Vorab: Vom Titel des kürzlich erschienenen schmalen Bändchens „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ sollte man sich nicht irritieren lassen – bekanntlich setzt schon der Begriff „Klassengesellschaft“ die Existenz sozialer Ungleichheit voraus.
Der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge gilt als erbitterter Kritiker des modernen Kapitalismus und als Analytiker von dessen sozialen Abgründen. Seine kürzlich beim PapyRossa Verlag erschienene Studie ist insofern besonders lesenswert, als sie sich auch schon mit den bisher absehbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die soziale Ungleichverteilung auseinandersetzt.
Der Autor untersucht in der ersten Hälfte des Bandes die gesellschaftlichen Ursachen von Ungleichheit. Als wesentliche Triebkraft der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich macht er – unter Berufung auf Karl Marx – die Klassenstruktur einer Gesellschaft aus. Allein eine an Marx angelehnte Gesellschaftsanalyse sei in der Lage, nicht nur Herrschaftsverhältnisse offenzulegen, sondern auch deren Wurzeln in den jeweiligen Produktionsverhältnissen aufzuzeigen. Nur so könnten „Armut oder sozialer Abstieg als kollektives Schicksal begriffen (werden), das strukturelle Ursachen hat, und nicht als individuelles Versagen der Betroffenen missdeutet“.
Butterwegge benennt in der Folge weitere Ansätze namhafter Theoretiker, die sich gleichfalls an einer Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft versucht haben. Sehr lesenswert ist ein längerer Abschnitt, der sich mit der Fundamentalkritik des Psychologen Rainer Mausfeld an der kapitalistischen Elitendemokratie beschäftigt. Laut Mausfeld beruhe diese nämlich auf einer mittels umfänglicher Manipulationstechniken erreichten Umwandlung von ökonomischer in politische Macht. Das Resultat sei eine Verrechtlichung, durch welche die „organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse (…) nicht nur legalisiert, sondern auch zeitlich verfestigt und gegen mögliche demokratische Eingriffe abgedichtet“ werde. Butterwegge beschränkt sich leider nur auf eine Wiedergabe dieser These.
Im folgenden Abschnitt über moderne Finanzmärkte und die Entwicklung der sozialen Klassen beschreibt Butterwegge die letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik als einen „Wandel vom ‚rheinischen‘ zum schweinischen Kapitalismus“. Letzteren charakterisiert er unter ausdrücklichem Bezug auf den im Juni/Juli 2020 aufgedeckten Skandal beim Tönnies-Fleischkonzern als System, das „brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet“. Starke Worte, aber treffsicher.
Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Zusammenfassung einer – ursprünglich von Werner Rügemer vorgenommenen – Strukturanalyse des derzeit bereits sehr dichten und immer umfangreicher werdenden Beziehungsgeflechts weltweit agierender Finanzmarktakteure. Ob die von Butterwegge sehr zu Recht angeprangerten sozialen Grausamkeiten des Neoliberalismus nun auf perfiden Strategien dieser Finanzunternehmen basieren oder ob die explosionsartige Vermehrung des auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten um den Globus vagabundierenden Finanzkapitals nicht ein spätes Produkt der schon vor Jahrzehnten losgetretenen neoliberalen Welle ist – darüber lässt sich sicher streiten.
Das abschließende Kapitel des Buches untersucht die „Haupterscheinungsformen der Ungleichheit“ bei den Einkommen und Vermögen, im Gesundheitsbereich, im Bildungssektor und beim Wohnen. Butterwegge liefert hier zahlreiche Daten und Analysen zur akuten Verschlechterung der Lage der Bevölkerungsmehrheit, darunter auch viele, die im allgemeinen Nachrichtenbrei entweder untergegangen oder gar nicht vorgekommen sind.
Dass die deutsche Wiedervereinigung des Jahres 1990 eine riesige soziale Umverteilung zugunsten der großen Kapitalgruppen bewirkt hat, ist an sich bekannt. Die von Butterwegge dokumentierte Befürchtung namhafter Ökonomen, auf die Pandemie und den im März 2020 bundesweit verfügten Lockdown könne langfristig gesehen eine weitere massive Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich folgen, wird von den meisten Medien derzeit ausgeblendet.
Auch, dass das Infektionsrisiko durchaus nicht gleich verteilt ist – Arbeitslose und Arme trifft es eher. Butterwegge erinnert in diesem Zusammenhang an die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters, bei deren Ausbruch die Reichen sich schnell auf ihre Landsitze zurückzogen und so meist einer Ansteckung entgingen. Hauptopfer einer Pandemie seien immer die Armen der jeweils heimgesuchten Gesellschaft. Der Autor bringt es an anderer Stelle noch treffender auf den Punkt: „Wer arm ist, muss eher sterben.“
Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft.
Papyrossa Verlag, Köln 2020, 183 Seiten, 14,90 Euro