Krieg als Konjunkturprogramm

 Kapitalismus beruht auf Wachstum. Und kommt das Wirtschaftswachstum (aus welchen Gründen auch immer) ins Stocken, haben wir es über kurz oder lang mit einer Krise zu tun. Krisen gibt es seit dem frühen Kapitalismus – zunächst allerdings im überschaubaren Rahmen. Es gab damals beispielsweise noch genügend Regionen (sogar ganze Kontinente) mit vormoderner oder nicht vorhandener Wirtschaft, in die Unternehmen expandieren konnten, wenn die Wirtschaft ihres Staates ins Stocken geriet. Und es existierten noch reichlich ungenutzte technische Möglichkeiten für die Weiterentwicklung oder auch Neugründung von Industrien.

Die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 war dann aber nicht nur besonders heftig. Sie hatte zudem ihre Hauptursache nicht in vorübergehender Störung des Wirtschaftswachstums (war also keine Durchsetzungskrise der Kapitallogik), sondern entstand im Gegenteil aus der verqueren Logik eben dieses Wirtschaftswachstums. Nach dem Ende einer gigantischen Konjunkturwelle – die wiederum aus dem damaligen Siegeszug fordistischer Massenproduktion resultierte – hatte die kapitalistisch strukturierte Industrieproduktion sich in einer Fülle nicht absetzbarer Waren selbst erstickt. Und es bedurfte weltweit massiver Interventionen der jeweiligen Staatsapparate, ihre Volkswirtschaft wieder zum Laufen zu bringen.

Diese Interventionen erfolgten freilich von den betroffenen Regierungen auf sehr unterschiedliche Weise. In einigen Staaten wurde mittels entsprechender Sozialgesetzgebung wieder Massenkonsum erzeugt – was dann die Wirtschaft erneut ankurbelte. Diese Methode war letztlich die Geburt des keynesianischen Wohlfahrtstaates. Im Deutschland des Reichskanzlers Adolf Hitler erfolgte das Konjunkturprogramm allerdings ganz anders – mittels kreditfinanzierter Hochrüstung, die die Leute wieder in Arbeit und Lohn bringen sollte und dies vorübergehend sogar tat. Voraussehbare Folge war dann allerdings die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges – mit weltweit über 50 Millionen Toten.

Auf den Krieg folgte die Nachkriegskonjunktur, dann erneute Krisen, Hochrüstungsprogramme (es blieb glücklicherweise, jedenfalls in Europa, beim „Gleichgewicht des Schreckens“), schließlich dann der Siegeszug von Mikroelektronik und Netzkultur (aus dem dann wieder eine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen resultierte). Und nach dem Auslaufen dieser vorübergehenden Konjunkturwelle hatten wir von 2007 bis 2009 plötzlich die nächste Weltwirtschaftskrise. Die konnte im weltweiten Maßstab nur mittels einer gigantischen, nie wieder abtragbaren Staatsverschuldung bewältigt werden. Dass auf sie in vergleichsweise kurzer Zeit wieder die nächste Weltwirtschaftskrise folgen würde, war abzusehen. Und auch, dass diese Krise nicht mehr mittels einer simplen Kreditaufnahme bewältigt werden könne.

Damit haben wir es nun seit mehreren Jahren zu tun – inklusive verzweifelter Versuche diverser Wirtschaftsunternehmen, Staatsapparate und multistaatlicher Organisationen, eine neue Konjunkturwelle herbeizuzaubern.

Geht es derzeit in Deutschland etwa um einen besonders perfiden Versuch, konjunkturellen Aufschwung zu erzwingen – wieder einmal mittels kreditfinanzierter Hochrüstung? Es mag so scheinen. Dass solche Hochrüstungsprogramme nur ein Vorgriff auf dann unweigerlich folgende Wellen von Vernichtung und Raub sein können, scheint bei deutschen Eliten nie angekommen zu sein.

Beim derzeitigen Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine Spätfolge des Zerfalls der Sowjetunion in den 1990er Jahren. Die Ukraine als industriell unterentwickeltes Gebiet gehörte – wie andere Regionen auch – zu den Verlierern dieses Zerfallsprozesses. Beim jetzigen Krieg geht es – abgesehen von allen Fragen der politischen Verfasstheit und des Völkerrechts – darum, ob die Ukraine als wirtschaftliches Anhängsel Russlands wieder ein Spielball russischer Oligarchen und Staatsunternehmen wird oder aber endgültig ein Spielball westlicher Großunternehmen bleibt. Ein größerer Teil der ukrainischen Agrarflächen und Industrieobjekte befindet sich jedenfalls bereits im Besitz westlicher Unternehmen. Und die westliche Rüstungsindustrie profitierte bisher mächtig vom Krieg – ebenso allerdings russische Rüstungsschmieden. Und keines der Unternehmen, die am Krieg verdienen, ist naturgemäß an einem Friedensschluss interessiert.

Es besteht mittlerweile die reale Gefahr, dass der bisher lokal begrenzte Konflikt in Richtung eines atomar geführten Weltkrieges eskaliert. Die Zahl der Opfer eines solchen Krieges ist schwer voraussehbar – sie dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit die Zahl der Opfer des letzten Weltkrieges weit übersteigen.

Deutsche Wirtschaftsunternehmen scheinen in einer solchen Situation aber vordergründig erst einmal weitere Expansionsmöglichkeiten zu wittern – und ihre Lobbyisten demzufolge entsprechend instruiert zu haben. Ein Beispiel: Anstatt ein Ende der Eskalation anzustreben, forderte in Deutschland kürzlich der Städte- und Gemeindebund ein Milliardenpaket zum Schutz der Bevölkerung vor einem möglichen Krieg aufzulegen. Dies hört sich zwar zunächst vernünftig an. Gemeint ist allerdings ein Bauprogramm – in erster Linie für Atombunker. Konkret forderte Hauptgeschäftsführer André Berghegger mehr Bunker in Deutschland. Von den 2000 während des Kalten Krieges errichteten öffentlichen Schutzräumen seien nur noch 600 vorhanden: „Es ist dringend notwendig, stillgelegte Bunker wieder in Betrieb zu nehmen“. Außerdem sollten neue, moderne Schutzräume gebaut und zusätzliche Sirenen installiert werden. Besonders die letzte Forderung dürfte bei denen, die noch den Zweiten Weltkrieg und die Hochzeiten des Kalten Krieges miterlebt haben, böse Erinnerungen aus Kindheit und Jugend wachrufen.

Dass im Fall eines atomar geführten Krieges solche „Schutzräume“ nur sehr bedingt – und dann auch nur für relativ kurze Zeit – Teile der Bevölkerung schützen können, wird derzeit in der Öffentlichkeit kaum diskutiert. Auch nicht, dass anstelle einer weiteren Eskalation Verhandlungen mit der Gegenseite vernünftig wären. In einem atomar geführten Krieg kann es jedenfalls keine Sieger geben – auch wenn danach überlebende Teile der Bevölkerung es schaffen, noch ein paar Monate in unterirdischen Bunkern auszuharren.

