„Remigration“: Polizeieinsatz beendet „Lesung“ von Martin Sellner

Die Tour von Martin Sellner war groß beworben: In mehreren bundesdeutschen Städten wollte er aus seinen Büchern vorlesen. Für Baden-Württemberg hatte er sich als zentralen Ort Pforzheim ausgesucht. Über die Gründe dieser Orientierung können wir nur spekulieren. Ein Zusammenhang mit der Stärke der „Rechten“ ist wahrscheinlich. Bei der Gemeinderatswahl zog die AfD als stärkste Fraktion in das neugewählte Gremium der Stadt Pforzheim ein.

Wer ist Martin Sellner?

In einer Presseveröffentlichung von BIG Business Crime (April 2024) heißt es über ihn:

Martin Sellner gehört zu den ständigen Autoren der Zeitschrift „Sezession“, die vom Institut für Staatspolitik, dem neurechten Thinktank Götz Kubitscheks … herausgegeben wird. Von 2015 bis 2023 war er Sprecher der Idenditären Bewegung in Österreich. Ende November 2023 trug er bei dem von der investigativen Plattform Correctiv aufgedeckten Treffen von AfD-M itgliedern und anderen Rechten in einer Potsdamer Villa einen Masterplan zur „Remigration“ von Flüchtlingen und „nicht assimilierbaren“ Eingewandertern vor. Dazu hat er inzwischen auch ein weiteres Buch im selben Verlag wie das hier rezensierte* vorgelegt.

(*Anmerkung des Verfassers: „Regime-Change von Rechts – eine strategische Skizze“)

Sellner hat eine tiefbraune Vergangenheit, die z.B. zu einem Einreiseverbot in Großbritannien führte. In „Wikipedia“ ist zu lesen (abgerufen am 28.08.2024):

Einreiseverbote

Im Jahr 2018 verweigerten ihm britische Behörden mehrfach die Einreise nach Großbritannien und verwiesen ihn des Landes; im Juni 2019 verhängte das britische Innenministerium schließlich zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ein unbefristetes Einreiseverbot gegen Sellner. Nachdem Sellner eine Spende des Christchurch-Attentäters Brenton Tarrent angenommen hatte, verhängten die Verienigten Staaten im März 2019 ein Einreiseverbot gegen ihn und entzogen ihm sein Langzeitvisum. Im März 2024 erhielt Sellner nach einem Entscheid der Stadt Potsdam ein Einreiseverbot nach Deutschland. Der Entscheid erging unter Verweis auf § 6 Abs. 1 FreizügG/EU „aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“. Dem Einreiseverbot vorausgegangen waren deutschlandweite Proteste gegen Rechtsextremismus, die sich auf einen in Potsdam gehaltenen Vortrag Sellners zur Remigration bezogen. Infolge eines Eilantrag Sellners gegen dieses Einreiseverbot wurde dessen Vollzug von der Stadt Potsdam im April 2024 ausgesetzt. Das Verwaltungsgericht Potsdam gab dem Eilantrag Ende Mai 2024 mit aufschiebender Wirkung statt; das Einreiseverbot darf somit vorerst nicht vollzogen werden. Laut Gericht erfüllte die Begründung der Stadt Potsdam für das Verbot nicht die „tatbestandlichen Voraussetzungen“ für einen solchen schwerwiegenden Eingriff. Die Verfügung sei nach der im Eilverfahren möglichen Prüfung erwiesen rechtswidrig.

Die Initiative gegen Rechts mobilisierte gegen die für den 3. August im Raum Pforzheim angekündigte Lesung mit einem breiten Bündnis gegen diese Lesung, ohne den genauen Ort dieser Lesung zu kennen. Vor dem Rathaus in Pforzheim wurden kurzfristig am Samstagabend 150 Menschen mobilisiert (laut Polizeiangaben 70). OB Peter Boch und Bürgermeister Dirk Büscher nahmen als Privatpersonen an dieser Kundgebung teil. Es stellte sich heraus, dass Sellner seine Lesung in Neulingen-Göbrichen (Enzkreis) halten wollte. Der dortige Bürgermeister erließ gegen die Lesung in einer renommierten Gaststätte eine Polizeiverfügung, aufgrund derer die Polizei den Veranstaltungsraum räumen ließ.

