„Das hässliche Gesicht des Kapitalismus“. Zwei neue Bücher über den Konzern Amazon

In der Ausgabe des Handelsblatts vom 22. Mai 2021 rezensierte Florian Kolf zwei neu erschienene Bücher über den weltweit größten Online-Versandhändler Amazon.

Nach Meinung des Wirtschaftsjournalisten hätte das vergangene Jahr für Amazon eine Zeit der „Heiligsprechung“ werden können. Denn ein großer Teil des öffentlichen Lebens war pandemiebedingt stillgelegt und der US-Konzern verfügte über die erforderlichen Warenlager und Logistik, um die Bevölkerung ausreichend versorgen zu können. Das Gegenteil sei aber eingetreten: „Mitarbeiter rebellierten gegen die Arbeitsbedingungen, Politiker forderten die Begrenzung der Macht des Konzerns, Händler auf dem Amazon Marketplace wetterten gegen die Geschäftspraktiken des Plattformbetreibers. Was war geschehen?“

Auf die Frage, warum das Unternehmen „plötzlich als hässliches Gesicht des Kapitalismus“ galt, gibt nach Auffassung des Handelsblatt-Autors das Buch „Amazon unaufhaltsam“ des amerikanischen Journalisten Brad Stone, der für das US-Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek arbeitet, die richtigen Antworten.

Kolf schreibt: „Stone liefert eine faszinierende Innenansicht des amerikanischen Tech-Konzerns, gespickt mit Details, Szenen und Anekdoten, die dem Leser ein Gefühl dafür geben, welche Kräfte dieses Erfolgsunternehmen antreiben. Er zeichnet zugleich aber auch ein schonungsloses Bild des brutalen Führungsstils von Bezos und seinen Top-Managern, die mit künstlichen Deadlines und massivem Druck Mitarbeiter regelmäßig in 80-Stunden-Wochen und häufig fast in den Wahnsinn treiben.“

Brad Stone sieht demnach den Kern des Unternehmenserfolgs im Streben nach permanenter Innovation. Konzernchef Bezos trieb offenbar in den vergangenen zehn Jahren neue Projekte mit unermüdlichem Einsatz voran – so etwa die digitale Spracherkennung Alexa.

Der zweite Teil des Buches von Stone führe aus, wie in kurzer Zeit aus einem innovativen Unternehmen einer der mächtigsten Konzerne der Welt werden konnte: „Und hier zeigt Stone, dass Konzernchef Bezos nicht nur eine kreative und technikverliebte Seite hat, sondern auch eine skrupellose, wenn es dem Erfolg dient.“ Ein Hebel für den rasanten Wachstumskurs sei das Heer von Lagerarbeitern und unterbezahlten Subunternehmern, die unter Bedingungen arbeiten, die einer an sich notwendigen Qualität kaum förderlich seien.

Das Buch des amerikanischen Autors fokussiert nach Meinung des Handelsblatt-Journalisten auf die Schattenseiten der rücksichtslosen Unternehmensexpansion. Im Verlauf der Corona-Pandemie etwa wurde Amazon vorgeworfen, Profiteur der Krise zu sein. Zugleich aber hätten sich Meldungen über unzureichende Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 – insbesondere in den Auslieferungslagern – gehäuft. Auch wenn Amazon jetzt wirtschaftlich so gut wie nie zuvor dastehe, sei das Image des Unternehmens deutlich ramponiert.

Als perfekte Ergänzung zu „Amazon unaufhaltsam“ bezeichnet Florian Kolf das jüngst auf Deutsch erschienene Buch „Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon“ von Alec MacGillis. Das Werk lege den Schwerpunkt darauf, die regionale Ungleichheit und den zunehmenden Konzentrationsprozess der US-Wirtschaft am Beispiel der Entwicklung Amazons zu analysieren.

