Anfang 2022 erschien im Berlin-Verlag das Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz“ von Ronen Steinke. Mit der offenbar für viele Menschen provokanten Feststellung, dass in deutschen Gerichtssälen von der vielbeschworenen Gleichheit vor dem Gesetz nicht die Rede sein könne, avancierte es schnell zum Bestseller. Verfahren wegen wirtschaftskrimineller Delikte in Millionenhöhe würden oftmals eingestellt oder endeten mit minimalen Strafen. Arme Menschen, die schwarzfahren oder einen kleinen Ladendiebstahl begehen, müssten sich hingegen auf harte Strafen einstellen. Wenn sie dann die auferlegten Geldstrafen nicht bezahlen können, erwarten sie Ersatzfreiheitsstrafen. [1]

Besonders die Ersatzfreiheitsstrafe wird seit einigen Jahren verschärft kritisiert – selbst im Unterhaltungssektor, wie eine Ausgabe der satirischen TV-Sendung „ZDF Magazin Royale“ vom Dezember des letzten Jahres belegt. [2] Aber auch im kritischen Rechtsdiskurs wird diese Form der Bestrafung von Armutskriminalität zunehmend hinterfragt. Besonders die Kombination der Ersatzfreiheitsstrafe mit dem Strafbefehlsverfahren gilt vielen als brisant oder schlicht „obszön“ (Ronen Steinke). Gerichte entscheiden dabei ohne Hauptverhandlung im Rahmen eines vereinfachten, rein schriftlichen Verfahrens, das vor allem die Staatsanwaltschaften und Gerichte entlasten soll. [3]

In einem taz-Gespräch erläuterte Autor Ronen Steinke an einem weiteren Beispiel, warum er die deutsche Justiz als „neue Klassenjustiz“ auffasst. So kämen Steuerhinterzieher bei derselben Schadenssumme im Vergleich zu Hartz-4-Betrügern deutlich milder davon. Sowohl bei Steuerbetrug als auch bei Hartz-4-Betrug sei zwar der Staat als Opfer betroffen, denn die Allgemeinheit würde in beiden Fällen geschädigt. Aber die Diskrepanz bei der Strafzumessung sei auffällig. [4]

Wissenschaftlich unterfüttert wird diese – nicht unbedingt überraschende Erkenntnis – von dem Hamburger Rechtsprofessor Guy Beaucamp. In einer vergleichenden Analyse kommt auch er zum Ergebnis, dass die Rechtsordnung Steuerhinterziehung deutlich nachsichtiger behandelt als sogenannten Sozialbetrug. [5] Die Straftat Steuerhinterziehung wird in § 370 AO (Abgabenordnung) geregelt, das betrügerische Erschleichen von Sozialleistungen vom allgemeinen Betrugstatbestand des § 263 StGB erfasst. Der Strafrahmen für beide Delikte ist mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe identisch.

Es bestehen allerdings gravierende Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung der Steuerhinterziehung und dem Sozialbetrug. Das Steuerstraf- und ordnungswidrigkeitenrecht bietet laut Beaucamp ein „raffiniertes System von Vergünstigungen“ (Seite 449), das keine Entsprechung im Bereich des Sozialbetruges findet. Zeigen sich beispielsweise Steuerhinterziehende nach § 371 AO selbst an, werden sie als reuige Steuerpflichtige nicht mehr strafrechtlich verfolgt, sofern sie die „unrichtigen Angaben berichtigen“ und die hinterzogenen Beträge nachzahlen. § 263 StBG sieht dagegen keine Möglichkeit für eine derartige entlastende Selbstanzeige vor.

Daneben wird der für beide Delikte gleiche Strafrahmen unterschiedlich genutzt:
„Für die Steuerhinterziehung hat das BGH im Jahr 2008 eine grobe (…) Marschroute in drei Schritten vorgegeben. Geldstrafen sollen in der Regel nur bis zu einer Schadenshöhe von 100.000 € verhängt werden; bei höheren Hinterziehungsbeträgen soll es dann zu Bewährungsfreiheitsstrafen kommen, wenn die Schadenshöhe 1.000.000 € übersteigt, sollten regelmäßig Freiheitsstrafen ohne Bewährung verhängt werden. Für den Sozialbetrug gelten solche Leitlinien nicht.“ (Seite 451)

In diesem Bereich werden Taten mit viel geringeren Schadensbeträgen mit wesentlich härteren Strafen geahndet. Beaucamp führt anhand typischer Entscheidungen mehrere Beispiele an: Bereits ein Schaden von etwa 3.000 Euro kann zu einer dreimonatigen Freiheitstrafe auf Bewährung führen, bei einem Schaden von etwa 3.200 Euro kam es in einem Fall zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Landgericht Osnabrück verurteilte im November 2020 zwei Angeklagte zu jeweils drei Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe, weil sie die Sozialbehörde innerhalb von mehr als vier Jahren um 84.000 Euro betrogen hatten (vgl. Seite 451f.).

