

„Verwässern – Verzögern – Verhindern: Wirtschaftslobby gegen Menschenrechte und Umweltstandards“

(https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/07/Initiative-Lieferkettengesetz-Briefing-Wirtschaftslobby-gegen-Menschenrechte.pdf)

 

 

 

Quellen:

 

 

„Sorgfalt in Lieferketten: Deutsche Unternehmen erfüllen Anforderungen nicht“, Wirtschaftswoche vom 14. Juli 2020 (Online)

 

https://www.wiwo.de/politik/deutschland/menschenrechte-sorgfalt-in-lieferketten-deutsche-unternehmen-erfuellen-anforderungen-nicht/26002886.html

 

 

Ralf Wurzbacher: „Freiheit für Ausbeuter“, junge welt vom 14. Juli 2020

 

https://www.jungewelt.de/artikel/382168.wrtschaft-gegen-menschenrechte-freiheit-f%C3%BCr-ausbeuter.html

 

 

„Initiative Lieferkettengesetz“: „‚Ergebnis ist ein Offenbarungseid‘: Stellungnahme der Initiative Lieferkettengesetz zur Menschenrechts-Befragung deutscher Unternehmen“, Pressestatement vom 14. Juli 2020

 

Presse

 

Die staatliche Finanzaufsicht unter Beschuss. Eine Medienschau zum Wirecard-Skandal

Der Name Wirecard steht für den größten Bilanzskandal der jüngeren deutschen Geschichte. Denn bei dem Dax-Unternehmen fehlen 1,9 Milliarden Euro, die in der Bilanz ausgewiesen sind. Immerhin 25 Prozent der Bilanzsumme sind damit entweder verschwunden oder aber haben nie existiert. Über Unregelmäßigkeiten bei dem Zahlungsdienstleister berichteten Medien allerdings schon seit Jahren. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)* blieb jedoch lange Zeit untätig. Mittlerweile hat Wirecard als erster DAX-Konzern Insolvenz anmelden müssen. Das Unternehmen war im Herbst 2018 in den wichtigsten deutschen Aktienindex aufgenommen worden – sein Wert betrug damals mehr als 20 Milliarden Euro.

Das offensichtliche Versagen der staatlichen Finanzaufsicht, die den mutmaßlich gigantischen Schwindel und damit den auf Betrug basierenden Aufstieg von Wirecard nicht verhinderte, wird in der Presse ausführlich kommentiert.

Marc Beise zeigt in der Süddeutschen Zeitung ein gewisses Verständnis für die Defizite der Finanzaufsicht. Es gelte genau zu ergründen, warum der große Wirecard-Betrug soweit getragen habe, ehe er aufgedeckt werden konnte. Auch bei den Zockereien der Banken, die zur Finanzkrise 2008 führten, sei diese Frage nachträglich gestellt worden. Die Antwort lautete damals: Behörden, Politik und Öffentlichkeit hätten angesichts eines komplizierten, aber zunächst erfolgreichen Geschäftsmodells nicht alles verstanden und deshalb nicht genau genug hingesehen. Dieses Muster würde sich nun wiederholen: Dass die Wirtschaftsprüfer über Jahre Bilanzen durchwinkten, die Finanzaufsicht sich zurückhielt und die sogenannte Bilanzpolizei mit nur kleinstem Aufwand prüfte. All das sei nicht zu entschuldigen, wohl aber zu erklären. Und zwar damit, dass man das Geschäftsmodell nur erahnte und sich die sich potenzierende kriminelle Energie nicht vorzustellen vermochte. (Marc Beise: „Wie konnte das passieren?“, Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/kommentar-wie-konnte-das-passieren-1.4955909