Gibt es in dieser Situation denn gar keinen Lichtblick? Doch. Ausgerechnet Papst Franziskus als weltweites Oberhaupt aller Katholiken kritisiert die Waffenindustrie als „Drahtzieher der Kriege“ und fordert zum wiederholten Mal ein „Nein zum Krieg“ auf allen Seiten. Und laut Umfragen lehnt eine Mehrheit der Bundesbürger die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine ab und ist nach wie vor für mehr diplomatische Bemühungen um einen Waffenstillstand mit anschließenden Verhandlungen.

Was hat dies alles aber nun mit Wirtschaftskriminalität zu tun? Krieg bedeutet Raub und Zerstörung, ist also verbrecherisch. Und Geschäftemacherei mit dem Tod anderer ist dem Grunde nach kriminell.

Quelle:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/staedte-und-gemeindebund-fordert-bau-neuer-bunker-a-37bdc35e-0b5b-4e6b-ae22-e6f050611818

 

Afghanistan – vom Scheitern einer Modernisierung von oben

Seit dem Abzug westlicher Truppen und der Flucht der von ihnen gestützten Regierung gilt Afghanistan nicht zu Unrecht als „gescheiterter Staat“. Doch wie konnte es soweit kommen? Matin Baraki, gewesener afghanischer Lehrer, später in der Bundesrepublik promovierter Politologe, hat kürzlich eine gründlich recherchierte und dokumentierte historische Abhandlung zur jüngeren Geschichte seines Landes vorgelegt. Er schlägt dabei einen Bogen von der Zeit unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg bis hin zur Gegenwart – seine Recherchen enden im März 2023.

Baraki schildert die gesellschaftlichen Strukturen Afghanistans noch in der Mitte des 20. Jahrhundert als feudal geprägt. 90 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land, 70 Prozent des nutzbaren Bodens und ein Großteil der Wasservorräte befanden sich im Besitz von Großgrundbesitzern. In den 1930er Jahren zaghaft begonnene Ansätze einer Industrialisierung wurden durch den 2. Weltkrieg unterbrochen (an diesem Krieg war Afghanistan zwar nicht direkt beteiligt, wurde durch ihn aber wirtschaftlich geschädigt). Da die königlich-afghanische Regierung in der Nachkriegszeit an dem neutralen Status des Landes festhielt und einen Beitritt zu gegen die Sowjetunion gerichteten Bündnissystemen ablehnte, hielt sich westliche Entwicklungshilfe in engen Grenzen. Die das Land wirtschaftlich dominierende traditionell gesonnene Oberschicht von Großgrundbesitzen und Händlern war hingegen an der Finanzierung eines Industrialisierungsprogramms nicht interessiert.

Erst mit dem Regierungswechsel des Jahres 1963 setzte die anstehende bürgerlich-demokratische Umgestaltung langsam ein, 1973 stürzte dann ein Militärputsch die herrschende Dynastie – Afghanistan wurde Republik. Da die nun herrschende bürgerliche Regierung nichts gegen die in der Bevölkerung grassierende Armut unternahm, wurde auch sie 1978 durch einen Putsch gestürzt – eine sozialistisch orientierte Fraktion der Demokratischen Volkspartei riss die Macht an sich und begann mit dem Aufbau eines dringend erforderlichen und bisher kaum vorhandenen Gesundheits- und Bildungssystems. Die Hauptursache des Scheiterns dieser „Aprilrevolution“ sieht der Autor in der massiv zunehmenden Korruption und Günstlingswirtschaft innerhalb der Regierungspartei.

Eines der Hauptthemen des Buches ist die (unter Bezug auf verschiedene Marx-Zitate) immer wieder gestellte Frage des Autors, ob sein Land unter Umgehung des Kapitalismus den Weg hin zu einer von Ausbeutung freien Gesellschaft hätte einschlagen können. Diese Frage muss allerdings offen bleiben.

Den Großteil des Buches nimmt die Schilderung der Jahrzehnte von Krieg und Bürgerkrieg ein. Die schwere Krise der afghanischen Gesellschaft meinte damals die Führung der Sowjetunion mittels Truppeneinmarsch unter Kontrolle zu bekommen. Was nicht gelang und auch nicht gelingen konnte. Westliche Staaten und arabische Ölmonarchien unterstützen hingegen die vom Norden Pakistans aus operierenden afghanischen Stammesmilizen. Nach Rückzug der sowjetischen Einheiten begann nahtlos ein Bürgerkrieg zwischen den bewaffneten Milizen. Und dieser endete schließlich mit einer Machtübernahme der radikal-islamistischen Taliban. Die dann zwischenzeitlich dank westlicher Militärhilfe installierte sogenannte demokratische Regierung brach nach Jahren des Bürgerkrieges wieder zusammen und machte im Jahre 2021 erneut den Taliban Platz.

Der Autor dokumentiert an nicht wenigen Stellen des Buches die ungeheuerliche Korruption der jahrzehntelang von westlichen Truppen gestützten afghanischen Regierung. Minister veruntreuten Millionenbeträge, die eigentlich für den Aufbau eines modernen Schulsystems vorgesehen waren. Auch gab es einen umfänglichen Schwarzhandel mit gelieferten Waffen. Ein Großteil der regulären afghanischen Armee existierte überhaupt nicht, da die Generäle, Minister und Offiziere den Sold für nicht vorhandene Soldaten in die eigenen Taschen platzierten und das so ergaunerte Geld dann ins Ausland schmuggelten. Ist die Existenz solcher „Geisterarmeen“ in Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten üblich? Zumindest nicht unüblich. Man muss nur genau hinsehen.

Matin Baraki: Afghanistan – Revolution, Intervention, 40 Jahre Krieg PapyRossa Verlag, Köln 2023, 287 Seiten, 19,90 Euro

Neues von Krause

Zum gewesenen ostdeutschen Politiker Günter Krause und seiner Karriere als Wirtschaftskrimineller wurde in der Ausgabe vom Februar 2018 in BIG Business Crime bereits ein längerer Beitrag veröffentlicht.

Zur Erinnerung: Der diplomierte und promovierte Ingenieur hatte zunächst in der späten DDR den Posten eines Kreissekretärs der Blockpartei CDU inne. Wie fast alle diese „Blockflöten“, deren Rolle sich in kritiklosem Abnicken von Vorgaben des „Bündnispartners“ SED erschöpfte, wechselte auch Krause im Herbst 1989 blitzschnell die Stichwortgeber und brachte es so in der allerletzten DDR-Regierung zum Staatssekretär. Zusammen mit dem bundesdeutschen CDU-Politiker Wolfgang Schäuble unterzeichnete er damals den Einigungsvertrag. Beide zählten demzufolge nicht zu Unrecht als Hauptverantwortliche für die ungeheuren sozialen Verwerfungen während der sogenannten „Wiedervereinigung“ – zudem galten sie als Helfershelfer der Horden von Wirtschaftskriminellen, die ab dem 3. Oktober 1990 über die zumeist völlig ahnungslose ostdeutsche Bevölkerung herfielen.

Krause – nunmehriger CDU-Landesvorsitzende des nunmehrigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern – wurde dann wohl als Dankeschön für diese Unterschrift mit dem Posten eines Verkehrsministers der ersten gesamtdeutschen Regierung bedacht. Diesen musste er allerdings schon im Jahr 1993 – nach einer ganzen Reihe von Skandalen – wieder räumen, verlor dann auch sein Abgeordnetenmandat im Bundestag und zog sich dann ganz aus der Politik zurück. In den Folgejahren geriet er dafür regelmäßig wegen seiner Verwicklung in wirtschaftskriminelle Machenschaften in die Schlagzeilen der Presse und landete vor den Schranken diverser Gerichte.