Kolf schreibt über MacGillis‘ Buch: „Der preisgekrönte Journalist ist dafür durchs Land gereist, hat mit Bandarbeitern, Kleinunternehmern, Künstlern, Aktivisten, Politikern und Lobbyisten gesprochen. Das Buch ist in einem packenden Reportage-Stil geschrieben und zeigt an vielen Beispielen, wie sich die Gesellschaft immer stärker verändert, wie sich das Land spaltet – und welchen Anteil Amazon daran hat. Für Amazon sind die Ergebnisse seiner Recherchen wenig schmeichelhaft: Er listet genau auf, welche Steuererleichterungen der Konzern mit den Milliardengewinnen hinter verschlossenen Türen aushandeln konnte, wie er Kommunen gegeneinander ausspielte, unter welchen Bedingungen die Arbeiter in den Auslieferungszentren arbeiten, wie Einzelhändler unter dem Druck des Riesen aufgeben mussten.“

In einer Buchkritik des DeutschlandfunkKultur legt die Rezensentin Vera Linß den Schwerpunkt auf die These von MacGillis, dass der Erfolg von Amazon den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den USA bedrohe. Die Spaltung des Landes, die Trump viele Wähler gebracht habe, gehe weiter. Bis 2030 würden laut einer Analyse des McKinsey Global Institute 25 Metropolen weiter boomen, 54 US-Städte und mehr als 2.000 Landkreise hingegen wirtschaftlich abgehängt. Schuld an dieser Ungleichheit, so zitiert der DeutschlandfunkKultur den US-Investigativ-Journalisten, sei die ungebremste Konzentration von Marktmacht des Konzern Amazon. Das Fazit von MacGillis lautet: Amerika steht im Schatten des Onlineriesen. Denn dessen Dienstleistung krempelt die amerikanische Wirtschaft radikal um. 76.000 Arbeitsplätze vernichtet Amazon jährlich im Einzelhandel, doppelt so viele, wie es selbst geschaffen habe.

In der Süddeutsche Zeitung schreibt Felix Ekardt, dass in „Ausgeliefert“ von MacGillis Amazon auch als Metapher für die großen IT-Konzerne und die globalisierte Wirtschaft steht, die in der Corona-Lockdown-Gesellschaft noch mächtiger geworden sind. Das Buch reihe Beispiel an Beispiel, man erfahre von kleinen Buchhändlern, die – von Amazon Marketplace bedrängt – zwar mehr Kunden erreichen würden, während zugleich aber ihre Gewinnspannen schrumpfen.

In einer Besprechung des eingangs genannten Buches „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone im MDR wird betont, dass Stone die vergangenen Jahre des Konzerns detailliert nachzeichne: „Wie entstand Amazons Sprachassistent Alexa, warum sind Amazons Smartphones ein Flop gewesen, wie geht es mit dem Konzern weiter, wenn der Chef im Juli abtritt?“ Stone wird zitiert: „Amazon reagiert allergisch auf organisierte Arbeiterschaft. Das war schon immer so. Es beginnt mit Jeff Bezos. Er will nicht, dass eine eingefahrene und verärgerte Belegschaft seine Flexibilität einschränkt. Sie versuchen darum herumzutanzen, aber sie sind gewerkschaftsfeindlich. Eine Sache, die sie tun, wenn Arbeiter sich organisieren – sie verlangsamen das Wachstum in einem Land und liefern Produkte aus anderen Ländern. Das haben wir in Deutschland schon gesehen, wo sie einige Fulfillment Centers vorübergehend geschlossen und Produkte aus Polen eingeführt haben. Sie spielen also mit harten Bandagen.“

„Und das wird sich wohl auch nicht ändern“, wie der Redakteur der Sendung abschließend bemerkt, „wenn der Amazon-Chef nicht mehr Jeff Bezos heißt.“

Quellen:

Florian Kolf: „Kreativ und rücksichtslos: Die Geheimnisse des Erfolgs von Amazon – und die Schattenseiten“, Handelsblatt (Online) vom 22. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/literatur/analyse-kreativ-und-ruecksichtslos-die-geheimnisse-des-erfolgs-von-amazon-und-die-schattenseiten/27208618.html