Ähnlich sieht es sein Kollege Klaus Ott, ebenfalls von der Süddeutschen Zeitung. Dieser verweist auf fehlendes Verständnisvermögen der Behörden. Es sei bezeichnend, dass zuerst Ermittler Firmen durchsuchten und Haftbefehle erwirkten ‒ und dann erst die Politik „daher hinkt“. Das sei bei anderen Skandalen auch so gewesen. Beispielsweise bei den Abgasmanipulationen von VW, die nicht vom Kraftfahrt-Bundesamt, sondern von US-Behörden entdeckt worden seien. Oder beim Cum-Ex-Steuerskandal. Ott verweist in diesem Zusammenhang auf die Finanzkrise 2007/8, als zahlreiche Großbanken sich verspekuliert hatten und vom deutschen Staat gerettet werden mussten, um noch größeren Schaden für das Finanzsystem und die Gesellschaft abzuwenden: „Staatsanwaltschaft und Justiz werden notgedrungen zum Reparaturbetrieb der Politik“. Wie Ott weiter schreibt, hätte der wissenschaftliche Dienst des Bundestags im Jahr 2009 als eine Ursache für die Bankenkrise die „mangelnde Übersicht der Behörden“ über das Zusammenspiel von Finanzakteuren ausgemacht. Spekulanten in Großbanken konnten dadurch solange auf einen unendlichen Immobilienboom und steigende Preise setzen, bis die Blase geplatzt war. „Aufsichtsbehörden, die keinen Durchblick haben, was windige Finanzakrobaten treiben ‒ das ist die Linie von der Bankenkrise über Cum-Ex bis Wirecard. Und es gibt eine Linie bei den politischen Verantwortlichen ‒ von Peer Steinbrück über Wolfgang Schäuble bis Olaf Scholz.“ (Klaus Ott: „Der Wirecard-Skandal ist eine Pleite für alle“, Süddeutsche Zeitung vom 25. Juni 2020)

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirecard-insolvenz-kommentar-1.4947377www.sz.de/1.4947377

Fabio de Masi, Finanzexperte der Linksfraktion im Bundestag, vermutet hingegen, dass die BaFin im Interesse des Standortes Deutschland agierte. In einem Interview im Neuen Deutschland geht der Politiker davon aus, dass die Bafin neben der Aufsicht über die Finanzunternehmen auch den Finanzplatz Deutschland pflegen will. Man sei ja stolz darauf gewesen, dass Wirecard als ein ehemaliges Schmuddelkind der Branche, das in der Zahlungsabwicklung für die Porno- und Onlinewetten-Industrie groß geworden sei, auf einmal weltweit in der ersten Liga der Fintechs mitspielen konnte. Solche Firmen werteten zum Beispiel große Mengen an Finanzdaten aus, um mittels Künstlicher Intelligenz Ausfallrisiken zu ermitteln. Je größer die Datenmacht und die Umsätze seien, desto besser würden sich Zahlungsausfälle verkraften lassen. Das Ziel von Wirecard sei daher gewesen, um jeden Preis zu wachsen. In dem Zusammenhang habe man wohl auch Umsätze vorgetäuscht. Vielleicht hätte die Bafin nicht zu viel Staub aufwirbeln wollen, um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens nicht zu gefährden. Auch dass die Bafin ein Aufsichtsproblem habe, sei schon lange bekannt und müsse den Minister interessieren. Das habe auch der Cum-Ex-Skandal gezeigt, wo es um die Erstattung nicht gezahlter Kapitalertragsteuern ging. Die Finanzaufsicht habe immer wieder beim Schutz der Verbraucher vor betrügerischen Anlageprodukten versagt. (Kurt Stenger: „Wenn der Finanzpolizist schläft“, Neues Deutschland vom 29. Juni 2020)

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138453.wirecard-wenn-der-finanzpolizist-schlaeft.html?sstr=bafin

Auch Jörg Kronauer von der jungen Welt setzt voraus, dass die Aufsichtsbehörde Wirecard schützen und daher nicht gegen sie vorgehen wollte. Die Bafin habe inzwischen eingeräumt, dass sie schon im Januar 2019 von einem Insider über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard informiert worden sei – genau zu der Zeit, zu der auch die Financial Times detailliert über die Geschäftspraktiken des Konzerns berichtete. Die Bafin sei tatsächlich auch eingeschritten: Sie hätte Wirecard mit dem Verbot von sogenannten Leerverkäufen geschützt und Anzeige gegen einen Journalisten der Financial Times erstattet. Zu Schritten gegen die deutsche Firma dagegen hätte sie sich nicht veranlasst gesehen. Kronauer stellt fest, dass Wirecard bis vor kurzem nicht nur als eine der erfolgreichsten hiesigen Unternehmensgründungen galt, sondern zudem neben der in die Jahre gekommenen SAP die einzige Aktiengesellschaft in Deutschland gewesen sei, die sich Hoffnungen hätte machen können, in der immer wichtigeren Sparte der Internet- und IT-Konzerne in die Weltspitze vorzustoßen. „Sie gab dem Ansehen des Finanzplatzes Deutschland Auftrieb, dessen Traditionsfirmen – Deutsche Bank, Commerzbank – international nicht eben glänzen. Am Lack von Wirecard zu kratzen, das hätte dem Finanzplatzimage natürlich geschadet. Jetzt ist es ruiniert.“ (Jörg Kronauer: „Der Lack ist ab“, junge Welt vom 29. Juni 2020)