Quelle: Antifa Nachrichten Nr. 4/2024, Magazin der VVN-BdA Landesvereinigung Baden-Württemberg

Cum-Ex/Cum-Cum: Neues Gesetz lässt Steuerkriminelle jubeln

„Die Aufarbeitung steht noch ganz am Anfang – und könnte dennoch schon bald enden.“ Die Befürchtung des Handelsblatts zielt auf die geplante Verkürzung von Aufbewahrungspflichten von steuerlich relevanten Unterlagen von zehn auf acht Jahre. Die bevorstehende Änderung ist Teil des am 26. September im Bundestag beschlossenen „Vierten Bürokratieentlastungsgesetzes“, das laut Webseite des Bundesjustizministeriums „die Wirtschaft, die Bürgerinnen und Bürger und die Verwaltung von überflüssiger Bürokratie“ entlasten soll.

Die Belege sind aber wichtige Beweismittel bei Verfahren zu Cum-Ex- und Cum-Cum-Aktiengeschäften. Die ehemalige Staatsanwältin und jetzige Geschäftsführerin der NGO Finanzwende, Anne Brorhilker, warnt davor, dass auf Basis des Gesetzes viele der Täter ungeschoren davonkämen und Milliarden an Steuergeldern unwiderruflich verloren seien: „Sobald das Gesetz in Kraft ist, werfen die ihre Schredder an.” (Finanzwende)

Der Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte wird nach Expertenmeinung gewöhnlich auf zehn Milliarden Euro geschätzt, die Steuerausfälle für den deutschen Staat durch Cum-Cum-Deals auf über 28 Milliarden. Diese Zahl, betont Brorhilker, sei vermutlich noch zu niedrig gegriffen. Denn gerade bei Cum-Cum sei bisher nur die Spitze des Eisbergs bekannt – „und den Rest werden wir mit diesem Gesetz vielleicht nie kennenlernen“. (Finanzwende) Zurückgefordert hat der Fiskus bislang nur wenige Hundert Millionen Euro.

Dass die Aufbewahrungsfristen kürzer seien als die Verjährungsfristen, hält Brorhilker ohnehin für unsinnig. Diese Fristen nun noch zu verkürzen, für vollkommen absurd.

Tagesschau.de schreibt:

„Das Pikante: Erst vor wenigen Jahren hatte der Bund die Verjährungsfristen für besonders schwere Steuerhinterziehung noch von zehn auf 15 Jahre angehoben. Mit der Regelung sollte Ermittlern die nötige Zeit verschafft werden, die hochkomplexe Verfolgung der Steuerstraftäter aufzunehmen.

Florian Köbler, Vorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, sieht durch den Gesetzesentwurf auch die Gefahr, dass das Vertrauen in die Steuergerechtigkeit untergraben wird. Die Gewerkschaft vertritt die Interessen von Finanzbeamten und Steuerfahndern. ‚Der Gesetzgeber öffnet Straftätern Tür und Tor. Er verspielt leichtfertig die Mittel des Rechtsstaats. Ohne Not und ohne Sinn. Ein Geschenk an Kriminelle‘, sagt Köbler.“

Die Bundesregierung möchte die Wirtschaft mit der Gesetzesnovelle mit rund 944 Millionen Euro jährlich entlasten. Den Großteil, 626 Millionen Euro, soll dabei die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege und Rechnungen ausmachen. Das Einsparpotential ergibt sich nach Auffassung der Bundesregierung vor allem aus geringen Mietkosten für Lagerräume, in denen die Unterlagen aufbewahrt werden (vgl. Süddeutsche Zeitung). Florian Köbler von der Deutschen Steuergewerkschaft (DSTG) glaubt dagegen nicht an die Einsparung. „Das Gros der Wirtschaftsunternehmen habe der DSTG bestätigt, dass sie ihre Belege bereits digital aufbewahren würde. Und das koste vergleichsweise wenig: Bei einem Unternehmen mit digitaler Aufbewahrung werde die Einsparung im Gesetz auf zwölf Euro im Jahr berechnet, so die DSTG. Dies stehe in keinem Verhältnis zum potenziellen Schaden.“ (Süddeutsche Zeitung)

Finanzwende hat im Internet eine Petition gestartet und vor dem Berliner Reichstag gegen das Gesetz protestiert. Im Bundesrat soll das Gesetz Mitte Oktober die letzte Hürde nehmen, bevor es in Kraft treten kann.