Der neuerliche Skandal um Krauses kriminelle Machenschaften scheint allerdings eher von bescheidenem Umfang zu sein: Es geht um simplen Betrug. Krause hatte während eines Insolvenzverfahrens Einkünfte in Höhe von etwa 370.000 Euro verheimlicht – es waren wohl hauptsächlich Honorare für öffentliche Fernsehauftritte sowie Erlöse für eine Buchveröffentlichung. Die Einkünfte hatte er unter Nutzung der spanischen Firma seiner Frau versteckt, sie so dem Insolvenzverwalter und den Gläubigern vorenthalten.

Krause hat mittlerweile ein vollumfängliches Geständnis abgelegt und wird höchstwahrscheinlich mit einer Verurteilung auf Bewährung davonkommen.

Quellen:

Ex-Bundesverkehrsminister Krause wegen Betruges vor Gericht

https://www.berliner-zeitung.de/news/ex-bundesverkehrsminister-krause-wegen-betruges-vor-gericht-li.384837

Günther Krause legt Geständnis ab

https://www.spiegel.de/panorama/justiz/guenther-krause-ex-bundesverkehrsminister-legt-in-bankrott-prozess-gestaendnis-ab-a-70cad694-a8ca-47e7-bec3-9fb9ad2be059

Im  Krieg verlieren auch die Sieger

 Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern Gazprom fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.

Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro

 

 

Im  Krieg verlieren auch die Sieger

Einige Leute werden sich erinnern: Die 1983 erschienene Erzählung „Kassandra“ der DDR-Schriftstellerin Christa Wolf (1929-2011) galt lange Zeit als Kultbuch der friedensbewegten Linken in Ost- und Westeuropa sowie anderer Teile der Welt. Ist doch die aus der Antike überlieferte Geschichte von der Königstochter, die das grausige Ende eines mutwillig vom Zaun gebrochenen Krieges und die Zerstörung ihrer Heimatstadt voraussah, jedoch dazu verdammt war, dass niemand ihr glaubte, ein treffendes Gleichnis für die vermeintliche Ohnmacht kritischer Intellektueller gegenüber der Ignoranz und dem Machthunger der jeweils Mächtigen. Die in den 1980er Jahren wegen der Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen erneut wachsende Gefahr eines Atomkriegs zwischen der Sowjetunion sowie ihren Verbündeten auf der einen und den NATO-Staaten auf der anderen Seite blieb glücklicherweise latent. An dessen Stelle trat allerdings der wirtschaftliche Crash Osteuropas, die siegreiche Offensive westlicher Großunternehmen einschließlich einer kaum überblickbaren Kette sozialer Grausamkeiten.

Dass Daniela Dahn, nachgelassene DDR-Autorin, gleich zu Beginn ihres kürzlich erschienenen Buches auf die Legende von Kassandra verweist, ist ganz gewiss kein Zufall. Mit der militärischen Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung ist die lange Zeit nur theoretisch bestehende Gefahr eines Atomkriegs wieder höchst real geworden. Als Mitunterzeichnerin eines friedenspolitischen Appells gleich zu Beginn des Krieges musste die Autorin – wie auch andere Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner – eine Unzahl medialer Diffamierungen über sich ergehen lassen. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen ist dieses Buch – eine Zusammenstellung von Texten aus den vergangenen drei Jahren: Essays, Artikel und Vorträge. Und das Ergebnis lässt sich nicht besser als mit nachfolgend zitiertem Satz auf den Punkt bringen: „Das einzig Perfekte an diesem Krieg ist die Propaganda.“

Daniela Dahn bestätigt in dem Buch ausdrücklich, dass die russische Regierung und die hinter ihr stehenden Oligarchen bei der militärischen Eskalation des bereits schwelenden Konfliktes den ersten Schritt getan und damit Schuld auf sich geladen haben. Sie verweist aber auch auf den Vormarsch der ukrainischen Nationalisten, auf die von ihnen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen und darauf, dass der russische Angriff „ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war“. Und sie betont dass im Falle eines militärischen Sieges der von ihren westlichen Verbündeten unterstützten ukrainischen Armee die höchst reale „Gefahr einer atomaren Kurzschlussreaktion“ besteht – eine Gefahr, die von westlicher Seite her kleingeredet oder aber ganz bewusst ausgeklammert wird. Ebenso, wie mittlerweile ausgeklammert wird, dass zuerst die sowjetische Volkswirtschaft, später dann der mehrheitlich staatseigene russische Konzern GAZPROM fünfzig Jahre lang ein zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner der meisten ost- und westeuropäischen Volkswirtschaften war.

Auch hinterfragt die Autorin die oft getätigte Behauptung, dass der russische Einmarsch in die Ost-Ukraine ein einmaliges, das europäische Sicherheitssystem erschütterndes Ereignis ist. Sie erinnert an das militärische Eingreifen der NATO in den jugoslawischen Bürgerkrieg inklusive der Bombardierung von Belgrad und anderen Städte. Und die kaum zu zählenden Propagandalügen bei diesem und anderen Kriegen. Und auch an die Verstrickungen vom Sohn des derzeitigen US-Präsidenten in mafiöse Gasgeschäfte, von denen seit Beginn der militärischen Eskalation plötzlich nicht mehr geredet wird. Die Aufzählung der aus der kritischen Öffentlichkeit verbannten Fakten, die man in dem Buch wieder nachlesen und sich ins Gedächtnis zurückrufen kann, ließe sich fortsetzen.
Nein, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse findet sich in dem Buch nicht. Es ist ein verzweifelter Schrei nach Frieden. Und genau deshalb sollte er jetzt – in einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher und militärischer Konfrontation – ernstgenommen werden.

Daniela Dahn: „Im Krieg verlieren auch die Sieger. Nur der Frieden kann gewonnen werden“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Berlin 2022, 221 Seiten, 16,00 Euro

Renaissance der Atomkraft?

„Vor dem Atommeiler / Vor dem Reaktor /
Steht ein Geigerzähler / Ein nackter Mann davor“ 
(Wolfgang Neuss)

In der Geschichte der Menschheit gibt es wissenschaftlich-technische Innovationen, die höchst widersprüchlich zu bewerten sind. Ohne die Entdeckung ionisierender Strahlung im Jahr 1896 durch den französischen Physiker Henri Becquerel (1852-1908) wäre es beispielsweise nie zur Röntgendiagnostik in der Medizin gekommen. Auch spielen zerstörungsfreie Untersuchungen mittels elektromagnetischer Wellen mittlerweile eine bedeutende Rolle in nicht wenigen anderen Fachgebieten. Die anfangs bedenkenlose Anwendung dieser Technologie  in der Medizin, bevor dann der volle Umfang schädigender Wirkungen von Strahlen auf den menschlichen Organismus erkannt wurde, kostete allerdings nicht wenigen Medizinern und zahlreichen ihrer Patienten das Leben.