https://www.jungewelt.de/artikel/381130.crash-der-lack-ist-ab.html?sstr=lack

Die gleiche Stoßrichtung verfolgt die Internetzeitung German Foreign Policy, indem sie betont, dass die Aufsichtsbehörde eine umfassende Untersuchung der Wirecard-Praktiken unterließ, um die Position des Finanzplatzes Deutschland nicht zu gefährden. Wirecard Deutschland schien sich die Chance zu bieten, im Schnittfeld der Finanz- und der Digitalbranche zur Weltspitze aufzuschließen. Nachdem Journalisten Anfang 2019 Unregelmäßigkeiten im Südostasiengeschäft des Unternehmens aufdeckten, hätten zwar die Behörden in Singapur, dem Regionalstandort der Firma, umfassende Ermittlungen aufgenommen, nicht jedoch die zuständigen deutschen Stellen. Vielmehr sei ein recherchierender Journalist von der Finanzaufsicht BaFin angezeigt und Wirecard mit dem raschen Verbot von „Leerverkäufen“ unter die Arme gegriffen worden. Wirecard würde zwar nur über eine eher kleine Bank verfügen, dafür aber dem Anschein nach alle sonstigen Voraussetzungen haben, mit der Abwicklung von Kartenzahlungen auf dem Fintech-Sektor in die Weltspitze vorzustoßen.

Andernorts sei dagegen etwas gegen Wirecard unternommen worden. Besonders intensiv hätte die Londoner Financial Times recherchiert und bereits Anfang 2019 mehrere kritische Berichte über die Praktiken des Unternehmens publiziert. Dabei sei es unter anderem um offenbar vorgetäuschte Umsätze im Konzerngeschäft in Singapur gegangen. Die Behörden des südostasiatischen Stadtstaats hätten daraufhin Wirecard aufs Korn genommen und im Februar vergangenen Jahres eine Hausdurchsuchung in den dortigen Räumlichkeiten der Firma durchgeführt. Die deutschen Behörden reagierten hingegen ganz anders auf die Vorwürfe gegen Wirecard. Die BaFin schaltete im Februar 2019 zunächst die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) ein, um sie mit einer umfassenden Überprüfung der Konzernbilanz zu beauftragen. Die Überprüfung sei bis heute nicht abgeschlossen. Nicht weiter überraschend, denn die DPR, so die Internetzeitung, habe dafür ‒ wie bei ihr üblich ‒ nur einen einzigen Mitarbeiter abgestellt. Und dies, obwohl die Wirecard-Bilanz unter Experten als extrem undurchsichtig gelte. Demgegenüber habe die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG später für eine Sonderprüfung bei Wirecard 40 Mitarbeiter eingesetzt. Wirecard selbst sei in Deutschland also ‒ anders als in Singapur ‒ ohne ernsthafte behördliche Ermittlungen davongekommen. („Der Fall Wirecard“, Foreign German Policy, 2. Juli 2020)

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8322/

Die Behauptung, der – auch betrügerische – Erfolg eines Unternehmens wie Wirecard läge durchaus im Interesse des Staates und seiner Aufsichtsbehörden selbst, erscheint plausibel angesichts der umfangreichen Steuerzahlungen des Konzerns. Christian Schnell beschreibt im Handelsblatt, wie der Fiskus bisher von Wirecard profitiert habe. Das Unternehmen sei über viele Jahre ein willkommener Steuerzahler gewesen.  297,2 Millionen Euro habe der Konzern nach Berechnungen des Handelsblatts seit dem Jahre 2001 an die Steuerbehörden überwiesen. Das Geld sei in Gestalt von Lohn- und Einkommensteuern, Kapitalertrags-, Körperschafts- und Gewerbesteuern an den Bund, den Freistaat Bayern und die Gemeinde Aschheim, wo sich die Firmenzentrale befindet, geflossen. Die Ausgangslage dafür sei eindeutig: Laut Gesetz bilde das wirtschaftliche Ergebnis die Grundlage jeder Unternehmensbesteuerung. Wenn das wirtschaftliche Ergebnis viel zu hoch in der Steuererklärung angesetzt war, seien Steuern für Gewinne gezahlt worden, die es gar nicht gab. „Und der Staat wäre womöglich Profiteur einer Scheinwelt“, so Schnell, „die so nur auf dem Papier existiert hat.“ Dass Steuereinnahmen, auch wenn sie auf falschen Gewinnannahmen basierten, jemals zurückerstattet würden, sei unwahrscheinlich. (Christian Schnell: „Fiskus profitierte von Wirecard – Anleger bleiben wohl auf Verlusten sitzen“, Handelsblatt vom 2. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/trotz-insolvenz-fiskus-profitierte-von-wirecard-anleger-bleiben-wohl-auf-verlusten-sitzen/25970110.html?ticket=ST-9776811-Rdzrkaeugt6A9bifwmgJ-ap4