Quellen:

Massimo Bognani: „Ein Geschenk an Kriminelle“, tagesschau.de vom 19. September 2024

https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/buerokratieentlastungsgesetz-100.html

„Neues Gesetz für Bürokratie-Entlastung gefährdet Aufklärung von CumCum-Delikten“, Pressemitteilung  von Finanzwende e.V. vom 20. September 2024

https://www.finanzwende.de/presse/neues-gesetz-fuer-buerokratie-entlastung-gefaehrdet-aufklaerung-von-cumcum-delikten

Volker Votsmeier: „Neues Gesetz könnte Milliarden-Rückforderungen gefährden“, Handelsblatt (Online) vom 20. September 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex/cum-cum-geschaefte-neues-gesetz-koennte-milliarden-rueckforderungen-gefaehrden/100070984.html

Markus Zydra: „‚Es ist ein Geschenk an Kriminelle‘“‚ Süddeutsche Zeitung vom 24. September 2024

 

 

 

Der Weltdrogenatlas – Produktion, Handel, Konsum

Diese Veröffentlichung ist für alle interessant, die sich einen aktuellen Überblick über die weltweite Drogensituation verschaffen möchten. Unter anderem geht es um folgende Themen:

Afghanistan: Die Mohnbauern und die Taliban. Seit der Machtübernahme der Taliban in 2021 ist der Anbau von Mohn verboten, was zu einer Reduktion um 95 Prozent und einem Verlust von schätzungsweise 1,3 Mrd USD, ungefähr 8 Prozent des BIP, führte (S. 14 ff.).

Europa: Dem Konsum von MDMA auf der Spur in 88 Städten Europas und der Türkei (S. 48 ff.)

Wie und warum im Steuerparadies Dubai Geldwäsche mit Immobilientransaktionen durchgeführt werden konnten (S. 62 ff.).

Ukraine: Können mit Ketamin die Kriegstraumata ausgelöscht werden? (S. 56 ff) Es stellen sich ethische Fragen bei der Behandlung der SoldatInnen mit dieser psychoaktiven Droge. Zudem wird über die Legalisierung des Konsums von Psilocybine und MDMA im Rahmen einer medizinischen Behandlung diskutiert.

USA: Das tödliche Fentanyl. Beim Treffen mit US-Präsident Biden in San Francisco im November 2023 hat der Staatspräsident der Volksrepublik China Xi Jinping Maßnahmen zur Bekämpfung des Problems versprochen. Allerdings haben diese Maßnahmen dazu geführt, dass die chemischen Vorprodukte nun aus Indien kommen, wie die US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA konstatierte (S. 4 ff.).

Der Courrier international erscheint wöchentlich als Presseschau von über 900 weltweit publizierten Zeitungen, Zeitschriften und Magazinen. Sein Hauptsitz ist in Paris. Herausgegeben wird die Zeitschrift von einer Verlegergruppe um die Tageszeitung Le Monde und die Gruppe Express-Expansion, die zu Vivendi gehört. Die Zeitschrift wurde im November 1990 von vier Parisern entwickelt und hat eine verkaufte Auflage von gut 180.000 (siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Courrier international).

Courrier international, Hors-Série: Weltdrogenatlas. Produktion, Handel, Konsum. Mit Karten und Infographiken. Paris, August-September 2024, 74 Seiten, 8.90 Euro.

Zu bestellen über: https://boutiquevpc.courrierinternational.com/hors-series/3239-atlas-des-drogues.html

Norbert Neumann ist ehemaliger Deutschlandkorrespondent der Ende der 1990er Jahre aufgelösten Nichtregierungsorganisation Observatoire géopolitique des drogues (OGD) in Paris. OGD hat 1993 in Deutschland den Welt-Drogen-Bericht veröffentlicht, die erste nicht-staatliche Publikation zur weltweiten Drogensituation (dtv sachbuch, Dezember 1993). Zudem veröffentlichte OGD 1996 den ersten Weltdrogenatlas (Paris : Presses universitaires de France 1996).

