Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur Bürgerbewegung

Anne Brorhilker, Kölner Oberstaatsanwältin und erfolgreichste Cum-Ex-Aufklärerin in Deutschland, möchte Ende Mai 2024 den Staatsdienst verlassen, um als Geschäftsführerin bei der „Bürgerbewegung Finanzwende“ aktiv zu werden. In einem Interview mit dem WDR begründete sie am 22. April ihre Entscheidung. Wegen der schwach aufgestellten Justiz sieht sie größte Defizite bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität in Deutschland: Der Förderalismus führe etwa zu einer Zersplitterung der Zuständigkeiten, so dass eine Bündelung von Ermittlungen nicht möglich sei. Auch fehle eine europäische Koordination sowie Personal, um sich auf Augenhöhe mit den Kriminellen und ihren Anwälten bewegen zu können. Deshalb verliere die Allgemeinheit das Vertrauen in den Rechtsstaat (z. B. weil sich Verdächtige oft mit Deals aus den Verfahren herauskaufen würden). Es sei ungerecht, wenn Steuerhinterzieher in Deutschland deutlich besser wegkämen als Sozialhilfebetrüger, ganz nach dem Motto: „Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen“.

Die 50 Jahre alte Juristin engagiert sich seit 2013 gegen die Cum-Ex-Geschäfte und erwirkte 2019 das erste rechtskräftige Urteil. Zurzeit ermitteln nach Auskunft der Staatsanwaltschaft Köln über 30 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ihrer Abteilung gegen etwa 1.700 Beschuldigte in 135 Verfahrenskomplexen (vgl. Handelsblatt vom 22. April).

 

Auszüge aus Pressekommentaren

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024:

„Der 22. April 2024 war ein schwarzer Tag für den deutschen Rechtsstaat. Die Cum-Ex-Chefermittlerin Anne Brorhilker bat um ihre Entlassung. Der Abschied der Oberstaatsanwältin nährt erneut die Zweifel am politischen Willen zur Aufklärung dieses größten deutschen Steuerskandals. (…)

Vertreter aller Parteien beklagen mit scharfen Worten die Mängel der Aufklärung, wenn die politische Verantwortung gerade nicht in den eigenen Reihen liegt. Ihr Gedächtnis ist kurz.

In Nordrhein-Westfalen war es Thomas Kutschaty von der SPD, der sich als NRW-Justizminister bis 2017 praktisch gar nicht für die Arbeit von Brorhilker interessierte. Später nannte Kutschaty die schleppende Aufklärung ‚skandalös‘.

Sein Nachfolger Biesenbach von der CDU sagte einmal, er habe vor seinem Antritt kaum gewusst, was Cum-Ex eigentlich ist. Zwei Jahre gingen ins Land. Immerhin: Als Biesenbach den Milliardenskandal 2019 bemerkte, gewährte er Brorhilker mehr Stellen.

Der amtierende NRW-Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) versuchte dann 2023, das Cum-Ex-Rad wieder zurückzudrehen. Er unterstellte Brorhilker organisatorische Mängel, wollte die Hälfte ihrer Ermittlerstellen einem Mann ohne Vorwissen beim Thema Cum-Ex anvertrauen. Nur ein öffentlicher Aufschrei verhinderte das Schlimmste.

Wer in dieser Aufzählung die FDP vermisst, kann sich an Wolfgang Kubicki wenden. Auch der Anwalt und Finanzexperte der Liberalen sah 2013 einen Aufklärungsskandal, als er einen politischen Gegner betraf. Nur Monate später hatte Kubicki einen neuen Mandanten: Hanno Berger, den größten aller deutschen Steuerräuber. Mit einem Mal hielt Kubicki Cum-Ex öffentlich für eine ‚Gesetzeslücke‘. (…)

Warum ist der Staat so zögerlich? Warum wird nicht ein Heer von Steuerfahndern und spezialisierten Staatsanwälten gebildet? Es kann nicht an den Kosten liegen. Diese Art von Beamten finanziert ihre Stellen selbst und zehn andere dazu.