Die Taz-Autorin Anja Krüger erkennt in der Verfilzung der verschiedenen Branchen und in der beruflichen Biografie des BaFin-Chefs Hufeld einen Grund für das passive Verhalten der Behörde. Hufeld verkörpere das Problem der deutschen Finanzaufsicht, da er zu wenig Distanz zu den Branchen habe, die er überwachen solle. Das habe Folgen für die Kontrolle, denn die Unternehmen bekämen von der Aufsicht einen Vertrauensvorschuss, den sie nicht verdient hätten. Die Autorin beschreibt die berufliche Laufbahn des BaFin-Chefs: „Hufeld begann seine Karriere bei einem Unternehmensberater. Später war er Deutschland-Chef bei Marsh, einem der größten Versicherungsmakler der Welt. In dieser Funktion hatte er geschäftlich viel mit den wichtigsten Managern der deutschen Assekuranz zu tun – die er später kontrollieren sollte. Denn nach einer kurzen Episode bei Finanzunternehmen wurde der Vater zweier Kinder Exekutivdirektor der Versicherungsaufsicht bei der BaFin. Seit März 2015 ist er Präsident der BaFin.“ (Anja Krüger: „BaFin-Chef kämpft um seinen Job“, Taz vom 1. Juli 2020)

https://taz.de/Versagen-der-Finanzaufsicht-bei-Wirecard/!5693367/

Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung Finanzwende e.V., verweist in der Frankfurter Rundschau auf einen grundsätzlichen Interessenkonflikt in der Branche der Wirtschaftsprüfer. Die Bafin habe bereits bei früheren Skandalen gezeigt, dass sie zu mutlos, langsam und formal agiere und für eine Bekämpfung von Finanzkriminalität völlig falsch aufgestellt sei. Als ein Beispiel führt Schick die kriminellen Cum-ex-Geschäfte an, an denen eine Vielzahl von Banken und Fonds in Deutschland beteiligt gewesen sind. Die Finanzaufsicht hätte sich nicht zuständig gefühlt. Auch bei der Pleite der Firma P&R, die Anlagen in Schiffscontainer vermittelte, die teilweise gar nicht vorhanden waren, hätte die Aufsicht trotz vorliegender Hinweise nicht durchgegriffen. Schon bei der Bankenkrise 2008 seien die Wirtschaftsprüfer in die Kritik geraten. Die von der EU-Kommission anschließend geplante Reform des Prüferwesens sei jedoch insbesondere von den vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften fast komplett ausgebremst worden. Der Autor wundert sich nicht darüber, dass dieselben schon vor zwölf Jahren thematisierten Probleme bei Wirecard wieder sichtbar würden. Zentral sei etwa der Interessenkonflikt, der daraus resultiert, dass Prüfungsunternehmen auch Beratungsleistungen anbieten dürfen: „Wer legt sich schon gern mit potenziellen Kunden an? Die verhinderte Reform muss deshalb schleunigst nachgeholt werden.“ (Gerhard Schick: „Wirecard: Das Versagen der Aufsicht“, Frankfurter Rundschau vom 2. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/gastwirtschaft/versagen-aufsicht-13819427.html

Hendrik Zörner vom Deutschen Journalistenverband (DJV) spekuliert im Deutschlandfunk über die Gründe, die die BaFin bewogen haben, juristisch gegen die Financial Times vorzugehen. Nachdem diese zuvor massive Unregelmäßigkeiten bei dem Finanzdienstleister aufgedeckt hatte, stand Wirecard vor dem Aus. Nach Zörner habe das Blatt seine Kompetenzen dabei jedoch nicht überschritten. Dass die Financial Times sich bei ihrer Berichterstattung hätte Fehler zu Schulden kommen lassen, kann Hendrik Zörner nicht erkennen. Die Zeitung habe sehr sorgfältig und sehr lange recherchiert. Zörner vermutet gegenüber dem Deutschlandfunk, dass die Bafin gegenüber dem Journalisten, der alles ins Rollen gebracht hat „den dicken Maxen“ zu machen versuche. Er könne sich allerdings nicht vorstellen, dass es wirklich zu einem Verfahren komme, an dessen Ende die Financial Times verurteilt würde.