Serco und das Geschäft mit dem Elend Geflüchteter

Aktuelle Recherchen von Süddeutscher Zeitung und dem ARD-Magazin Monitor zeigen einmal mehr: Die Privatisierung von Betreuungsleistungen für geflüchtete Menschen stellt einen Anschlag auf die Menschenwürde der Betroffenen dar. Das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) hatte die Verträge für drei Unterkünfte mit der Firma ORS („Organisation für Regie- und Spezialaufträge“, Sitz in Zürich) kurzfristig und außerordentlich zu Ende März 2024 gekündigt. Der Grund lag offenbar in einem Todesfall, der sich in einer von ORS betriebenen Einrichtung in Berlin-Steglitz ereignet hatte. Die Leiche eines 24-jährigen aus Guinea stammenden Mannes war wochenlang unentdeckt geblieben und erst im November des letzten Jahres aufgefunden worden. Monitor berichtete, dass die Unterbringungskosten für den Mann sogar noch abgerechnet worden seien, als dieser bereits verstorben war. Niemandem war sein Tod aufgefallen – auch den ORS-Mitarbeitern nicht. Dieser Fall wirft nicht nur ein Schlaglicht auf das Geschäftsmodell des Betreibers der Unterkunft, sondern auch auf die skandalösen Folgen, die sich unvermeidlich ergeben, wenn Staaten die Betreuung und Versorgung von Geflüchteten an private Anbieter auslagern, geflüchtete Menschen also zur reinen Profitquelle werden.

Auch wenn staatliche bzw. gemeinnützige Einrichtungen nicht per se einen humanen Umgang mit Geflüchteten garantieren können (und wollen) – für private Firmen gibt es schlicht keine Anreize, Geld für soziale Leistungen auszugeben. So legt nach Aussage von ORS der Betreibervertrag lediglich fest, dass ORS zwar eine Unterkunft, aber keine Betreuung anbieten muss. Die Berliner Stadtmission, zuvor Betreiber der Unterkunft, hatte dagegen in das soziale Zusammenleben der Menschen investiert (Betreuung von Kindern und traumatisierten Bewohnern durch qualifizierte Sozialarbeiter, Freizeitangebote, Hilfe bei Behördengängen usw.).

Gemessen an dem Bedarf an sozialer Arbeit galt der Standort unter der Leitung von ORS denn auch als personell unterbesetzt. Offenbar, so die SZ, setzte ORS an mehreren Unterkünften in Deutschland so wenig Personal ein, dass die staatlichen Auftraggeber wegen nicht erfüllter Vertragspflichten hohe Summen von den vereinbarten Zahlungen abzogen. Allein die Städte Karlsruhe und Tübingen verhängten demnach insgesamt 35 Vertragsstrafen wegen nicht erfüllter Personalschlüssel. Die Mitarbeiter des Betreibers beklagten sich zudem über die für sie selbst geltenden prekären Bedingungen (Löhne unter Tarif, befristete Verträge).

ORS ist eine Tochtergesellschaft der börsennotierten britischen Serco Group, die nach eigenen Angaben weltweit über fünf Milliarden Euro Umsatz macht: als Dienstleister für Militär und Grenzschutzbehörden, für das Bildungs- und Verkehrswesen, aber eben auch als Betreiber von Gefängnissen und Flüchtlingsunterkünften. In über 20 Ländern aktiv hat sich Serco laut einer australischen Menschenrechtsanwältin zu einem „Schlüsselakteur in der globalen Flüchtlingsindustrie“ (SZ) entwickelt. Vor allem in Australien zählen die Regelungen für Einwanderer und Flüchtlinge zu den weltweit härtesten. Das Land ist berüchtigt für die „Immigration Detention Centres“, jenen Haftanstalten, in denen Asylsuchende und andere Menschen ohne Visa festgehalten werden. Hier in „Down Under“ ist die Kritik an Serco denn auch besonders laut. Für einen ehemaligen Insassen einer von Serco geführten Haftanstalt für Einwanderer ähneln die Einrichtungen einem Hochsicherheitsgefängnis: „Hohe Zäune, Toiletten aus Stahl und festgeschraubte Möbel. Insassen dürften ihnen zugeteilte Bereiche nur zu bestimmten Zeiten verlassen, um auf dem weiteren Gelände zu spazieren. Wer auffällt, könne übergangsweise in videoüberwachte Einzelzellen verlegt werden. Kritiker sprechen von Isolationshaft“. (SZ)