Ungeachtet dieses längst bekannten Wissens rief die Entdeckung der Kernspaltung und der daraus möglichen Energieerzeugung mittels Atomreaktoren in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine kaum gebremste Euphorie hervor. Der Weg in die Atomkraft könne der gesamten Menschheit Glück und Wohlstand bescheren – so wurde es damals auch von nicht wenigen Vertretern der sozialistischen Linken verkündet. Nach der ersten kontrollierten Kernspaltung im Jahr 1942 in den USA unternahmen demzufolge zahlreiche Staaten Anstrengungen zur Realisierung eines Atomprogramms. Die erste Inbetriebnahme eines stromerzeugenden Reaktors samt dauerhafter Einspeisung ins Netz erfolgte Anfang der 1950er Jahre in der damaligen Sowjetunion. Nach Angaben der internationalen Atomenergiekommission sind derzeit 440 Reaktoren im Betrieb; hinzukommen noch 53 Reaktoren, die sich noch im Bau befinden. Die Mehrheit von ihnen befindet sich in stationären Kraftwerken. Es gibt jedoch auch einige Reaktoren auf Schiffen, in U-Booten und in Raumfahrzeugen.

Dass beim Betreiben von Atomreaktoren ionisierende Strahlung freigesetzt wird, die die Gesundheit beteiligter oder auch nur in der Nähe befindlicher Menschen bzw. die ihrer Nachkommenschaft irreparabel schädigt, ist eine längst bekannte Tatsache. Auch, dass durch Schädigung des Erbgutes ihrer Eltern nicht selten noch ungeborene Kinder zu den Strahlenopfern zählen. Seit den ersten Unfällen gelten zwar beim Betreiben von Atomreaktoren strenge Sicherheitsbestimmungen. Ungeachtet dessen fanden zwischen 1940 und 2010 insgesamt 34 als „schwer“ eingestufte Unfälle statt – in den USA, in der Sowjetunion bzw. Russland, in Großbritannien, in Japan, in Kanada, in der Schweiz, in der CSSR, in Frankreich, in Argentinien und in Belgien. Als die schlimmsten dieser Unfälle zählen die Katastrophen von Tschernobyl im Jahr 1986 und die von Fukushima im Jahr 2011.

Bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl starben an den Folgen akuter Verstrahlung offiziell etwa 50 Menschen. Etwa 116.000 Einwohner im Bereich von 30 Kilometern um das havarierte Atomkraftwerk herum wurden evakuiert. Die von erhöhter Radioaktivität betroffene Region war jedoch wesentlich größer und erstreckte sich über das Territorium mehrerer Staaten. Die Gesamtzahl der Krebstoten als Folge der Katastrophe ist umstritten und dürfte sich mindestens auf mehrere Tausend belaufen. Bei der Reaktorkatastrophe von Fukushima wurden zwischen 100.-150.000 Einwohner aus dem Bereich um das havarierte Atomkraftwerk herum evakuiert. Die Gesamtzahl der Todesopfer als Folge der Katastrophe ist ebenfalls umstritten, dürfte sich aber in jedem Fall auf mehrere Hundert belaufen. Große Teile Japans und des umliegenden Meeresgebietes wiesen damals vorübergehend eine stark erhöhte Radioaktivität auf.

Von Befürwortern der Atomkraft wird nach jedem Reaktorunfall gebetsmühlenartig erklärt, man habe daraus gelernt und werde alle möglichen Anstrengungen unternehmen, dass sich so etwas nicht wiederholen könne. Ausgeblendet wird dabei, dass es eine hundertprozentig sichere Technik nicht gibt und auch theoretisch nicht geben kann. Man kann zwar ein Gefahrenpotential minimieren, aber nie vollständig ausschalten.

Außer der permanenten Gefahr weiterer Reaktorkatastrophen ist in diesem Zusammenhang das ungelöste und theoretisch auch nicht befriedigend lösbare Problem radioaktiver Abfälle (Atommüll) zu erwähnen. Diese entstehen zum Teil bei der bergbaumäßigen Gewinnung von Uran, zum Teil  beim Abriss stillgelegter Atomkraftwerke, in geringerem Umfang auch beim laufenden Betrieb atomarer Anlagen. Diese Abfälle müssen bis zum vollständigen Abklingen auf das Maß natürlicher Radioaktivität sicher gelagert werden. Die voraussichtliche Dauer dieser Lagerung ist sehr unterschiedlich und hängt von der Höhe der anfänglich gemessenen Radioaktivität ab. Derzeit dürfte nach Schätzungen weltweit eine Menge von über einer Million Tonnen radioaktiven Abfalls in diversen Zwischenlagern vor sich hin strahlen. Es gibt derzeit weltweit nur ein zugelassenes Endlager für hochradioaktiven Abfall. Dieses liegt in Finnland und ist für eine eher geringe Menge von strahlendem Müll ausgelegt.

Auch kann nicht oft genug daran erinnert werden: Die erstmalige Anwendung des Energieträgers Atomkraft geschah in Gestalt eines Massenvernichtungsmittels. Zur von den deutschen Nazis angestrebten Entwicklung einer Atombombe kam es zwar glücklicherweise nicht. Die von US-amerikanischen Militärs getätigten Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki töteten aber geschätzt 100.000 Menschen sofort – eine wesentlich größere Anzahl Menschen erlag in den Folgemonaten und -jahren ihren Verbrennungen und Verletzungen infolge radioaktiver Strahlung. Fast alle Toten und Verletzten waren japanische Zivilisten oder aber koreanische Zwangsarbeiter.

Bei diesen beiden Atombombenabwürfen blieb es dann zwar angesichts des weltweiten Entsetzens bis heute. Die Menschheit schrammte aber mehrmals haarscharf an einem Atomkrieg vorbei. Die von wirtschaftlich und politisch führenden Mächten angelegten Atombombenarsenale erwiesen sich dann auch noch als tickende Zeitbomben. Russische Generäle setzten in den 1990er Jahren mehrfach Hilferufe ab: Infolge neoliberaler Sparorgien stünden ihnen nicht mehr genügend Mittel zur Verfügung, die aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden Arsenale zu warten. Wenig bekannt ist auch, dass im Februar 1992 in unmittelbarer Nähe der russischen Hoheitsgewässer ein US-amerikanisches Atom-U-Boot mit einem russischen Atom-U-Boot kollidierte – beide Kriegsschiffe überstanden zum Glück den Zusammenstoß. Erinnert werden sollte in diesem Zusammenhang auch an die Beinahe-Katastrophe beim Untergang des russischen Atom-U-Bootes K-141 „Kursk“. Das raketenbestückte Kriegsschiff havarierte im August 2000 bei einem Manöver im Nordpolarmeer und sank. Da Russland sich mit den anderen Anrainerstaaten nicht zeitnah auf effektive Rettungsmaßnahmen einigen konnte, kamen alle 118 Seeleute ums Leben. Das Wrack mit den Reaktoren wurde dann zwar im Oktober 2001 geborgen. Bei anderen gesunkenen Atom-U-Booten gelang dies allerdings nicht; ihre Wacks liegen noch immer auf dem Grund verschiedener Ozeane und strahlen bis in alle Ewigkeit weiter. Und dass sich in der kriegsgeschüttelten Ukraine jetzt russische und ukrainische Truppen auf dem Gelände des russisch besetzten Atomkraftwerks Saporischschja gegenseitig beschießen, lässt für unser aller Zukunft Schlimmes vermuten.