Der Abgang Brorhilkers offenbart auch ein politisches Problem. Deutsche Staatsanwaltschaften sind weisungsgebunden. Besonders forsche Ermittler können jederzeit aus dem Justizministerium zurückgepfiffen werden. Manche vermuten genau dieses Phänomen beim Cum-Ex-Fall von Bundeskanzler Olaf Scholz rund um die Hamburger Privatbank M.M. Warburg.

Der Europäische Gerichtshof hat seine Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland schon 2019 verschriftlicht. Das höchste EU-Gericht urteilte, deutsche Staatsanwaltschaften dürften keine Europäischen Haftbefehle mehr ausstellen. Grund sei, dass es ‚keine hinreichende Gewähr für eine Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive‘ gebe.

Diese Durchlässigkeit der Gewaltenteilung ist untragbar. Schon der Anschein, dass ein Minister Einfluss auf die Arbeit einer Staatsanwaltschaft nimmt, ist schädlich. Vielleicht kann das Dienstende von Anne Brorhilker wenigstens dies bewirken: Das ministerielle Weisungsrecht gehört abgeschafft.“

 

Die Zeit vom 25. April 2024:

„Man kann nur hoffen, dass die beim Thema Cum-Ex oft mindestens tollpatschig agierende Politik ihr gut zuhört. Denn die große Frage hinter ihrem Rückzug lautet: Ist die deutsche Justiz strukturell überhaupt in der Lage, ein Jahrhundert-Wirtschaftsverbrechen wie Cum-Ex aufzuklären, bei dem weit mehr als tausend Täter sich hemmungslos vom Staat viele Milliarden an Steuern zurückerstatten ließen, die sie zuvor nie gezahlt hatten? Anne Brorhilker hält das nicht nur für eine Frage der Gerechtigkeit. Sondern auch für eine Frage des Selbstrespekts einer Demokratie. Für diese Ziele will sie weiter kämpfen.“

 

Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024:

„Anne Brorhilker hat sich für die große Bühne entschieden, um ihren Abgang zu verkünden: Deutschlands wichtigste Cum-ex-Ermittlerin hat dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) ein 17-minütiges Interview gegeben, in dem sie erläutert, warum sie nicht länger als Staatsanwältin wirken mag.

Und in dem sie den Staat für dessen angeblich stümperhaften Umgang mit Finanzkriminalität abwatscht. Entsprechend groß ist die mediale Erregung, seitdem der WDR das Interview am Montagmittag veröffentlicht hat. Bloß: Brorhilkers Kritik ist zwar richtig, ihr Auftritt aber dennoch selbstgerecht. Die Vorzeige-Staatsanwältin aus Köln hätte sich die Watsche besser gespart – und stattdessen über ihre eigenen Fehlentscheidungen räsonieren sollen, die zur schleppenden Aufklärung des Cum-ex-Deals beigetragen haben. Die Republik hätte daraus eine Menge lernen können: für künftige Mega-Verfahren im Wirtschaftsstrafrecht. Dabei hat sich Brorhilker unstreitig bundesverdienstkreuzwürdige Verdienste in der Causa erworben. (…)

Zur Wahrheit gehört aber auch: Wenn Brorhilker nicht wiederholt Fehler begangen hätte, wären die Ermittlungen heute womöglich weiter. (…)

Nach immer neuen Aufstockungen durch die nordrhein-westfälische Landespolitik aber verfügt ihre Abteilung inzwischen über 40 Stellen – gemessen an den Maßstäben einer Staatsanwaltschaft ist das luxuriös. Schließlich leiten Staatsanwälte die Ermittlungen bloß, während Polizisten, Spezialisten von Landeskriminalämtern und Steuerfahnder die Detailarbeit erledigen. Zwar sind manche der 40 Stellen bis heute unbesetzt, aber das hat Brorhilker auch selbst zu verantworten.