Vera Linß: „Wie Amazon die USA spaltet“, DeutschlandfunkKultur, Buchkritik vom 7. Mai 2021

https://www.deutschlandfunkkultur.de/alec-macgillis-ausgeliefert-wie-amazon-die-usa-spaltet.950.de.html?dram:article_id=496687

Felix Ekardt: „Supermarkt für Ungleichheit“, Süddeutsche Zeitung (Online) vom 13. April 2021

https://www.sueddeutsche.de/politik/amazon-macgillis-1.5260717

MDR aktuell: Buchkritik zu „Amazon unaufhaltsam“ von Brad Stone vom 29. Mai 2020

https://www.mdr.de/mdr-aktuell-nachrichtenradio/audio/audio-1750114.html

Brad Stone: Amazon unaufhaltsam. Wie Jeff Bezos das mächtigste Unternehmen der Welt erschafft.
Ariston, München 2021, 544 Seiten, 26 Euro

Alec MacGillis: Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon.
S. Fischer, Frankfurt 2021, 448 Seiten, 26 Euro

 

Aggressive Steuerparadiese mitten in Deutschland

Das ARD-Magazin „Panorama“ berichtete am 20. Mai 2021 über einen ganz legalen Steuerwettbewerb zwischen deutschen Kommunen. Denn die können die Höhe der Gewerbesteuer frei festlegen. In Deutschland gibt es mindestens elf Kommunen, die Firmen mit besonders niedrigen Steuersätzen anlocken. Die Reportage verdeutlicht das am Beispiel der Kleinstadt Zossen in Brandenburg. Während in Berlin rund 14 Prozent Gewerbesteuern auf Gewinne fällig werden, fordert Zossen nur rund 9 Prozent. Bis Anfang des Jahres galt dort sogar nur der gesetzliche Mindestsatz von 7 Prozent. Firmen nutzen das Steuergefälle offenbar im großen Stil aus. Christoph Trautvetter vom „Netzwerk Steuergerechtigkeit“ bezeichnet den etwa 20 Kilometer südlich der Berliner Stadtgrenze gelegenen Ort als eine „typische und aggressive Gewerbesteueroase“. Unternehmen, die von der Geschäftstätigkeit eher nach Berlin gehörten, würden in Zossen ihre Gewerbesteuer zahlen.

Laut Panorama haben etwa 2.500 Firmen in der Kleinstadt ihren Firmensitz angemeldet. Andere Kommunen klagen dagegen über sinkende Einnahmen und den Wegzug von Firmen. Vor allem wenn die nicht wirklich weg sind, sondern weiterhin die öffentliche Infrastruktur nutzen, Steuern aber eben woanders zahlen.

Die zuständigen Finanzämter scheinen jedoch kein Interesse daran zu haben, gegen dieses Modell vorzugehen. So zeigen die Recherchen des Fernsehteams in Zossen, dass bisher offensichtlich keine Prüfung des Finanzamts vor Ort stattgefunden hat. Weil ansonsten wohl der Kommune und dem Land Steuereinnahmen verloren gehen würden. Auf Nachfrage von Panorama sieht das Bundesfinanzministerium keinen Handlungsbedarf, denn Kommunen könnten mit Gewerbesteuer Standortnachteile ausgleichen. Ein Steuerrechtsexperte erklärte dagegen gegenüber dem TV-Magazin, dass die Vorspiegelung einer Betriebsstätte, die es tatsächlich nicht gibt, in den Bereich der Steuerhinterziehung führt.

Quellen:

Annette Kammerer/Caroline Walter: „Steueroasen in Deutschland: Scheinbüros fürs Finanzamt“, ARD-Magazin „Panorama“ vom 20. Mai 2021

https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2021/Panorama-vom-20-Mai-2021,panorama11584.html

Bernd Müller: „Im Offshoreparadies“, junge Welt vom 25. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/402963.spekulantenparadies-brd-im-offshoreparadies.html

 

Die Krisengewinner und ihr Geld

Dass die Covid-19-Pandemie von einer ungewöhnlich heftigen Wirtschaftskrise flankiert wird, deren Höhepunkt noch längst nicht erreich ist, pfeifen mittlerweile sämtliche Spatzen von den Dächern. Und bekanntlich gibt es in jeder Krise Gewinner und Verlierer.