(„Von der Presse in den Ruin geschrieben? Hendrik Zörner im Gespräch mit Ute Welty“, Interview im Deutschlandfunk Kultur vom 1. Juli 2020)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/wirecard-von-der-presse-in-den-ruin-geschrieben.1008.de.html?dram:article_id=479649

Thomas Magenheim-Hörmann erläutert in der Frankfurter Rundschau, wie das „Systemversagen“ der Finanzaufsicht offenbar zielgerichtet organisiert wurde. Gegen die Wirecard-Wirtschaftsprüfer EY (Ernst & Young) sowie die Ratingagentur Moody’s seien Schadenersatzklagen auf den Weg gebracht worden oder in Vorbereitung. Aber auch der Bafin drohe Ärger, obwohl sie gesetzlich eigentlich von Haftung ausgenommen sei.

Dies könne europarechtswidrig sein, wie der Berliner Anlegeranwalt Marc Liebscher zitiert wird: „Wir sind von internationalen Investoren beauftragt worden, Staatshaftungsklage zu prüfen“, erklärt der Anwalt. Wenn man diese dann vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) bringe, könne dort der Haftungsausschluss kippen. Liebscher meinte gegenüber der Frankfurter Rundschau: „Die Aufsicht wurde so organisiert, dass sie scheitern musste.“ Magenheim-Hörmann meint, dass man das so sehen könne. Bei Gründung der Bafin im Jahr 2002 sei etwa die Digitalisierung der Finanzwirtschaft kaum berücksichtigt worden. Die Bafin sei nur für die Prüfung der Wirecard Bank und nicht des Gesamtkonzerns zuständig, habe sich Bafin-Chef Felix Hufeld vor dem Finanzausschuss des Bundestags verteidigt. Im Einvernehmen mit Bundesbank und Europäischer Zentralbank (EZB) sei Wirecard als technologiegetriebenen Konzern und nicht als Finanzholding eingestuft worden. Bei Letzterem hätten volle Kontrollmöglichkeiten bestanden, bei Ersterem nur solche über die Wirecard-Bank. Die mutmaßlich kriminellen Machenschaften aber hätte es abseits der Bank gegeben. Somit wäre die Deutsche Prüfungsstelle für Rechnungslegung (DPR), der die Bafin Anfang 2019 einen Prüfauftrag zu Wirecard erteilt hatte, aufsichtsrechtlich für die Konzernbilanzen zuständig gewesen. „Die DPR“, so der Autor, „gilt als chronisch unterbesetzt. Ihre Mittel und Möglichkeiten sind sehr beschränkt. Gut ein Jahr nach Prüfauftrag an die DPR liegt noch kein Ergebnis vor.“ Nach Angaben des BaFin-Chefs Hufeld würde die DPR im Schnitt 13,5 Monate für eine Prüfung benötigen. (Thomas Magenheim-Hörmann: „Der Totalausfall der Bafin muss Konsequenzen haben“, Frankfurter Rundschau vom 3. Juli 2020)

https://www.fr.de/wirtschaft/totalausfall-bafin-muss-konsequenzen-haben-13821027.html