Ihr Führungsstil, den Insider als beinahe autoritär beschreiben, soll wiederholt erfahrene Staatsanwälte vergrätzt haben, die ihre Ermittlungsautonomie verletzt sahen, ist auf den Fluren der Kölner Staatsanwaltschaft zu hören. Mit der Folge, dass in Brorhilkers Abteilung immer wieder Berufsanfänger angeheuert haben sollen, die sich Top-Anwälten entgegenstellen müssen. Und mit der Konsequenz, dass Brorhilker zur Alleinherrscherin über die Ermittlungen geworden sein soll, die sich dadurch verzögert haben sollen. Mitunter soll auch Brorhilkers Organisation der Ermittlungen chaotisch angemutet haben, berichten Beteiligte. (…)

Zudem fächerte Brorhilker die Ermittlungen immer weiter auf, ließ die Zahl der Verdächtigen auf 1700 anschwellen – selbst für 40 Staatsanwälte eine schier wahnsinnige Aufgabenfülle. Brorhilker selbst gab sich in dem WDR-Interview zwar überzeugt, die Verdächtigen-Zahl müsse derart hoch liegen. Sie sei verpflichtet, Verfahren einzuleiten, wenn es einen Verdacht gebe.

Das stimmt auch. Aber natürlich haben Staatsanwaltschaften einen Spielraum dabei, ob sie einen sogenannten Anfangsverdacht erkennen, der Ermittlungen notwendig macht. Diesen Spielraum hätte Brorhilker besser nutzen müssen.

Auch hätte die Juristin Verfahren gegen Geldzahlungen einstellen müssen. Sie hält das für unfair, weil sie nicht will, dass Steuersünder davonkommen, die den Staat um viele Millionen geprellt haben. Und natürlich müssen die Drahtzieher der Cum-ex-Deals vor Gericht gestellt werden, das ist klar. Aber Einstellungen von Verfahren gegen Mitläufer, von denen manche die Details der hochkomplexen Börsengeschäfte weder verstanden noch gewusst haben dürften, hätten Brorhilker die Chance gegeben, sich auf die Haupttäter zu fokussieren.“

 

Der Stern (Online) vom 23. April 2024:

„Der Wechsel einer der prominentesten Staatsanwältinnen, deren Namen seit Jahren eng mit der Aufklärung des größten Steuerskandals der Republik verbunden ist, direkt an die Spitze einer NGO ist ein spektakulärer Schritt. Dass Ermittler in großen Wirtschaftsfällen im Laufe der Zeit abgezogen werden oder innerhalb des Justizapparats den Posten wechseln, kommt durchaus vor. (…)

Aber dass eine Oberstaatsanwältin nach elf Jahren Ermittlungsarbeit in einem Fall wie Cum Ex, in dem es um den größten Steuerraub in der deutschen Geschichte und um politische Verwicklungen bis hin zum heutigen Bundeskanzler geht, nicht erst um Versetzung bittet, sondern gleich den Staatsdienst verlässt, hat es wohl so noch nicht gegeben. (…)

Auch im Fall Cum Ex, das macht sie in dem WDR-Interview deutlich, vermisst Brorhilker den Rückhalt aus der Politik. Sie habe gemerkt, wie ‚schwer es ist, Unterstützung für die Cum-Ex-Ermittlungen zu bekommen‘, sagt sie – obwohl allen klar sei, dass das Thema angesichts des Milliardenschadens sehr wichtig sei. (…)

Als einen Grund dafür führt sie die Zersplitterung der Zuständigkeiten in der Justiz durch den Föderalismus an – wohl eine Andeutung dafür, dass sich Kollegen in den Justizbehörden anderer Länder eher bemühten, die Ermittlungen ihres Kölner Teams zu bremsen, als diese zu unterstützen. Etwa die in Hamburg, wo die Privatbank Warburg tief in die illegalen Cum-Ex-Deals verstrickt war, sich aber auf das Wohlwollen des Senats unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz verlassen konnte.

Die Konsequenzen der Tatsache, dass Staatsanwaltschaften in Deutschland der Politik unterstellt sind, musste Brorhilker zuletzt aber auch daheim in NRW feststellen. Im September 2023 sorgte Landesjustizminister Benjamin Limbach (Grüne) mit einem geplanten Eingriff bei der Kölner Staatsanwaltschaft für Schlagzeilen. Chefermittlerin Brorhilker sollte einen Kollegen an die Seite gestellt bekommen – angeblich, um die Ermittlungen gegen die bundesweit rund 1800 Beschuldigten zu beschleunigen. Doch von vielen wurden Limbachs Pläne als Entmachtung der Cum-Ex-Jägerin und politische Sabotage ihrer Ermittlungen interpretiert – durchaus auch von Brorhilker selbst.