Das in den USA ansässige Wirtschaftsmagazin Forbes erstellt regelmäßig Listen der reichsten Menschen der Welt. Mit knapp 190 Milliarden US-Dollar reichster Mensch ist nach der aktuellen Liste derzeit wieder Jeff Bezos, Gründer und Inhaber des Internetkonzerns Amazon. Wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Politik, wegen Lohndumpings und miserabler Arbeitsbedingungen in seinen Unternehmen steht Bezos seit Jahren heftig in der Kritik. Im Verlauf der Krise konnte er sein Vermögen deutlich vergrößern, allein seit Januar dieses Jahres um 10 Milliarden USA-Dollar.

Das nicht gerade als linkes Kampfblatt bekannte Manager Magazin hat kürzlich den Krisengewinnern einen Artikel gewidmet. Insgesamt hätten, schreibt die Zeitschrift, „die Vermögen in Milliardärskreisen rund um den Globus“ ungeachtet der Krise „tendenziell sogar noch zugelegt, und zwar enorm“. Zuletzt seien „weltweit insgesamt 2755 Milliardäre“ gezählt worden, „660 mehr als noch vor einem Jahr“. Das Gesamtvermögen dieser Superreichen belaufe sich „inzwischen auf 13,1 Billionen Dollar. Ein Jahr zuvor waren es noch acht Billionen Dollar.“

Was aber macht diese Kaste der Superreichen mit ihrem Geld? Wie die Zeitschrift meint, boome gegenwärtig der Markt für Luxus-Jachten. Was sogar eine Logik hat: Ist man als Milliardär doch auf hoher See erstens vor dem Virus geschützt und muss sich zweitens nicht mit lästigen Anti-Pandemie-Verordnungen staatlicher Behörden herumärgern. Die größte Jacht der Welt, so heißt es im Manager Magazin weiter, lasse jetzt ausgerechnet Jeff Bezos bauen, geschätzter Kostenpunkt 500 Millionen US-Dollar.

Quellen:

Imöhl, Sören: „Forbes-Liste: Die zehn reichsten Menschen der Welt“ vom 21.05.2021, abgerufen am 25.05.2021, 12.00 Uhr

https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/forbes-liste-die-zehn-reichsten-menschen-der-welt/ar-BB1gUrNu

„Superreiche im Yachten-Kaufrausch“, Manager Magazin vom 20.05.2021, abgerufen am 20.05.2021, 17.20 Uhr

https://www.manager-magazin.de/lifestyle/yachten-fuer-superreiche-jeff-bezos-und-co-im-kaufrausch-a-84d41891-5cc6-47c5-a540-7f1ab3b6c74c

Krisengewinnler: Neues von Amazon und Vonovia

Wie die aktuellen Quartalszahlen belegen, gehören zu den Gewinnern der Coronakrise Tech-Unternehmen und Wohnimmobilienkonzerne.

Vonovia als Klimaretter

Am 4. Mai 2021 stellte Deutschlands größter Wohnungskonzern Vonovia in Bochum seinen neuesten Quartalsbericht vor. Die junge Welt kommentierte diesen am Tag darauf:

„Gute Nachrichten für Aktionäre: Der Gesamtumsatz stieg im Vorjahresvergleich um fast 15 Prozent auf 1,15 Milliarden Euro. Kurzum: Der Konzern bleibt Krisengewinnler und kassiert weiter bei Mietern ab. Die politisch Verantwortlichen hierzulande haben bisher wenig unternommen, Mieterrechte zu stärken. Was soll da auch schiefgehen? Um den Profit bei Vonovia zu maximieren, braucht es wenig Talent, selbst schlechte Manager schaffen das. Oder wie es der Konzernchef Rolf Buch am Dienstag ausdrückte: Man verfüge über ein ‚stabiles, langweiliges Geschäftsmodell‘“.