Die Unterschiede bei der Bemessung der Strafen in den beiden Bereichen lassen sich kontrastieren mit den Schadenssummen, die Sozialbetrug und Steuerhinterziehung jeweils bewirken. „Pro Jahr“, heißt es bei Beaucamp, „verursacht der Sozialbetrug im Bereich des SGB II geschätzte Schäden von durchschnittlich 57 Millionen €. Dieser Schaden verteilt sich auf rund 130.000 Einzelfälle, so dass pro Schadensfall ein durchschnittlicher Betrag von rund 440 € zu viel ausgezahlt wird. Steuerhinterziehung verursacht für den deutschen Staat nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft einen jährlichen Schaden von 50 Milliarden €.“ (Seite 451)

Dass Steuerhinterziehung im Vergleich zum Sozialbetrug um ein vielfaches höhere Schadenssummen verursacht, liegt laut Autor zum einen daran, dass es wesentlich mehr Steuerzahler gibt als Sozialleistungsempfänger. Viele Menschen mit Leistungsansprüchen stellten zudem aus Unkenntnis oder Scham keine Anträge. Zum anderen sei der Betrag, um den man den Staat betrügen könne, bei Leistungsbeziehenden von vornherein beschränkt. In Fällen der Steuerhinterziehung sei das anders. Dort gäbe es keine „natürliche“ Schadensobergrenze (Beispiel Cum-Ex-Deals). Zudem entwickelten viele Steuerberater, Anwälte und Banken für ihre wohlhabenden Kunden kreative Steuergestaltungen, die bisweilen auch die Grenzen des Erlaubten überschreiten würden. Für Steuerhinterziehung im größeren Stil gebe es auch international Angebote, „oder anders ausgedrückt, zwar gibt es Steuer- aber keine Sozialbetrugsoasen“. (Seite 451)

Anmerkungen:

[1] Vgl. auch Anne Seeck: „Wer nicht zahlen kann, muss in Haft“, 19. April 2022
http://big.businesscrime.de/category/rezensionen/ 

[2] „Ja, wer ohne Fahrschein mit Bus oder Bahn fährt, begeht eine Straftat und wird mit aller Härte des Gesetzes bestraft. Denn kein Ticket bedeutet Geldstrafe, kein Geld für Geldstrafe bedeutet noch mehr Geldstrafe und immer noch kein Geld für mehr Geldstrafe bedeutet KNAST! Und da sitzt man dann im Jahr 2021 wegen eines Scheißgesetzes der Nazis von 1935.“ (Ankündigung der Sendung in der ZDF-Mediathek: https://www.zdf.de/comedy/zdf-magazin-royale/zdf-magazin-royale-vom-3-dezember-2021-100.html) 

[3] Vgl. Elena Blessing/Natalia Loyola Daiqui: „Ohne Anhörung ins Gefängnis“, 24. Januar 2022
https://verfassungsblog.de/ohne-anhorung-ins-gefangnis/ 

Vorschläge für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe, die eine Reform des Verfahrens der Geldstrafe voraussetzt, finden sich hier:
Frank Wilde: „Mehr soziale Gerechtigkeit im Strafrecht wagen“, 29. Juni 2022
https://verfassungsblog.de/soziale-gerechtigkeit-wagen/ 

[4] „Gleich, gleicher, Rechtsstaat?“ taz-Talk vom 17. März 2022 mit Ronen Steinke, moderiert von Ulrike Winkelmann.
https://taz.de/Ronen-Steinke-ueber-Klassenjustiz/!5824272/# 

[5] Guy Beaucamp: „Sozialbetrug und Steuerhinterziehung – zwei Welten?“, in: JuristenZeitung (JZ) 9/2022, Seite 446-454