Die zunehmende Bedeutung Sercos wird auch am Beispiel Großbritanniens deutlich. Hier ist der Konzern einer der größten privaten Dienstleister für die öffentliche Hand und hat viele outgesourcte Aufgaben übernommen. Darum gäbe es Leute, so ein britischer Politikwissenschaftler, die meinten, dass Serco heimlich das Land regiere (vgl. SZ).

Seit Ende des letzten Jahres gehört auch der größte deutsche private Betreiber von Flüchtlingsunterkünften, European Homecare (EHC) aus Essen, zum Konzern. Mit nun rund 130 Unterkünften ist Serco damit der wichtigste private Anbieter in Deutschland und verantwortlich für die Unterbringung von etwa 55.000 Geflüchteten. Nach Angaben von SZ und Monitor vergibt Berlin bis Ende 2024 Aufträge ausschließlich an die kostengünstigsten Anbieter, so dass mit einem weiteren Anstieg des Marktanteils von Serco in Deutschland in diesem Sektor zu rechnen ist – zum Nachteil der Geflüchteten und der Mitarbeitenden.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Elif Eralp, hält Serco deshalb für ein skrupelloses Unternehmen, „das Sprengköpfe fertigt und Waffen in die ganze Welt verschickt“ (Neues Deutschland). Es könne nicht sein, so Eralp gegenüber der Zeitung, dass ein Rüstungskonzern mit dem Betrieb von Unterkünften für Geflüchtete Geld verdiene, während seine Waffen in ebenjenen Konflikten eingesetzt würden, die Menschen zu Flucht zwängen.

Die Zustände in den privat geleiteten Unterkünften zeigen, wie es um die Bereitschaft der Gesellschaft und des Staates bestellt ist, Flüchtende aufzunehmen und human unterzubringen – oder sie davon abzuschrecken, überhaupt in Erwägung zu ziehen, nach Deutschland kommen zu wollen. Den Tod des jungen Mannes aus Guinea als „bitteres Resultat eines systematischen Versagens“ zu bezeichnen, wie in der Anmoderation des Monitor-Beitrags zu hören, trifft deshalb das Problem nicht. Zuzustimmen ist dagegen Osman Oğuz vom Sächsischen Flüchtlingsrat, der Anfang des Jahres gegenüber der Leipziger Zeitung feststellte:

„Was in diesem weit verzweigten Geschäft ‚gemanagt‘ und mit dem Ziel billigster Effizienz umgesetzt wird, entspricht vielen faschistischen Träumen von Internierung, Vertreibung und Ausbeutung. Ganz im Sinne des Zeitgeistes: nach der Logik eines neoliberalen, transnationalen Unternehmens.“

Quellen:

Yaro Allisat: „Milliardengewinne mit Migration und Krieg: Serco übernimmt Geflüchteten-Unterkünfte auch in Leipzig“, Leipziger Zeitung (Online) vom 16. Februar 2024

https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2024/02/milliardengewinne-mit-migration-und-krieg-serco-gefluchteten-unterkunfte-leipzig-577388

Kristiana Ludwig/Till Uebelacker/Lina Verschwele: „Die Firma für Rüstung und Soziales“, Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2024

Uta Schleiermacher: „Geschäfte mit dem Krieg“, taz (Online) vom 10. Juli 2024

https://taz.de/Fluechtlingsunterkuenfte-in-Berlin/!6019625/

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Zweifelhafter Profit mit Flüchtlingen“, tagesschau.de vom 29. August 2024

https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/fluechtlinge-unterbringung-unternehmen-100.html

Till Uebelacker/Andreas Maus: „Unterversorgt: Geschäfte mit Flüchtlingsunterkünften“, Monitor (ARD) vom 29. August 2024

https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/unterversorgt-geschaefte-mit-fluechtlingsunterkuenften-102.html

Patrick Volknant: „Rüstungskonzern profitiert von Geflüchtetenunterkünften in Berlin“, Neues Deutschland (Online) vom 18. April 2024