Antonia Mannweiler verweist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ebenfalls auf das Problem der Zuständigkeit bei Unternehmen, die sowohl als Finanz- als auch als Technologieunternnehmen firmieren. „Wenn es sogar einem Dax-Konzern wie Wirecard gelingt, die Behörden hinters Licht zu führen, wie steht es dann um die Regulierung der vielen anderen jungen, aufstrebenden Finanz-Start-ups?“, fragt die Autorin. Vor drei Jahren habe die Europäische Bankenaufsicht (EBA) die Regulierung des Fintech**-Marktes untersucht und sei zu dem Schluss gekommen, dass 31 Prozent aller Fintechs weder einer EU-weiten noch einer nationalen Regulierung unterliegen, das heißt gar nicht reguliert würden. Nach Christina Bannier, Professorin für Banking and Finance an der Justus-Liebig-Universität in Gießen, bestehe ein Problem der Kontrolle von Fintechs darin, dass nur ein kleiner Teil ‚Fin‘, der größere aber ‚Tech‘ sei, weil das Finanzgeschäft letztlich eine untergeordnete Rolle spiele. Sally Sfeir Tait, Chefin des Reg-Techs Regulaition in London, ginge davon aus, dass sich viele Fintechs eher als Tech-Unternehmen sähen denn als Finanzinstitute. „Viel wichtiger sind aus Banniers Sicht aber die Dienstleistungen, die die Fintechs anbieten. Die Schwierigkeit bei der Regulierung der jungen Unternehmen liege daher in der Fragestellung, wer eigentlich für sie zuständig sei.“

(Antonia Mannweiler: „Der blinde Fleck der Bafin“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Juli 2020)

https://www.faz.net/aktuell/finanzen/warum-die-bafin-bei-wirecard-einen-blinden-fleck-hatte-16840091.html

Michael Findeisen von der Bürgerbewegung Finanzwende e. V. unterstreicht in einer ausführlichen Analyse, dass die bisherige Arbeitsweise der Aufsichtsbehörde der komplexen Firmenstruktur von Wirecard nicht gerecht wurde und deshalb viele „blinde Flecken“ aufgewiesen habe. Die Unternehmensstruktur von Wirecard sei keiner laufenden Aufsicht durch die BaFin unterworfen. Diese gelte nur bei der Wirecard Bank AG, einer Tochter der Wirecard AG. Eine Gesamtschau der Aufsicht auf das Unternehmen und eine Gruppenaufsicht existiere aufgrund dieses Konstrukts nicht.

„Die BaFin blickt also schon wegen dieser Firmenstruktur durch eine Art Strohhalm auf die Wirecard Bank AG. Die viel größere Wirecard AG hingegen mit ihren (erlaubnisfreien) Teilakten, die sie in der Zahlungsverkehrsabwicklung erbringt, unterliegt lediglich der Wertpapieraufsicht der BaFin und damit qualitativ anderen Regeln.“ Erschwerend komme hinzu, dass auch die Geschäftsaktivitäten der Wirecard Bank AG in Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union nicht der Aufsicht unterworfen seien. „Die Aufsicht durch die BaFin war von vielen blinden Flecken geprägt.“ (Michael Findeisen, Bürgerbewegung Finanzwende e. V.: „Der Fall (von) Wirecard – und seine Lehren für die Finanzaufsicht“, 24. Juni 2020)

https://www.finanzwende.de/blog/der-fall-von-wirecard-und-seine-lehren-fuer-die-finanzaufsicht/?L=0

Rolf Nonnenmacher, Vorsitzender der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex – ein Instrument zur Selbstregulierung der Wirtschaft – zieht im Handelsblatt-Interview seine rein marktapologetischen Schlüsse aus dem Fall Wirecard. Die interne Überwachung durch den Aufsichtsrat und die externe Überwachung durch den Markt habe im Fall Wirecard nicht funktioniert. Daher solle nicht eine Behörde oder Institution überwachen, dass die Regeln des Deutschen Corporate Governance Kodex eingehalten würden, sondern der Kapitalmarkt selbst solle es richten. Nonnenmacher: „Wir brauchen eine auf Transparenz beruhende und wirksame Überwachung der Corporate Governance durch den Markt, aber keine Behördenlösung.“ (Dieter Fockenbrock, Tanja Tewes: „Rolf Nonnenmacher: Der Fall Wirecard ist wie ein Brennglas“, Handelsblatt vom 3./4./5. Juli 2020)

https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/deutscher-corporate-governance-kodex-rolf-nonnenmacher-der-fall-wirecard-ist-wie-ein-brennglas/25966450.html?ticket=ST-9810355-JgiBcwfegb9EvJsz190o-ap4

* „Die BaFin „ist eine rechtsfähige deutsche Anstalt des öffentlichen Rechts des Bundes mit Sitz in Frankfurt am Main und Bonn. Sie untersteht der Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Finanzen.