(…)

Schon 2020 war die Ermittlerin einmal von Vorgesetzten zurückgepfiffen worden, als sie im politisch besonders brisanten Fall der Warburg Bank eine Razzia in Hamburg plante.

Was Brorhilkers Kündigung so bemerkenswert macht, ist, dass sie offenbar überzeugt ist, an der Spitze einer NGO jetzt mehr für den Kampf gegen Finanzkriminalität bewirken zu können als in ihrer Ermittlerrolle. (…)

Es könnte sein, dass Deutschlands mächtigste Staatsanwältin außer Dienst bald nicht nur in der Öffentlichkeit bisherigen Kolleginnen und Kollegen auf die Füße tritt, wenn diese aus ihrer Sicht zu rücksichtsvoll mit Finanzkriminellen umgehen – sondern sich auch mit den Bremsern in der Politik anlegt.“

 

Taz (Online) vom 23. April 2024:

„2023 konterte Brorhilker den Versuch des grünen NRW-Justizministers Benjamin Limbach, der ihre Abteilung teilen und eine Anzahl Verfahren in andere Hände legen wollte. Limbachs Motiv bestand wohl auch darin, die Ermittlungen zu beschleunigen. Brorhilker wehrte sich erfolgreich, Limbach ließ seinen Plan fallen und stockte die Stellen der Staatsanwaltschaft auf.

Vielleicht spürte Brorhilker trotzdem einen Mangel an langfristiger Unterstützung. Jetzt wechselt sie die Ebene der Auseinandersetzung. Im Einklang mit Gerhard Schick betonte sie, sich politisch, öffentlich und mit Kampagnen für die Stärkung des Rechtsstaates einsetzen zu wollen. Ein Ziel könnte darin bestehen, dass irgendwann eine Bundesanwaltschaft gegen Finanzkriminalität gegründet wird – ähnlich dem Generalbundesanwalt, der sich unter anderem um Terrorismus kümmert.“

 

Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024:

„Es ist ein vernichtendes Urteil für Justiz und Politik: Die oberste Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker wechselt zur NGO Finanzwende – dort könne sie mehr ausrichten denn als Oberstaatsanwältin. Im Interview mit WDR-Investigativ betont Brorhilker zwar, die Kölner Staatsanwaltschaft sei auf dem richtigen Weg und gut aufgestellt, um die Cum-Ex-Ermittlungen weiter voranzutreiben. Ihr Frust über deren Ablauf blieb dennoch unverhohlen. Brorhilker sei ‚mit Leib und Seele‘ Staatsanwältin gewesen. Sie sei aber nicht damit zufrieden, wie Finanzkriminalität in Deutschland verfolgt wird. ‚Die Kleinen fängt man, die Großen lässt man laufen. Das ist einfach ungerecht‘, stellte sie fest. Damit kommt Brorhilker dem Vorwurf der Klassenjustiz wohl so nah, wie sie es in ihrer jetzigen Position kann. Auch die Beeinflussung der Politik durch die Finanzbranche sei systemisch, führte sie weiter aus. (…)

Jetzt will die Staatsanwältin die Justiz besser für den Kampf gegen Finanzkriminalität rüsten, die Finanzlobby zurückdrängen und für Gerechtigkeit vor Gericht sorgen. Das scheint sie sich als Geschäftsführung einer zivilgesellschaftlichen Organisation eher zuzutrauen.“

 

Die Welt vom 24. April 2024:

„Dass eine Beamtin nach Jahrzehnten im Staatsdienst ihren Abschied einreicht, ist an sich schon ein ungewöhnlicher Vorgang. Dass der Westdeutsche Rundfunk ihr zu diesem Anlass ein ausführliches Interview einräumt, ist ein Signal fast schon zeitgeschichtlicher Relevanz. Anne Brorhilker nutzt diesen Anlass noch einmal für eine Art letzter Abrechnung. (…)