Das Handelsblatt unterstreicht, dass Vonovia seine Bemühungen zum Klimaschutz vorantreiben würde. Im vergangenen Jahr habe der Konzern verkündet, bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand anzustreben. Dafür sollen unter anderem durchschnittlich rund drei Prozent des Bestandes pro Jahr energetisch saniert werden. Der Titel des Quartalsberichts lautet denn auch „Klimastrategie und soziale Verantwortung“.

Die junge Welt dazu:

„(..) ‚sozial‘ war Vonovia zuletzt nie: Mieterhöhungen, falsche Abrechnungen, Union Busting – das volle Programm. Auch der ‚Klimaschutz‘ ist pure Augenwischerei. Es geht darum, mit Modernisierungen Mieten zu erhöhen. Wenn diese als Klimaschutz ausgewiesen werden, können staatliche Fördertöpfe angezapft werden. Unterm Strich geht es um das Wohl der Aktionäre, nicht um Klima- oder Gerechtigkeitsfragen.“

Quellen:

Philipp Metzger: „„Wohnkonzern als PR-Abteilung“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401820.immobilienwirtschaft-wohnkonzern-als-pr-abteilung.html

Kerstin Leitel: „Vonovia startet mit Gewinnplus ins Jahr – Kein Ende des Booms am Immobilienmarkt in Sicht“, Handelsblatt vom 4. Mai 2021

https://www.handelsblatt.com/finanzen/immobilien/quartalszahlen-vonovia-startet-mit-gewinnplus-ins-jahr-kein-ende-des-booms-am-immobilienmarkt-in-sicht/27156590.html

 

Amazon – hohe Umsätze, keine Körperschaftssteuern

Auch im ersten Quartal 2021 profitierte der weltweit größte Versandhändler davon, dass die Konsumenten in der Corona-Pandemie so viel wie nie zuvor auf der Plattform des Versandhändlers einkaufen. Zwischen Januar und März konnte deshalb Amazon seinen Umsatz um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 108,5 Milliarden Dollar steigern. Der Gewinn kletterte in dieser Zeit auf 8,1 Milliarden Dollar – um mehr als das Doppelte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. (vgl. Handelsblatt vom 29. April 2021)

Inzwischen beschäftigt das Unternehmen weltweit etwa 1,3 Millionen Mitarbeiter*innen. Seine Personalpolitik steht dabei immer wieder in der Kritik. Die Gewerkschaft Verdi fordert etwa in Deutschland seit Jahren die Einführung eines Tarifvertrags – „Amazon hält dagegen und rechnet vor, mit Stundenlöhnen von mindestens 11,30 Euro und Zusatzleistungen ohnehin branchenüblich zu zahlen“ (Börsenblatt vom 30. April 2021).

Amazon erzielt also Rekordumsätze, zahlt aber an seinem europäischen Sitz in Luxemburg keine Körperschaftssteuer. Simon Zeise bemerkte dazu in der jungen Welt vom 5. Mai 2021 sarkastisch:

„In der EU hat der Onlineriese im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz in Höhe von 44 Milliarden Euro erzielt – und dafür am Firmensitz in Luxemburg nicht einen Cent Steuern abdrücken müssen. (…) Weil das arme Unternehmen 2020 einen Verlust in der Luxemburger Filiale von 1,2 Milliarden Euro ausgewiesen hat, stellt ihm das Herzogtum eine Steuergutschrift von 56 Millionen Euro zur Verfügung. Die kann Amazon verrechnen, wenn mal wieder bessere Zeiten kommen und auch in Luxemburg Profite erzielt werden.“

Diese Informationen beruhen auf einem Bericht der britischen Tageszeitung The Guardian. Danach betonte ein Sprecher von Amazon, dass der Konzern „alle verlangten Steuern in allen Ländern, in denen wir agieren“ bezahle. Die Körperschaftsteuer basiere nicht auf Umsätzen sondern auf Gewinnen, und die seien aufgrund großer Investitionen und niedriger Gewinnspannen im Einzelhandel gering ausgefallen.