Von Befürwortern der Atomkraft wird häufig auf das Beispiel Frankreich verwiesen. Unser Nachbarland betreibt derzeit 56 Atomreaktoren, bezieht aus diesen 72 Prozent der produzierten Energie und versorgt zudem mehrere Nachbarländer mit vergleichsweise billigem Strom. Wenig thematisiert wird in diesem Zusammenhang, dass diese vergleichsweise niedrigen Preise auf versteckter oder auch ganz offener staatlicher Subventionierung beruhen, die angebliche Effizienz der Atomkraft also eine Mogelpackung ist. Beispielsweise wurden die nicht unbeträchtlichen Entwicklungskosten, welche den Bau von Reaktoren überhaupt erst ermöglichten, in der Zeit des Kalten Krieges vom Militär, also letztlich vom damaligen Steuerzahler getragen.

Ebenso verhält es sich bei den derzeit überhaupt noch nicht abschätzbaren Entsorgungskosten für strahlenden Müll – diese werden langfristig gesehen entweder in Gestalt staatlicher Subventionierung oder in Gestalt irreparabler Umweltschäden bei der Bevölkerung hängen bleiben. Frankreichs Atomprogramm funktioniert zudem auf Grundlage von Uran-Importen aus repressiv regierten Billiglohnländern, welche zum Teil nur aufgrund der permanenten Anwesenheit französischer Truppen funktionieren. Als Beispiel sei hier der nordafrikanische Wüstenstaat Niger genannt – dieser zählt zu den weltweit zehn ärmsten Ländern, ist aber der fünftgrößte Exporteur von Uranerz. Über die Umweltstandards in solchen Ländern muss hier nichts geschrieben werden – sie sind bekanntermaßen äußerst niedrig. Beim Bergbaugebiet im Norden von Niger liegt die Belastung durch ionisierende Strahlung nachweislich wesentlich über dem Normalwert, die Sterblichkeitsrate deutlich über dem Landesdurchschnitt.

In den letzten Jahren musste ein großer Teil der französischen Atomkraftwerke aufgrund technischer Schäden und Wartungsmängel abgeschaltet werden – dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass der französische Staatpräsident Macron von einer „Renaissance der Atomkraft“ schwadronierte. Die Kosten der plötzlich erforderlichen Investitionen in einen hochgradig gefährlichen Industriezweig werden dann wieder einmal vom Steuerzahler zu tragen sein. Ähnliches wird sich dann wohl auch in Deutschland abspielen – falls die Befürworter der Energiegewinnung aus Atomkraft sich angesichts des Wirtschaftskrieges mit Russland tatsächlich durchsetzen. Künftige Generationen dürften eine solche „Energiewende“ mit Sicherheit als verbrecherisch einschätzen.

 

Literatur:

 .ausgestrahlt, gemeinsam gegen Atomenergie

www.ausgestrahlt.de

 

Demontage des Gesundheitswesens

Reportagen über Defizite und die zunehmende Ausdünnung des deutschen Gesundheitswesens gibt es mittlerweile nicht wenige. Das hier rezensierte Buch wurde allerdings von einem ausgewiesenen Spezialisten geschrieben: Thomas Strohschneider, Facharzt für Allgemein- und Gefäßchirurgie, war viele Jahre als Chefarzt in einer privat geführten Klinik tätig.

Im Vorwort bringt der bekannte Wissenschaftsjournalist Werner Bartens die Aussage des Buches wie folgt auf den Punkt: Die Medizin sei in Gefahr. Diese Gefahr bestehe primär jedoch nicht im Auftreten neuer Krankheitserreger, sondern in der zunehmenden Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und dem dieser Kommerzialisierung zugrunde liegenden Streben nach Gewinnmaximierung. Die „Medizin mit dem Preisschild“ habe die medizinische Ethik ausgehöhlt und die Heilkunst insgesamt „aus der Balance gebracht“.

Strohschneider selbst liefert in den 24 in sich geschlossenen Beiträgen des Buches eine gekonnte Schilderung der Abgründe zunehmender Monetarisierung beim Betreiben deutscher Gesundheitseinrichtungen und verdeutlicht diese durch eingestreute Episoden, welche teilweise auf eigenem Erleben beruhen. So liest man gleich zu Anfang vom Fall eines lebensgefährlich erkrankten und psychisch angeschlagenen Obdachlosen. Dessen Behandlung musste von Ärzten gegen heftigen Widerstand der Krankenhausdirektion durchgesetzt werden. Als Ergebnis konnte der Mann dann zwar geheilt und entlassen werden. Kurze Zeit später wurden die betreffenden Abteilungen aber vom Klinikträger aber als „unrentabel“ geschlossen und den Beschäftigten gekündigt.

Die Ursachen für solche Fälle sieht der Autor unter anderem darin, dass die öffentliche Hand sich während der letzten Jahrzehnte weitgehend aus dem Gesundheitswesen zurückgezogen habe. Die öffentliche Bezuschussung sei rückläufig. Private Betreiber seien jedoch nicht in erster Linie an dem Wohlergehen der Patient/innen sondern an einer Gewinnmaximierung interessiert. Eigens beauftragte Unternehmensberater durchleuchteten daher zielgerichtet Krankenhäuser. Dem Führungspersonal  würden dann wirtschaftliche Leistungsziele vorgegeben und deren Erfüllung mit zum Teil hochgradig fragwürdigen Methoden durchgesetzt. Wie im Buch erwähnt wird, stünden zudem hinter privaten Krankenhausbetreibern nicht selten Pharmakonzerne, die sich so einen lukrativen Marktanteil sicherten. Den Beginn der Privatisierungs- und Monetarisierungswelle datiert der Autor übrigens auf die Jahre 1999 bis 2002 – also auf genau die Zeit, in der die neoliberalen Exzesse der Schröder-Regierung begannen.

Wie Strohschneider weiter schreibt, verfüge mittlerweile jedes kommerziell betriebene Krankenhaus über Controlling-Abteilungen, die einerseits auf der Jagd nach zusätzlichen Abrechnungsmöglichkeiten für Behandlungen sind, andererseits aber auch die Kosten erbarmungslos drücken. Es handele sich, wie der Autor meint, um eine „gefährliche Übertragung ökonomischen Denkens auf medizinische Abläufe“. Qualifiziertes und motiviertes Pflegepersonal habe man „in Scharen aus den Kliniken getrieben“ und durch schlecht ausgebildete und miserabel bezahlte Billiglöhner/innen – meist Beschäftigte von Leiharbeitsfirmen – ersetzt. Die Fallzahl pro Pflegekraft wurde so in den letzten 25 Jahren fast verdoppelt – inklusive Arbeitshetze und permanenter Überlastung der Beschäftigten.

Leidtragende dieser Entwicklung seien aber in erster Linie die Patienten. Defizitäre Abteilungen von Krankenhäusern würden immer öfter geschlossen, bei der Patientenauswahl selektiert. Nicht selten entschieden mittlerweile Computerprogramme darüber, ob Behandlungen fortgesetzt oder ob die betreffende Person als geheilt entlassen würden. Mit zunehmender Außerkraftsetzung der medizinisch-ärztlichen Logik und Humanität habe die Vorstellung vom Arzt als „Helfer des hilfesuchenden Patienten (…) in diesem System nur noch wenig Raum“.