Nur ein Bruchteil der Verfahren ist bisher zur Anklage gekommen, die meisten von ihnen drehen sich um die Vorkommnisse bei der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. (…)

Die von Brorhilker nun wieder beklagten fehlenden Ressourcen dürften nur eine Ursache dafür sein. In der Justiz hieß es schon vor Monaten, dass es auch interne Gründe dafür gebe, dass es nicht so richtig vorangehe.  Brorhilker werde nicht nur ausgebremst , sondern bremse mit ihrer Detailversessenheit womöglich auch selbst. Überlegungen, wenigstens relevante Fälle zügig abzuarbeiten und womöglich in größerem Stil gegen Geldbußen einzustellen, soll sie wenig zugeneigt gewesen sein.“  

 

Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024:

„Bei der 50-jährigen Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker müssen Ärger und Enttäuschung riesengroß gewesen sein. (…)

Jetzt wechselt sie zur Bürgerbewegung Finanzwende. Ihre Begründung ist eine Ohrfeige für die deutsche Politik: ‚Ich war immer mit Leib und Seele Staatsanwältin, aber ich bin überhaupt nicht zufrieden damit, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt wird.‘ Bundesregierungen aller Couleur haben Deutschland in den vergangenen 20 Jahren zu einem Geldumschlagplatz für Kriminelle und Demokratiegegner verkommen lassen. Mafiabanden, Menschenhändler und Drogenkartelle erwirtschaften kriminelle Vermögen, deren Herkunft, Aufbewahrung und Einsatz im internationalen, westlich dominierten Finanzsystem verschleiert werden.  (…)

Es ist vieles falsch gelaufen bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität. Das hat auch bei anderen Beamten, die kriminelle Vermögen und verdächtige Zahlungsströme jagen wollten und dabei politisch ausgebremst wurden, zu Frustration und Enttäuschung geführt. Es gibt viele ‚Brorhilkers‘ in Deutschland. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang als Oberstaatsanwältin zeigt: Es braucht mehr Druck auf Politiker. Was zu tun ist, steht in mit Erfahrungen aus dem Ausland angereicherten Berichten der Fachleute. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat sie alle vorliegen, seit über zwei Jahren.“

 

Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024:

„Anne Brorhilker hat auch nicht die Seiten gewechselt, sie geht also nicht in eine Steuergroßkanzlei, um dort das große Geld, das x-Fache des Gehalts zu verdienen, das sie als Oberstaatsanwältin verdient hat. Sie wird nun Co-Geschäftsführerin eines Vereins namens ‚Finanzwende‘ (…); sie will ihre bisherige juristische Arbeit in diesem Verein politisch weiterführen. (…)

Der Verein, der gegen solche Räubereien anrennt, versteht sich als zivilgesellschaftliches  und überparteiliches Gegengewicht zur Finanzlobby; er will das tun, was die Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag versprochen hat, aber partout nicht tut: ‚Deutschland wird‘, so heißt es da, ‚beim Kampf gegen Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung eine Vorreiterrolle einnehmen.‘ Anne Brorhilker hat erlebt und erfahren, wie das in der Realität aussieht. (…)

Es geht im Fall Brorhilker  nicht einfach um interne Rangeleien, nicht nur um Animositäten innerhalb und außerhalb von Justiz, Justizverwaltung und der sie dirigierenden Politik. Es geht um viel mehr, nämlich um Grundfragen der Gerechtigkeit. (…)

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verkündet die Wirtschaftswende und versteht darunter unter anderem scharfe Kürzungen des Bürgergelds bei Verfehlungen arbeitsloser Menschen; er fordert ein Moratorium, also einen Stopp bei den Sozialleistungen. Bei den sogenannten kleinen Leuten muss sich da das Gefühl aufdrängen, dass zwar bei ihnen sehr genau hingeschaut und abgerechnet wird – bei den Geldreichen aber nicht. Die Kündigung der Cum-Ex-Ermittlerin legt da den Finger in diese Wunde, in einen bösen Riss zwischen denen da oben und denen da unten. Sie provoziert die Frage, ob es bei uns gerecht zugeht. Es ist dies eine neuralgische Frage für die Demokratie.“