Das Bundeskabinett beschloss übrigens Ende März den Entwurf eines sogenanntes „Steueroasen-Abwehrgesetz“. Dieses soll nicht kooperative Staaten dazu anhalten, gezielten Abwehrmaßnahmen gegen Steuervermeidung treffen und dadurch internationale Standards im Steuerbereich umzusetzen. Grundlage für das Gesetzesvorhaben ist die Schwarze Liste der EU zu Steueroasen. Auf eine entscheidende Schwachstelle weist ein Kommentar des Neuen Deutschland hin:

„Zwölf Länder stehen drauf, doch bis auf Panama ist keins davon eine relevante Steueroase. Stattdessen fehlen wichtige Standorte für Briefkastenfirmen und Schwarzgeld, etwa die britischen Überseegebiete. So wird das Gesetz kaum einen Steuersünder kratzen, weil er sein Geld nicht im falschen Land parkt. Schon gar nicht tauchen auf der Liste innereuropäische Steueroasen wie Luxemburg oder Irland auf. Solche Länder spielen aber eine entscheidende Rolle bei der Steuervermeidung durch große Konzerne. Sonderlich viel wird der Vorstoß von Scholz also nicht bringen, vielmehr wird er sich als sozialdemokratischer Papiertiger erweisen.“

Das Vermögen von Amazon-Gründer Jeff Bezos konnte derweil die Marke von 200 Milliarden Dollar knacken. Vor rund einem Jahr waren es noch etwa 140 Milliarden Dollar (Manager-Magazin vom 3. Mai 2021).

Quellen:

Simon Zeise: „Gewinneverschieber des Tages: Amazon“, junge Welt vom 5. Mai 2021

https://www.jungewelt.de/artikel/401834.gewinneverschieber-des-tages-amazon.html

Marie-Astrid Langer: „Amazon wächst dank Online-Shopping und Cloud-Computing“, Handelsblatt vom 29. April 2021 (Online)

https://www.handelsblatt.com/technik/it-internet/quartalszahlen-amazon-waechst-dank-online-shopping-und-cloud-computing-/27146416.html?ticket=ST-240727-aQrOQ7FDCp4kbAn7z0W0-ap6

„Corona sorgt für Rekorde bei Amazon“, Börsenblatt vom 30. April 2020 (Online)

https://www.boersenblatt.net/news/corona-sorgt-fuer-rekorde-bei-amazon-175381

„Milliardäre und Großverdiener: Das sind die (Tech-)Gewinner der Corona-Krise“, Manager-Magazin vom 3. Mai 2021 (Online)

https://www.manager-magazin.de/unternehmen/tech/jeff-bezos-colin-huang-ma-huateng-das-sind-die-tech-gewinner-der-corona-krise-a-7b24049b-b6e9-43c1-b676-49cc56366f77

Rupert Neate: „Amazon had sales income of €44bn in Europe in 2020 but paid no corporation tax“, The Guardian vom 4. Mai 2021 (Online)

https://www.theguardian.com/technology/2021/may/04/amazon-sales-income-europe-corporation-tax-luxembourg

Simon Poelchau: „Sozialdemokratischer Papiertiger“, Neues Deutschland vom 31. März 2021

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150305.steueroasen-sozialdemokratischer-papiertiger.html

Wie die Europäische Union extreme Ausbeutung organisiert

Politische Vertreter*innen in der EU pochen offiziell gerne und mit Nachdruck auf die Einhaltung der Menschenrechte für erwerbsarbeitende Menschen in anderen Regionen der Welt. Ausgeblendet wird dabei, dass Arbeitnehmer*innen auch innerhalb der EU millionenfach und weitgehend unterhalb der öffentlichen Aufmerksamkeitsschwelle in extremer Form ausgebeutet und gedemütigt werden.