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181591.asylpolitik-ruestungskonzern-profitiert-von-gefluechtetenunterkuenften-in-berlin.html

 

 

 

Justizaffäre um die ehemalige Staatsanwältin Brorhilker

Die beiden Investigativ-Journalisten Sönke Iwersen und Volker Votsmeier beschreiben in einem ausführlichen Artikel des Handelsblatts, wie der Chef der Staatsanwaltschaft Köln sowie der Justizminister in NRW versuchen, das Ansehen der ehemaligen Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker, die zwischen 2013 und Mai 2024 im Justizskandal um Cum-Ex ermittelte, systematisch zu beschädigen. Brorhilker hatte im April 2024 um die Entlassung aus ihrem Dienstverhältnis gebeten. Als Grund führte sie in einem viel beachteten Interview mit dem WDR an, sie sei überhaupt nicht damit zufrieden, wie in Deutschland Finanzkriminalität verfolgt werde.

Zitat Handelsblatt:

„Sie war die Staatsanwältin, die Steuerhinterzieher aus der Finanzindustrie am meisten fürchteten. Dann bat Anne Brorhilker plötzlich um ihre Entlassung. Nun tritt ihr Vorgesetzter nach. Eine Justizaffäre nimmt ihren Lauf. (…) Deutschlands bekannteste Staatsanwältin in Sachen Steuerhinterziehung war nach Einschätzung ihres Vorgesetzten offenbar eine ziemliche Niete. ‚Inhaltlich unzulänglich‘, nennt Stephan Neuheuser, Chef der Staatsanwaltschaft Köln, die Arbeit von Anne Brorhilker. Ihre Berichtsentwürfe seien ‚regelmäßig deutlich überarbeitungsbedürftig‘ gewesen. Schon Neuheusers Vorgänger habe mit Brorhilker sprechen müssen, weil sie ihr ‚obliegende zentrale Pflichten nicht erfüllte‘.

Neuheusers Worte stammen aus einer Antwort von Benjamin Limbach auf eine Anfrage an die nordrhein-westfälische Landesregierung. Die FDP-Fraktion legte dem NRW-Justizminister von den Grünen am 23. November 2023 einen 25-seitigen Fragenkatalog vor. Hintergrund war ‚das beherrschende rechtspolitische Thema in Nordrhein-Westfalen‘, schrieben die Abgeordneten Henning Höne, Marcel Hafke und Werner Pfeil: die Aufarbeitung der Steueraffäre Cum-Ex, in der Brorhilker federführend ermittelte.“

Der Staatsanwältin wurde schon zuvor das Leben schwer gemacht. Justizminister Benjamin Limbach (Bündnis 90/Die Grünen) hatte im September 2023 angekündigt, Brorhilkers Abteilung aufzuspalten. Die Hälfte ihrer Fälle sollte sie an einen Kollegen abgeben, dem allerdings die Expertise in Steuerstrafsachen fehlte. Nach öffentlichen Protesten revidierte der Minister seine Entscheidung.

Zitat Handelsblatt:

„Die Abgeordneten fragten nun, wie Limbach überhaupt auf die Idee kommen konnte, seine eigene Koryphäe in Sachen Cum-Ex zu demontieren. Denn alles schien doch auf bestem Weg. Brorhilker hatte Steueranwalt Hanno Berger hinter Gitter gebracht, einen der größten Strippenzieher in der Cum-Ex-Affäre. Mit seiner Revision scheiterte Berger vor dem Bundesgerichtshof. Auch gegen mehrere Manager der Privatbank M.M. Warburg hatte Brorhilker Schuldsprüche erreicht.