 

Quellen:

Exklusiv-Interview: Cum-Ex Chefermittlerin spricht über ihre Kündigung, WDR vom 22. April 2024

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTFiNDIzNDg5LTdjYjUtNGVkZS05ZGQ2LTg0OGI2ODdiMjA4Ng

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Cum-Ex-Chefermittlerin Brorhilker hat gekündigt“, Handelsblatt (Online) vom 22. April 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/steueraffaere-cum-ex-chefermittlerin-brorhilker-hat-gekuendigt/100034223.html

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die Zermürbungstaktik der Täter geht auf“,

Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024

https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html

Marc Widmann: „Die Anklägerin“, Die Zeit vom 25. April 2024

Lukas Zdrzalek: „Die Cum-ex-Starermittlerin wählt den Heldinnen-Notausgang“, Wirtschaftswoche (Online) vom 22. April 2024

https://www.wiwo.de/my/unternehmen/dienstleister/anne-brorhilker-die-cum-ex-starermittlerin-waehlt-den-heldinnen-notausgang-/29766800.html

Thomas Steinmann: „So fädelte die Cum-Ex-Jägerin ihren Wechsel zu einer NGO ein“, Stern (Online) vom 23. April 2024 (Der Artikel ist eine Übernahme  des Wirtschaftsmagazins Capital. Stern und Capital gehören zu RTL Deutschland)

https://www.stern.de/wirtschaft/anne-brorhilker–das-macht-die-cum-ex-jaegerin-jetzt-34653970.html

Hannes Koch: „Die Banklägerin“, taz (Online) vom 23. April 2024

https://taz.de/Cum-Ex-Staatsanwaeltin-Brorhilker/!6003474&s

Sarah Yolanda Koss: „Cum-Ex-Ermittlerin Anne Brorhilker: Frau Gleichheit“, Neues Deutschland (Online) vom 23. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181701.personalie-cum-ex-ermittlerin-anne-brorhilker-frau-gleichheit.html?

Cornelius Welp: „Abschied und Abrechnung“, Die Welt vom 24. April 2024

Markus Zydra: „Gefahr für die Demokratie“, Süddeutsche Zeitung vom 23. April 2024

Heribert Prantl: „Frustriert“, Süddeutsche Zeitung vom 26. April 2024

Vgl. auch BIG-Artikel vom 19. Juli 2022: „Systematische Ungerechtigkeit – Steuerhinterziehung und ‚Sozialbetrug‘ im Vergleich“

https://big.businesscrime.de/artikel/systematische-ungerechtigkeit-steuerhinterziehung-und-sozialbetrug-im-vergleich/

 

Anstieg der illegalen Gewinne aus Zwangsarbeit

Nach einer im März dieses Jahres herausgegebenen Studie der International Labour Organization (ILO) erzielt die Privatwirtschaft durch Zwangsarbeit jährlich 236 Milliarden US-Dollar an illegalen Gewinnen. Dies sei ein dramatischer Anstieg um 37 Prozent seit dem Jahr 2014 – „angetrieben sowohl durch eine wachsende Zahl von Menschen, die zur Zwangsarbeit gezwungen wurden, als auch durch höhere Gewinne erzielt durch die Ausbeutung der Opfer“. (Pressemitteilung vom 19. März)

Wie es in der genannten Pressemitteilung weiter heißt, sind die jährlichen illegalen Profite pro Opfer in Europa und Zentralasien am höchsten, gefolgt von den Arabischen Staaten, Nord- und Südamerika, Afrika sowie Asien und dem Pazifik.