Die BaFin beaufsichtigt und kontrolliert als Finanzmarktaufsichtsbehörde im Rahmen der Finanzaufsicht alle Bereiche des Finanzwesens in Deutschland.“ (Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesanstalt_f%C3%BCr_Finanzdienstleistungsaufsicht)

„Es geht um eine Superbehörde mit 2700 Mitarbeitern, die hierzulande mehr als 1500 Kreditinstitute, 6100 inländische Fonds, 400 Kapitalverwaltungsgesellschaften und rund 550 Versicherer beaufsichtigt. Damit spielt die BaFin eine wichtige Rolle im Leben fast aller Bürger, die schließlich auch Bankkundinnen, Anleger oder Versicherte sind.“ (Bürgerbewegung Finanzwende e.V., https://www.finanzwende.de/themen/finanzaufsicht-bafin/finanzwende-report-die-akte-bafin/?L=0

** „Der Begriff Fintech setzt sich aus den Anfangssilben von Finanzdienstleistungen und Technologie zusammen. Mit Fintech wird die Branche bezeichnet, in der Finanzdienstleistungen mit Technologie verändert werden. Fintechs sind die Unternehmen, die das tun. Fintechs sind häufig Start-ups, aber nicht immer.“

https://finletter.de/fintech-definition/

Alle wollen mehr Transparenz

Wer als Bürger*in wissen will, wer in wessen Auftrag Einfluss auf seine oder ihre Abgeordneten und damit auf die Gesetzgebung oder andere politische Entscheidungen nimmt, ist bislang auf die investigative Recherche von Journalisten oder die aufklärende Arbeit von NGOs angewiesen. Denn bislang weist kein Lobbyregister nach, welche Lobbyisten wann und wie oft Kontakte zur Politik gesucht und gefunden haben. Die Affäre um den CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor hat die schon seit vielen Jahren diskutierte Forderung nach einem Lobbyregister, welches solche Vorgänge nachvollziehbar machen soll, wieder einmal auf die politische Agenda gesetzt.

Amthor hatte für die New Yorker Firma „Augustus Intelligence“ welche nach eigenen Angaben „sichere Lösungen für Künstliche Intelligenz“ an ihre Kunden verkauft, Lobbyarbeit betrieben. In diesem Zusammenhang schrieb er im Herbst 2018 einen Brief an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und bat um politische Unterstützung für das Unternehmen. Im Gegenzug erhielt der Politiker Aktienoptionen sowie einen Direktorenposten in dem Unternehmen.

Nach Pressemeldungen erarbeitet die Große Koalition unter dem Eindruck der vom Magazin Spiegel aufgedeckten Affäre derzeit einen Gesetzentwurf, der nach der Sommerpause vorliegen soll. Vermutlich wird erst Ende September oder Anfang Oktober über diesen Entwurf weiter beraten. Die parlamentarische Opposition wirft den Koalitionsfraktionen deshalb vor, den Gesetzgebungsprozess verzögern zu wollen. Marco Bülow, seit seinem Austritt aus der SPD im November 2018 fraktionsloser Abgeordneter im Bundestag, sieht in der Ankündigung eines Lobbyregisters in erster Linie politisches Kalkül: „Union und SPD wollen die Amthor-Debatte jetzt offensichtlich mit dem Hinweis auf das Lobbyregister schnell runterkochen.“ Timo Lange, Campaigner bei LobbyControl, warnt vor einem „Schmalspur-Lobbyregister“, mit dem man sich aber nicht zufriedengeben werde (taz vom 25. Juni 2020). Er liegt auf gleicher Linie mit Bülow, der meint: „Ich wette übrigens, dass das Lobbyregister eine Lightform sein wird.“ (Neues Deutschland vom 24.  Juni 2020)

Der Abgeordnete Bülow antwortet auf die Frage des taz-Autors Georg Sturm, ob wir angesichts der Tatsache, dass der Bundestag systematisch im Sinne einflussreicher Interessengruppen und Vermögender entscheidet, überhaupt in einer Demokratie leben und wie es um die Notwendigkeit einer Demokratisierung der Wirtschaft stehe:

„Natürlich leben wir de facto in einer Demokratie. Ich glaube jedoch, dass es immer mehr eine Fassadendemokratie ist. Es gibt Wahlen und Gewaltenteilung. Hinter den Kulissen findet jedoch eine Aushöhlung der Demokratie statt. Die Menschen dürfen alle vier, fünf Jahre wählen. Das halte ich nicht für einen großen demokratischen Akt, vor allem in einem Staat, in dem so viel Lobbying betrieben wird und die Menschen sonst von politischer Teilhabe ausgeschlossen sind. (…) Die Wirtschaft muss ein Instrument dafür sein, dass es den Menschen gut geht, dass sie in einer intakten Umwelt leben und eine zu große Ungleichheit verhindert wird. Eine Demokratisierung der Wirtschaft, aber auch aller Lebensverhältnisse wäre daher unglaublich wichtig. Wir erleben jedoch das Gegenteil, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Nur wenn das umgekehrt wird, kann es eine wirkliche Demokratie geben.“ (ebd.)