Dieses „große Tabu“ bildet den Ausgangspunkt des bereits im Herbst 2020 erschienenen Buches „Imperium EU“ des Kölner Publizisten Werner Rügemer. Seine These lautet: Die Ausbeutung, Entrechtung, Verunsicherung und Verarmung abhängig Beschäftigter wird von den dominierenden Institutionen der EU zielgerichtet organisiert, zugleich von den herrschenden Medien „komplizenhaft“ verschwiegen und damit auch der politischen Rechtsentwicklung in Europa entscheidend Vorschub geleistet (Seite 31ff.). Genau dieser Zusammenhang, so der Autor, bleibt in der verbreiteten Kritik an der EU zumeist unberücksichtigt.

Im ersten Teil des Buches beschreibt Rügemer, wie rechtlich fixierte Arbeitsbedingungen und menschenrechtlich geforderte Normen nicht nur für Millionen von Wanderarbeiter*innen massenhaft straflos verletzt werden können – sowohl von den westeuropäischen Gründungsmitgliedern der EU als auch in den neuen EU-Staaten Osteuropas und des Balkans. Der Autor verfolgt die Ursprünge des Arbeitsunrechts bis in die Vorstufen der EU in den 1950er Jahren (Montanunion, EG, EWG) zurück. So wurden etwa nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der von den USA initiierten Montanunion grenzüberschreitend europäische Kohle- und Stahlkonzerne mit billigen Arbeitskräften versorgt. Die EU trieb dann auch in der Folgezeit die Prekarisierung der Erwerbsarbeit und deren Verrechtlichung Zug um Zug voran.

Rügemer analysiert weiter die wichtigsten verantwortlichen Institutionen, die „heutige Kapital-Bürokratie“ (Seite 111). Vor allem die Europäische Kommission mit ihren 32.000 Beamten steht im Zentrum seiner Kritik. Denn hier, und nicht im weitgehend ohnmächtigen EU-Parlament, laufen die politischen Fäden zusammen. Nicht umsonst lieben die „professionellen Heuchler der Unternehmerlobby, (…) die ansonsten überall gegen ‚zu viel Bürokratie‘ polemisieren und für ‚Bürokratieabbau‘ kämpfen“, (…) die größte Bürokratie in Europa herzinnigst!“ – wie Rügemer süffisant feststellt. (Seite 114)

Er geht im Folgenden auf die Vielzahl von unterschiedlichen Maßnahmen ein, die direkt und indirekt in die Arbeitsverhältnisse eingreifen, um sie im Sinne der Unternehmer zu gestalten. Als Instrumente führt Rügemer Privatisierungen und Subventionen (ohne jede Auflage für Arbeitsrechte) an, aber auch die EU-Richtlinien zur Gestaltung der Arbeitsverhältnisse und des Arbeitsrechts. Vor allem der „führende ArbeitsUnrechts-Staat in der EU“ (Seite 137), die Bundesrepublik Deutschland, sei führend darin, Richtlinien zu ignorieren. Wenn sich der Europäische Gerichtshof EuGH mit arbeitsrechtlichen Konflikten befasst, fallen die Urteile nur in seltenen Fällen zugunsten der abhängig Beschäftigten aus – und auch diese werden zumeist nicht umgesetzt. (Seite 154) Einen zentralen Grund dafür nennt der Autor: „Die EU übt keine Kontrolle auf dem Gebiet der Arbeitsrechte aus. Sie überlässt die Kontrolle den nationalen Arbeits- und Gewerbeaufsichten, wohl wissend und duldend, dass diese wie Zoll, Gewerbe- und Gesundheitsaufsicht in Deutschland personell unterbesetzt sind.“ (Seite 140)

Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Autor in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Kämpfe von Betroffenen in den einzelnen Mitglieds-, Anwärter- und assoziierten Staaten der EU (unter anderem in Großbritannien, Deutschland, den Benelux-Staaten, dem Baltikum, Kroatien, Ungarn, Skandinavien, der Schweiz und Nordmazedonien). Estland, Lettland und Litauen gelten zum Beispiel als die im neoliberalen Sinne am meisten umgekrempelte Region in der EU (Seite 275ff.). Alle drei Länder befinden sich, so Rügemer, im Griff der USA und der NATO. Sie dienen als digitale Zulieferer für ausländische Investoren, zugleich florieren dort Geldwäsche und Schattenwirtschaft. Litauen bezeichnet der Autor als eine steuerbefreite Sonderwirtschaftszone, in der Unternehmer willkürlich herrschen können, da es dort praktisch keine Branchentarifverträge gibt. Als positiven Lichtblick verweist Rügemer auf Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst der drei baltischen Staaten, insbesondere bei Lehrer*innen, Ärzt*innen und Beschäftigten der Kindergärten.

In einer Besprechung des Buches in der sozialistischen Wochenzeitung UZ (Unsere Zeit) vom Dezember 2020 kritisiert der Jurist und Autor Rolf Geffken, dass Rügemers zentraler Begriff des Arbeitsunrechts „merkwürdig unklar und wenig erhellend“ sei und die Leserschaft am Ende ratlos zurückließe. [1] Er bezieht sich dabei auf verschnörkelt wirkende Formulierungen wie etwa: „EU – das bedeutet weltweit verrechtlichtes und auch außerrechtliches ArbeitsUnrecht“ (Seite 132). In seinem Buch misst Rügemer das von ihm so bezeichnete „ArbeitsUnrecht“ aber tatsächlich an der Umsetzung der universellen Menschenrechte der UNO sowie der Kriterien, die von der International Labor Organisation (ILO) vorgegeben werden. In einem früheren Text bezieht der Autor allerdings als Maßstab für Recht und Unrecht auch das geltende materielle Arbeitsrecht mit ein. [2] Insofern ist die Kritik nachvollziehbar.

Die von Geffken bemängelte fehlende scharfe Kontur des Begriffs liegt aber offensichtlich darin begründet, dass die Unterscheidung von legalen, kriminellen und lediglich moralisch zu verurteilenden Handlungen in der Arbeitswirklichkeit in der Praxis oftmals nur schwer möglich ist. Dazu ein weiteres Zitat von Rügemer:

„Kein Bereich des Rechts in der EU kennt ein solches verrechtliches Unrecht und ein solches Vollzugsdefizit und eine solche Grau- und Dunkelzone der systemischen Illegalität – außer vielleicht beim sexuellen Missbrauch in der für ein solches Unrechtssystem systemrelevanten katholischen Kirche.“ (Seite 32)

Diese von den Instanzen der EU absichtsvoll komplex und unübersichtlich konstruierte rechtliche Regulierung der abhängigen Arbeit ermöglicht es letztlich Politik und Kapital, menschenunwürdige Niedriglohnarbeit weitgehend reibungslos zu organisieren.

Rügemer hat mit seinem „Imperium EU“ ein beeindruckendes, detailliert recherchiertes Handbuch zum Klassencharakter der EU vorgelegt. Dabei handelt es sich ausdrücklich nicht um ein nüchtern verfasstes juristisches Lehrbuch – vielmehr beschreibt der Autor kämpferisch und oft polemisch zugespitzt die „Lage der arbeitenden Klasse in der EU“ und motiviert damit nicht zuletzt zum widerständigen Handeln gegen die vielfältigen Mechanismen des „ArbeitsUnrechts“ mitten in Europa.

 

Anmerkungen:

[1] Rolf Geffken: „Zerstörung des Normalen. Der Kampf ums Arbeitsrecht ist Klassenkampf“, UZ vom 24. Dezember 2020

https://www.unsere-zeit.de/trashed-6-139756/

[2] Werner Rügemer: „Unternehmer als straflose Rechtsbrecher“, BIG Business Crime Nr. 4/2017, Seite 28

Werner Rügemer: Imperium EU: ArbeitsUnrecht, Krise, Neue Gegenwehr. Köln 2020, PapyRossa, 319 Seiten, 19,90 Euro