Zwangsarbeit ist in fast allen Bereichen der Wirtschaft zu finden. Mehr als zwei Drittel der gesamten illegalen Gewinne entfallen auf die kommerzielle sexuelle Zwangsausbeutung, obwohl sie nur 27 Prozent der Gesamtzahl der Opfer von privater Zwangsarbeit ausmacht. Über die Dunkelziffer ist naturgemäß nichts bekannt:

„Nach der kommerziellen sexuellen Zwangsausbeutung ist die Industrie mit 35 Milliarden US-Dollar der Sektor mit den höchsten jährlichen illegalen Gewinnen aus Zwangsarbeit, gefolgt vom Dienstleistungssektor (20,8 Milliarden US-Dollar), Landwirtschaft (5,0 Milliarden US-Dollar) und Hausarbeit (2,6 Milliarden US-Dollar). Bei diesen illegalen Gewinnen handelt es sich um die Löhne, die rechtmäßig in die Taschen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gehören, stattdessen aber bei den Ausbeutern verbleiben.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Als Zwangsarbeit definiert die ILO „jede Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung einer Strafe verlangt wird und für die sich diese Person nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“ (junge Welt). Im Jahr 2021 waren danach an  jedem Tag 27,6 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffen.

Die ILO-Studie stellt flüchtende Menschen als besonders gefährdet heraus, da sie häufig kommerziellen Fluchthelfern ausgeliefert sind und ihre Schulden durch Zwangsarbeit zurückzahlen müssen (vgl. Studie, Seite 19ff.).

Die junge Welt ergänzt: 

„Schuldenknechtschaft kann (..) praktisch überall dort entstehen, wo der Ausbeuter finanziell in Vorleistung tritt. Sei es, dass er die Reisekosten und die Gebühren für das Visum bezahlt oder korrupte Beamte bestochen hat. Oft müssen Arbeiter auch für ihre Ausrüstung oder Arbeitskleidung selbst aufkommen und nehmen dafür einen Kredit auf. Ist die Arbeit informell, was laut ILO beispielsweise auf 80 Prozent der Hausangestellten zutrifft, sind zu geringe Löhne und unbezahlte Überstunden üblich. ‚Das Fehlen formeller Verträge bedeutet weniger Lohntransparenz und eine größere Anfälligkeit für Lohnmissbrauch‘, stellen die Studienmacher fest. Ähnliches gelte auch für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft.“

Die Studie äußert sich auch zu notwendigen Gegenmaßnahmen:

„In dem Bericht wird die dringende Notwendigkeit betont, in Vollstreckungsmaßnahmen zu investieren, um illegale Gewinnströme einzudämmen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Er empfiehlt die Stärkung des Rechtsrahmens, die Schulung von Vollzugsbeamten, die Ausweitung der Arbeitsaufsicht auf Hochrisikosektoren und eine bessere Koordinierung zwischen arbeitsrechtlicher und strafrechtlicher Verfolgung.“ (Pressemitteilung vom 19. März 2024)

Quellen:

„Profits and Poverty. The economics of forced labour“, hrsg. von International Labour Office (ILO), März 2024

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—ed_norm/—ipec/documents/publication/wcms_918034.pdf

„Jährliche Gewinne aus Zwangsarbeit steigen um 236 Milliarden US-Dollar nach Daten der ILO“, Pressemitteilung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) vom 19. März 2024

https://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_920156/lang–de/index.htm

Gerrit Hoekman. „Das Joch der Jobs“, junge Welt vom 21. März 2024

https://www.jungewelt.de/artikel/471841.mehrwertproduktion-das-joch-der-jobs.html?

 

Staatlicher Handel mit Einbürgerungen

Im Herbst 2023 legte die Politikwissenschaftlerin Kristin Surak von der London School of Economics eine umfangreiche Studie über das staatliche Geschäft mit Einbürgerungen bzw. den sogenannten Goldenen Pässen vor (engl. Citizenship by investment, CBI). In einer Buchrezension schreibt dazu Claus Leggewie:

„Surak ist nicht die Erste, die sich mit gekauften Pässen befasst, aber sie hat das Phänomen empirisch untersucht, die Motive der Antragsteller wie der Aufnahmestaaten sortiert und die sukzessive Normalisierung des Bürgerschaft-Marktes belegt. Man wird fast erschlagen von ihrer Detailkenntnis, die jedoch in eine gut lesbare Erzählung eingebaut ist. Ihr Blickwinkel ist dabei ökonomisch: Was bedeutet es, wenn Staaten ihre Souveränität vermarkten und finanzialisieren und so durch ‚citizenship by investment‘ im Aufenthaltsrecht verankern, was in der globalen Wirtschaft ohnehin gang und gäbe ist?“

Im Folgenden einige Feststellungen Suraks aus ihrem Buch:

– In mindestens 22 Länder der Erde gab es im Jahr 2022 eine gesetzliche Grundlage für die Einbürgerung von Personen, die einen bestimmten Betrag in dem jeweiligen Land investieren.