Taz-Autor Sturm resümiert die aktuelle Transparenz-Debatte wie folgt: „Auch wenn die Einführung eines Lobbyregisters durch den Amthor-Skandal nun erstmals realistisch erscheint, zeigt der Fall doch auch die sich schon jetzt abzeichnenden Grenzen eines solchen Gesetzes. Amthors Verstrickungen mit der Wirtschaft wäre nämlich auch in einem solchen Lobbyregister nicht angabepflichtig gewesen. Transparenzorganisationen fordern daher weitere Maßnahmen wie die Einführung eines legislativen Fußabdrucks, Einschränkungen und Veröffentlichungspflichten bei Nebentätigkeiten sowie eine Karenzzeitregelung für Abgeordnete und Regierungsmitglieder nach dem Ausscheiden aus der Politik.“

Kritische Stimmen zum Thema wie die angeführten erscheinen mehr als notwendig, da aktuell selbst Superlobbyisten wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sich für die schnelle Einführung eines Lobbyregisters in Deutschland ausgesprochen hat und „maximale Transparenz in der Vertretung von Interessen und Weitergabe von Informationen aus der Wirtschaft an die Politik“ fordert. Es dürfe, so der BDI-Präsident, „kein Eindruck unsauberen Verhaltens entstehen“. (Der Spiegel vom 22. Juni 2020) Der Spiegel berichtet zudem über eine – auf den ersten Blick – überraschende Konstellation, in der sich kürzlich sechs Verbände zu einer Allianz für Lobbytransparenz zusammengeschlossen haben, um einen Appell an die Fraktionen des Bundestags zu richten. Zu den Initiatoren gehören neben Transparency International auch Unternehmensverbände wie der BDI und der Verband der Chemischen Industrie (VCI), aber auch der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) und der Naturschutzbund Nabu. Danach sorgen sie sich um den Vertrauensverlust in die „Politik“ im Allgemeinen und die Politiker*innen im Besonderen und streben mittels eines Eckpunktepapiers „Transparenz und Chancengleichheit im politischen Interessenwettstreit“ an.

Auch wenn ein Lobbyregister vermutlich nur ein wenig mehr Klarheit über die Verfilzung der Interessen von Wirtschaft und Politik schaffen kann, hilft weichgespülte politische Rhetorik solcher Art sicher nicht weiter. Ganz praktisch fordert deshalb der Verein LobbyControl ein verpflichtendes Lobbyregister mit schärferen Regeln und Offenlegungspflichten.

Wer möchte, kann einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundestages und der Bundesregierung, in dem ein „umfassendes Lobbyregister ohne Schlupflöcher“ gefordert wird, unterschreiben:

https://www.lobbycontrol.de/2020/01/lobbyregister-aktion/

 

Quellen:

Georg Sturm: „Mehr Transparenz wagen“, taz vom 25. Juni 2020

https://taz.de/Lobbyregister-fuer-Abgeordnete/!5697092&s=amthor/

Ders.: „In der Fassadendemokratie“, Neues Deutschland vom 24. Juni 2020

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1138286.marco-buelow-in-der-fassadendemokratie.html?sstr=amthor

„Industrie fordert schnelle Einführung eines Lobbyregisters“, Der Spiegel vom 22. Juni 2020

https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/industrie-fordert-schnelle-einfuehrung-eines-lobbyregisters-a-3045292f-ca85-490c-aab9-2ffceada8e9f

Gerald Trautvetter: „Jetzt fordern Lobbyisten das Lobbyregister“, Der Spiegel vom 29. Juni 2020

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/folgen-der-affaere-amthor-lobbyisten-fordern-lobbyregister-a-fface995-61c8-4c3c-83db-dfceaae915fb

Annette Sawatzki (LobbyControl): „Amthor: Ein segensreicher Skandal?“, 29. Juni 2020

https://www.lobbycontrol.de/2020/06/amthor-ein-segensreicher-skandal/