Im Buch werden auch Praktiken von Krankenhausleitungen geschildert, die man durchaus als kriminell oder zumindest als grenzwertig charakterisieren kann. So wurden beispielsweise in einigen Krankenhäusern über Jahre hinweg Betten als vorhanden geführt, die es nicht mehr gab – die betreffenden Abteilungen hatte man längst geschlossen. Die in öffentlichen Statistiken angegebene Zahl zur Verfügung stehender Krankenhausbetten entspreche daher nicht der Realität. Die Ursache für solche Falschmeldungen bestünde darin, dass Zuschüsse für Investitionsmaßnahmen an die Zahl der zur Verfügung stehenden Betten geknüpft seien.

Als ein anderes Beispiel beschreibt der Autor, dass man Ärzte gezielt unter Druck setzte, Patienten vorzugsweise Prothesen „aus dem unteren und mittleren Preissegment“ zu implantieren. Im schlimmsten Falle könne, wie Strohschneider meint, die verfehlte Auswahl eines solchen Implantates dem jeweiligen Patienten das Leben oder einen Körperteil kosten.

Ein gesondertes Kapitel schildert die Abgründe der Privatisierung bis dahin öffentlich betriebener Krankenhäuser. Als ein besonders gemeines Beispiel sei hier nur genannt der 2004 unter einem CDU-Bürgermeister umgesetzte Verkauf der Hamburger Krankenhäuser an den Gesundheitskonzern Asklepios. Entgegen den Ergebnissen eines diesbezüglichen Volksentscheids zog der Senat die Veräußerung zu einem Spottpreis durch und feierte dies dann auch noch als Sieg. Tatsächlich stellten, wie der Autor meint, die Kliniken heute ein „Milliardenvermögen“ dar. Strohschneider bezeichnet übrigens an anderer Stelle die laufenden Privatisierungsorgien sowie die unausweichlich folgende Durchrationalisierung ehemals öffentlich betriebener Krankenhäuser als „Kannibalismus“.

Zu den Resultaten von Ausdünnung und zunehmender Monetarisierung des Gesundheitswesens, die dann beim Ausbruch der Pandemie offenbar wurden, gibt es im Buch leider nicht viel Material. Immerhin findet man eine kurze Schilderung, wie die SANA-Kliniken als drittgrößter privater Klinikbetreiber inmitten der Pandemie etwa 1000 Mitarbeitern aus ihrem Servicebereich kündigten. Auch thematisiert der Autor die Äußerung des Gesundheitsökonomen Reinhard Busse, der auf dem Höhepunkt der Pandemie „etwa 800 der insgesamt 1.400 Akutkrankenhäuser in Deutschlands“ für „überflüssig“ erklärte.

Und natürlich wird Im Buch die Vergangenheit des derzeitigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach erwähnt, der als Lobbyist der kommerziell betriebenen Gesundheits-Konzerns Rhön-Kliniken viele Jahre an der Demontage des Gesundheitssystems mitwirkte. Die vom Autor in diesem Zusammenhang ausgesprochene Hoffnung, Lauterbach könne sich „vom Saulus zum Paulus“ gewandelt haben, hat sich allerdings bislang nicht bestätigt. Die Schließung finanziell defizitärer Kliniken wurde auch nach Ausbruch der Pandemie kaum gebrochen fortgesetzt.

Thomas Strohschneider hat sich nach eigener Aussage das Ziel gestellt, „Hintergründe und Auswirkungen der gesundheitspolitischen Veränderungen der letzten Jahre, vor allem im Krankenhauswesen“ zu beschreiben. Dies ist ihm gelungen. Und dass er gegen Ende des Buches als erstrebenswertes Ziel formuliert, Krankenhäuser zu „rekommunalisieren“ und sie so „dem Einfluss der Konzerne zu entziehen“, kann man nur als ehrenwert bezeichnen.

Thomas Strohschneider: „Krankenhaus im Ausverkauf. Private Gewinne auf Kosten unserer Gesundheit“, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2022, 238 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-86489-371-1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zuhälterei gestern und heute

Wirtschaftskriminalität ist keineswegs nur auf die Oberschicht beschränkt, auch wenn deren Aktivitäten in der Hauptsache zur sozialen Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Kriminelle Bandenbildung in den Ghettos und Armutsvierteln der Unterschicht ist mit Sicherheit ebenso alt wie die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft insgesamt. Dass der österreichische Promedia-Verlag ein Buch zu einem weitgehend unterbelichteten Thema – der sexuellen Ausbeutung des weiblichen Körpers – herausgegeben hat, ist daher vom Grundsatz her zu begrüßen.

Der Autor Manfred Paulus – ein pensionierter deutscher Polizeibeamter – liefert darin allerdings keine soziologische Analyse der kriminellen oder auch weniger kriminellen Geschäftszweige Zuhälterei und Prostitution. Sein Anliegen ist eher, einen Nachweis für die These zu erbringen, dass Zuhälterei eine Gefahr für die (bürgerliche) Gesellschaft sei und die gegenwärtige Gesetzeslage viel zu human sei, um mit dieser Gefahr fertig zu werten.

Statistisches Material findet man in dem Band kaum; das Buch ist eher eine Schilderung ausgewählter Kriminalfälle. Wobei diese meist wenig bekannten Fakten oft nicht uninteressant sind. Sehr zu empfehlen ist beispielsweise das Kapitel über die Geschichte der Zuhälterei. Obwohl die Quellenlage eher dürftig ist, weist der Autor anhand griechischer und römischer Quellen nach, dass es diesen Geschäftszweig bereits in der Hochantike gab. Die Herrscher des christlichen Frühmittelalters bemühten sich dann zwar nach Kräften, das in ihren Augen sündhafte Treiben zu unterdrücken. Aber schon zur Zeit Karls des Großen ist die Existenz städtischer Bordelle überliefert. Und zur Zeit der Renaissance praktizierten sogar hohe katholische Würdenträger nebenberuflich die Tätigkeit eines Zuhälters. Wie der Autor weiter schreibt, hätten allein in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 100.000 und 200.000 Frauen hauptberuflich „angeschafft“ –  kurz vor dem 1. Weltkrieg waren es 300.000.

Der Autor weist durchaus zutreffend immer wieder darauf hin, dass es sich bei den in Bordellen und auf dem Straßenstrich arbeitenden Frauen um die eigentlichen Leidtragenden der von ihm angeprangerten Verhältnisse handelt. Eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die Frauen in die Prostitution trieb und immer noch treibt, wird von ihm jedoch peinlich vermieden. Die Schuldigen sind immer kriminelle Zuhälter. Nun handelt es sich bei diesen Leute zumeist wohl um ausgesprochen unsympathische Figuren. Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang Überschneidungen zwischen verschiedenen kriminellen Gewerben und der Internationalisierung krimineller Strukturen. Von eher historischem Interesse ist die von ihm vorgenommene Analyse der sich zum Teil krass unterscheidenden „Milieus“ deutscher Großstädte im 20. Jahrhundert.

Der Autor weist (eher moralisierend) immer wieder darauf hin, dass die meisten „Kiezgrößen“ – so sie die immer wieder ausbrechenden kriminellen Bandenkämpfe überlebten – später im Elend starben. Die Schlussfolgerung, dass es sich bei Zuhälterei zum Teil wohl auch um Armutskriminalität handelt, findet sich im Buch allerdings an keiner Stelle. Dafür dokumentiert der Autor eine absurd anmutende Episode, wie der Besitzer eines Eros-Centers in Ulm sich kurz vor der Jahrtausendwende per Adoption in den deutschen Hochadel einkaufte.