– Bisher waren CBI-Programme vor allem in kleinen Inselstaaten üblich, für die Finanzspritzen aus dem Ausland relevant waren. Als Extremfall nennt Surak den Kleinstaat Nauru, der heute die Hälfte seiner Staatseinnahmen mittels Aufnahme von Asylbewerbern erwirtschaftet – welche von Australien zurückgewiesen wurden. Mittlerweile beteiligen sich aber auch Länder wie vor allem Russland und Ägypten am Handel mit ihrer Staatsbürgerschaft.

– Jedes Jahr werden allerdings nur etwa 50.000 Menschen per CBI-Programm eingebürgert. Bei den Käufern handelt es sich vor allem um Neureiche aus Ländern außerhalb des Globalen Nordens (China, Südostasien, postsowjetische Staaten sowie Naher Osten).

„Zwar bewerben sich auch einige Menschen aus wohlhabenden Demokratien im Globalen Norden, darunter immer mehr US-Bürgerinnen und -Bürger. Wirklich befeuert wird die Nachfrage jedoch von einer kleinen Gruppe wohlhabender Menschen aus Ländern mit als ‚schlecht‘ angesehenen Pässen, beispielsweise aus autoritär regierten Staaten. Es sind nicht-westliche Gewinner der Globalisierung (…) Für die Regierungen, die goldene Pässe ausgeben, sind diese globalen Eliten das Zielpublikum für gekaufte Staatsbürgerschaften.“ (Surak)

– Für Surak ist eine globalisierte Welt nicht verknüpft mit dem Entstehen einer „Weltbürgerschaft“. „Stattdessen“, so die Autorin, „spaltet die Nationalität. Sie beeinflusst, wohin wir reisen können, wie wir behandelt werden und welche Rechte wir haben – nicht nur zu Hause, sondern überall auf der Welt. Für einige bietet sie zahlreiche Chancen und Privilegien, für andere bringt sie Sanktionen und Einschränkungen mit sich.“

Auch Claus Leggewie bezieht sich auf diesen Gedanken in seiner Rezension:

„Eine Überwindung nationaler Grenzen in Richtung eines transnationalen Weltbürgertums kann man sich von dieser Flexibilisierung der Staatsbürgerschaft nicht erhoffen. Sie verwischt eher die alten Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Es ist erstaunlich, wie die lotterieartige Banalisierung von Staatsangehörigkeit mit dem Verdacht kontrastiert, der doppelten Staatsangehörigkeiten eingebürgerter Migranten oft noch entgegengebracht wird. Ihnen verlangt man mehr Loyalität und affektive Zuwendung zur neuen Heimat ab, als angestammte Bürger jemals aufbringen müssen. Die oligarchische Distribution erblicher Aufenthaltstitel beseitigt die generelle Wirksamkeit nationalstaatlicher Grenzen und Gesetze natürlich nicht, sie verschärft vielmehr die inner- und zwischengesellschaftliche Ungleichheit.“

Quellen:

Kristin Surak: „Der globale Reisepass ist die neueste Boom-Branche für Superreiche“, in: Jacobin, 7. Oktober 2023, Übersetzung von Tim Steins. Auszug aus Kristin Suraks Buch: The Golden Passport:

Global Mobility for Millionaires. Harvard University Press, Cambridge, 2023

https://jacobin.de/artikel/pass-passport-staatsbuergerschaft-reisen-freiheit-handel-superreiche

Klaus Leggewie: „Käufliche Pässe: Wie Superreiche neue Staatsangehörigkeiten erwerben“, FAZ (Online) vom 26. März 2014

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/kristin-suraks-buch-the-golden-passport-19541117.html