Aktuell lief der Prozess gegen den Eigentümer Christian Olearius, dessen Nähe zum heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz den Cum-Ex-Skandal bis ins Kanzleramt trug. Im Frühjahr 2024 folgten in Bonn weitere Schuldsprüche. Das Gericht verurteilte zwei Londoner Investmentbanker zu mehrjährigen Haftstrafen. Außerdem traf es Yasin Qureshi, geständiger Ex-Vorstand der Varengold Bank.“

Die Zahlen, führt das Handelsblatt aus, würden für sich sprechen. „Allein mit den Erkenntnissen aus ihren Ermittlungen und den Informationen der Whistleblower konnten Staatsanwaltschaft Köln und Steuerbehörden 2016 schon Steuern in dreistelliger Millionenhöhe zurückholen und weitere Auszahlungen durch das Bundeszentralamt für Steuern unterbinden. Brorhilkers Cum-Ex-Projekt ist keine Belastung für die Behörden. Es ist ein Profit-Center.“

Während der Ermittlungen Brorhilkers klagte die Staatsanwaltschaft Köln 16 Männer und eine Frau an. Alle Angeklagten wurden verurteilt, teils zu hohen Haftstrafen. „Kein Ermittler hat eine bessere oder auch nur vergleichbare Bilanz“, resümiert das Handelsblatt. Der frühere SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans nannte Brorhilker gar einen „Leuchtturm in der Bekämpfung organisierter Steuerkriminalität“. Auch international wurde die Arbeit der Staatsanwältin bewundernd zur Kenntnis genommen. Andere Kenner ihrer Arbeit werten ihre nachträgliche Demontage schlicht als Unverschämtheit. Das sei üble Nachrede, eine Schmutzkampagne, sagte etwa der ehemalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach (CDU). Stefan Weismann, Präsident des Landgerichts Bonn, bestätigte, dass Brorhilker eine Top-Ermittlerin gewesen sei und ihre Arbeit in der Sache hervorragend. Sven Wolf (SPD), Mitglied des Rechtsausschusses im NRW-Landtag, hält den Abgang Brorhilkers für ein „ganz schlechtes Signal“, denn sie habe diese Behörde „zur Speerspitze im Kampf gegen Steuerkriminelle“ gemacht.

Erstaunlich erscheint deshalb, dass die Antworten des Justizministeriums auf die Anfrage der FDP im NRW-Landtag von einer auffälligen Geringschätzung Brorhilker seitens ihres Vorgesetzten zeugen. Denn zur Beantwortung der Fragen der Parlamentarier ließ sich Justizminister Limbach nach eigenen Angaben von dem Leiter der Staatsanwaltschaft Köln informieren. Der „zeichnete von Brorhilker das Bild einer Minderleisterin“.

Zitat Handelsblatt:

„Schriftsätze aus ihrer Abteilung seien ‚oft unvollständig und unklar‘ gewesen, berichtete Neuheuser an Limbach. Er habe ‚einen Verwaltungsvorgang eingesehen‘ und erfahren, ‚dass diese Schwächen bereits länger bestanden‘. Brorhilkers Berichte hätten ein Verständnis für die Besonderheit der Cum-Ex-Verfahren vermissen lassen. Sie sei ‚in dringenden Fällen‘ kurzfristig nicht erreichbar gewesen. Vielmals hätte Brorhilkers Vertreterin die Kastanien aus dem Feuer holen müssen.“

Nachforschungen in der Finanzbranche, der Politik und in der Justiz ergeben für die Redakteure des Handelsblatts „das Bild einer Schlangengrube“. Jahrelang sei Brorhilker von ihrer eigenen Behörde und dem übergeordneten Justizministerium behindert und angefeindet worden. „Ihre ärgsten Feinde“, zitiert das Blatt einen Insider, „waren selbst Staatsanwälte und Ministerialbeamte.“

Die FDP-Fraktion, so die Zeitung, werde das Thema in der nächsten Plenarsitzung des Landtags auf die Agenda setzen. Es bestehe die Idee, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen, damit auch die zu Wort kommen könnten, die bisher weder im Plenum noch im Rechtsausschuss dazu die Gelegenheit gehabt hätten.

Brorhilker betont selbst immer wieder, dass für sie auch nach Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis das Dienstgeheimnis gelte. Sie könne weder jetzt noch in Zukunft über das sprechen, was sich in der Staatsanwaltschaft und dem Justizministerium zugetragen habe.

Quelle:

Sönke Iwersen/Volker Votsmeier: „Wie Politiker und Vorgesetzte Deutschlands erfolgreichste Staatsanwältin demontierten“, Handelsblatt (Online) vom 31. August 2024

https://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/cum-ex-wie-politiker-und-vorgesetzte-deutschlands-erfolgreichste-staatsanwaeltin-demontieren-01/100061787.html