Interessant sind die am Ende des Buches dokumentierten Auszüge aus Gesetzestexten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Die vom Autor immer wieder nahegelegte Verschärfung von Gesetzen hat in der Vergangenheit übrigens keineswegs zum Verschwinden von Prostitution und Zuhälterei, von Menschenhandel und Sexsklaverei geführt. Der Autor weist in einem anderen Zusammenhang selbst darauf hin, dass diese kriminellen Strukturen auch in Ländern mit heftig repressiver Gesetzeslage weiter blühen und gedeihen.

Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute.
Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia, Promedia Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, ISBN 978-3-85371-500-0

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unheiliges Erbe – über die Wurzeln des bundesdeutschen Managements

Das (west)deutsche Wirtschaftswunder der 1950er Jahre beruhte in weiten Teilen auf den während der Nazizeit geschaffenen ökonomischen Strukturen – diese Erkenntnis hat sich in der historischen Forschung schon seit langer Zeit durchgesetzt. Bekannt sind aus dieser Zeit auch die zahlreichen persönlichen Kontinuitäten in Wirtschaft und Politik – eine ernsthafte Verfolgung belasteter Nazis fand damals kaum statt. Erst nach 1968 wurde langsam begonnen, die unheilige Vergangenheit von Politikern und Wirtschaftskapitänen aufzugraben. Abgeschlossen ist diese Aufarbeitung noch immer nicht – ansonsten wäre das hier rezensierte Buch längst erschienen.

Der französische Historiker Johann Chapoutot verweist gleich im Vorwort seines kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen Werkes „Gehorsam macht frei“ auf den bekannten Fakt, dass die Führungselite des „Dritten Reiches“ keineswegs nur aus kriminellen Schlagetots und militärischen Eisenfressern bestand. Der Autor nennt als ein Beispiel für skrupellose Manager in den Reihen deutscher Nazis den Agrarwissenschaftler Herbert Backe (1896-1947) – einen Verantwortlichen für die Ausarbeitung des „Hungerplanes“, mit dem die Naziführung die Bevölkerung der besetzten Sowjetunion durch Nahrungsmittelentzug um 30 Millionen Menschen reduzieren wollte und dies teilweise auch tat. Ein weiteres „Monster in SS-Uniform“ ist für Chapoutot der Architekt Hans Kammler (1901-1945) – KZ-Baumeister und Verantwortlicher für die Entwicklung und Produktionen der V2-Rakete. Kammler verschuldete den Tod zehntausender KZ-Häftlinge, die der industriell betriebenen Menschenvernichtung oder aber der Produktionshetze und den mörderischen Arbeitsbedingungen in Arbeitslagern zum Opfer fielen.

Backe erhängte sich 1947 in einer alliierten Gefängniszelle. Kammler ist seit dem Kriegsende verschollen – wahrscheinlich endete er ebenfalls durch Suizid.  Andere Täter hingegen, ebenfalls überzeugte Sozialdarwinisten, die während des 2. Weltkrieges „ganze Bevölkerungen umsiedelten, ganze Landstriche aushungerten, und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft bis zur völligen Erschöpfung befürworteten“, konnten in der Nachkriegszeit ihre Karriere in modifizierter Form fortsetzen. Wie Chapoutot schreibt, hätten die „nationalsozialistischen Vorstellungen von Management über das Jahr 1945 hinaus fortbestanden und (konnten) in den Jahren des Wirtschaftswunders fröhliche Urständ feiern“. Dabei fungierten „ehemalige hochrangige SS-Leute (…) nicht nur als Theoretiker (…), sondern  als Praktiker“.

Der Autor liefert in den folgenden Kapiteln keine Entstehungsgeschichte des Faschismus und auch keine Analyse des faschistischen Systems als Ganzes – ihm geht es um die von den Nazis betriebene Form der Wirtschaftssteuerung und deren mörderische Folgen. Es finden sich aber interessante Fakten: In ihrer Selbstdarstellung präsentierte sich das Naziregime gern als „geschlossene Volksgemeinschaft“, als übergreifende Ordnungsmacht, organisiert nach dem Führerprinzip. Entsprechend ist auch das Bild, welches sich die meisten Menschen vom Dritten Reich machen. Tatsächlich aber betrachteten die Nazis, so der Autor, den Staatsapparat nur als Mittel zum Zweck. Der von ihnen als träge und ineffizient betrachtete Beamtenapparat wurde an den Rand gedrängt, durch ein Gewirr unterschiedlicher quasi-staatlicher Institutionen mit nicht selten überschneidenden Kompetenzen und Aufgabenstellungen  ersetzt. Der Justizapparat blieb zwar bis zum Schluss bestehen – da aber die Reichsführung den permanenten Notstand dekretiert hatte, konnten deren Urteile ohne weiteres aufgehoben, freigesprochene Beschuldigte kurzerhand ermordet oder per Federstrich in Konzentrationslager eingewiesen werden.

Entscheidend sei für die Nazis das „Leistungsprinzip“ und das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit gewesen – diejenigen der untereinander konkurrierenden Apparate, die mit den gestellten Aufgaben tatsächlich fertig wurde, hatten jeweils die Oberhand und erhielten dann auch zusätzliche Befugnisse. In der Endphase des Krieges waren das diejenigen Organisationen, welche – wie zum Beispiel die SS – besonders brutal und ohne jede Spur von Rücksicht agierten. Die mörderischen Folgen dieser Logik sind bekannt.

Chapoutots Buch konzentriert sich im Wesentlichen auf den Werdegang des Staatsrechtlers Reinhard Höhn (1904-2000). Höhn kam ursprünglich aus dem rechtskonservativen „Deutschen Orden“, trat dann 1933 der Nazipartei und der SS bei. In der Folgezeit entwickelte er sich zu einem führenden Ideologen des Regimes, erhielt eine Professur und wurde hochrangiger SS-Führer. Nach 1945 blieb er in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt. Dank der Unterstützung rechter Netzwerke in Politik und Wirtschaft wurde er dann im Jahre 1953 Direktor der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“, einer Art Denkfabrik der Deutschen Industrie. Auch erhielt er eine Professur an der von ihm gegründeten „Harzburger Akademie für Führungskräfte“.

Wie Chapoutot schreibt, übertrug Höhn das unter seiner Mitwirkung im NS-Regime entwickelte administrative Modell nach 1945 auf die Privatwirtschaft – offenbar mit großem Erfolg. Obwohl Höhns braune Vergangenheit spätestens ab Mitte der 1960er Jahre öffentlich bekannt war, besuchten bis zum Jahre 2000 etwa 600.000 Manager bundesdeutscher Unternehmen die von ihm gegründete Akademie.

Chapoutots abschließend getroffener Feststellung: „Das Management und seine Welt sind nicht neutral“ kann man selbstverständlich beipflichten. Eine übergreifende Abrechnung mit sozialdarwinistischem Denken und Handeln findet sich in dem Buch allerdings nicht. Und erst recht keine Darstellung der gegenwärtigen Abgründe kapitalistischen Managements.

Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute. Aus dem Französischen von Clemens Klünemann, Propyläen Verlag, 173 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-549-10035-6

 

 

 

 

Der Kaiser ist nackt! Oder: Ein Versuch der Aufarbeitung des Wirecard-Skandals

Firmenzusammenbrüche sind im Kapitalismus durchaus nichts Besonderes. Und dass in diesem Zusammenhang ausgesprochen kriminelle Aktivitäten von ins Schleudern geratenen Unternehmen ans Licht der Öffentlichkeit kommen, geschieht auch nicht gerade selten. Der plötzliche Absturz und die nachfolgende Insolvenz des Finanzdienstleisters Wirecard gestaltete sich aber doch schon ungewöhnlich. Hatte das aus der halbkriminellen Schmuddelbranche stammende Unternehmen doch gerade zwei Jahre vorher den Aufstieg in die obersten Gefilde der börsennotierten Großunternehmen geschafft.

Es ist daher verdienstlich, dass zwei Journalist*innen die bisher bekannten Fakten zu einem der bekanntesten Betrugsskandale der jüngeren Vergangenheit in Buchform herausgebracht haben – Teile des Buches sind allerdings zuvor schon in verschiedenen Ausgaben der „Wirtschaftswoche“ erschienen. Dass die Darstellung – vor endgültigem Abschluss der Ermittlungen und juristischer Aufarbeitung – nicht vollständig sein kann, liegt in der Natur der Sache und kann den Autor*innen nicht angelastet werden. Eher schon, dass die systemischen Ursachen, die diesen Skandal überhaupt erst ermöglichten, im Buch eher flüchtig Erwähnung finden.

Der Fall „Wirecard“ erscheint bei oberflächlicher Lektüre des Werkes lediglich als ungewöhnlich dreistes Bubenstück, begünstigt durch ein permanentes Wegschauen von Institutionen, die dem kriminellen Unternehmensmanagement schon in der Anfangsphase das Handwerk hätten legen müssen. Und durch die Verantwortungslosigkeit von Mitarbeitern, die angesichts der vielen Merkwürdigkeiten des Unternehmens ihre Augen schlossen, solange jeden Monat regelmäßig das Geld aufs Konto kam.

Aber schon diese angebliche Verantwortungslosigkeit war strukturell bedingt, wie man verschiedenen Kapiteln entnehmen kann: „Einen Betriebsrat? Braucht Wirecard nicht. Tarifverträge? Gibt es nicht. Wirecard zahlt gut. Alle sind Gewinner.“ (Seite 155) An anderer Stelle zitieren die Autor*innen einen der Hauptaktionäre aus der Frühphase des Unternehmens: „Erotik und Glücksspiel waren nun mal die Bereiche, wo es die höchsten Margen gab, mit 3,4 Prozent von der Abrechnungssumme (…) Nein, das hat uns überhaupt nicht gestört. Irgendeiner macht das eben. Wir haben die Zahlen gesehen und gesagt: ‚Boah, toll, passt.‘“ (Seite 42)

Auch enthält das Buch eine ausführliche Chronologie der Entwicklung des Unternehmens Wirecard AG sowie biographische Angaben leitender Mitarbeiter*innen. Und man findet nicht wenige Fakten, die in der medialen Berichterstattung kaum vorkommen. So zum Beispiel, dass Wirecard schon sehr früh begonnen hatte, besonders brisante Geschäftszweige aus dem Unternehmen auszugliedern und in dubiose Steuerparadiese mit laxer Gesetzgebung zu verlagern. Schon im Jahre 2017 wurde laut offizieller Bilanz des Unternehmens der größte Teil der Gewinne im Ausland erzielt.

Faktisch wurde bei der geschilderten Auslagerung von Unternehmensteilen die juristische Verantwortlichkeit zur Handelsware. Nicht wenige Leute, die gegen Bezahlung ihren Namen als Firmeninhaber eintragen ließen, hatten mit den in ihrem Namen getätigten Geschäften dann gar nichts zu tun. Oder sie behaupteten wenigstens hinterher, von nichts gewusst zu haben. Über solche in Dubai, Singapur und auf den Philippinen ansässige Ausgründungen und deren bilanziertes, aber nicht vorhandenes Milliardenvermögen sollte Wirecard schließlich ins Stolpern geraten.

Aber wer stand in dem stellenweise recht spannend geschriebenen Wirtschaftskrimi eigentlich auf der Gegenseite? Die Autor*innen nennen einen einsamen Analysten und Wirtschaftsprüfer, der schon früh auf die Unstimmigkeit des von der Firma Wircard offiziell angegebenen Zahlenwerkes stieß, einfach, indem er die Angaben des Bilanzprogramms in eine simple Excel-Tabelle übertrug. Der gute Mann erntete dann Hohn und nicht wenige Anfeindungen. Kaum jemand konnte sich damals vorstellen, dass der allseits gefeierte Kaiser in Wirklichkeit nackt war.

Bei anderen Gegnern von Wirecard handelte es sich allerdings um dubiose Hedgefonds, die gewerbsmäßig auf den Börsenabsturz dieser und anderer Unternehmensgruppen wetteten. Deren Aktivitäten machten es dem Management von Wirecard leicht, jeden Kritiker erst einmal als angeblich betrügerischen Manipulator von Börsenkursen zu verklagen – manchmal sogar mit Erfolg.

Die Schlusskapitel des Buches sind eine Beschreibung des Unterganges im Stundentakt. Zitiert wird schließlich der Insolvenzverwalter Michael Jaffé: „Mit einem normalen DAX-Konzern hat Wirecard nicht viel gemeinsam. Die Strukturen der Firma? ‚Völlig intransparent‘“ (Seite 249) Das Buch endet mit den Worten „Game over“. Dem muss man allerdings widersprechen. Das nächste kriminelle Bubenstück kommt ganz bestimmt. Die Frage ist nur, wann es passiert und welche Größenordnung es annimmt.

 

Volker ter Haseborg und Melanie Bergermann: „Die Wirecard Story. Die Geschichte einer Milliarden-Lüge“,
FinanzBuch Verlag, München 2020, 272 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-95972-415-9

Milliardengrab BER – eine unvollständige Bilanz

Am 31. Oktober 2020 wurde der Flughafen Berlin Brandenburg „Willy Brandt“ (BER) am südlichen Stadtrand von Berlin offiziell eröffnet; der im Norden Berlins gelegene Flughafen Tegel soll im Mai 2021 geschlossen werden. Natürlich gibt es schon aus Umweltschutzgründen viele Argumente gegen Flugverkehr und gegen die Eröffnung neuer Großflughäfen. Der Vorgang war demzufolge von lautstarken Protesten begleitet.

Diese Eröffnung war dennoch seit langer Zeit überfällig. In den letzten Jahrzehnten haben nicht wenige Metropolen dieser Welt ihre Flughäfen aus den zugebauten Stadtzentren aufs umliegende Land verlagert. Dies wurde meist mit der begrenzten Kapazität dieser alten Flughäfen begründet. Es gibt es auch medizinische und Sicherheitsgründe, die für einen solchen Umzug sprechen: Lärmbelastung und auch mögliche Absturzkatastrophen treffen außerhalb von Stadtzentren weniger Menschen. Im Falle von Berlin hat der bereits in den 90er Jahren gefasste Beschluss, die kleinen innerstädtischen Flughäfen zugunsten eines Großflughafens zu schließen, allerdings zu einem ungewöhnlichen finanziellen Desaster geführt. In unserer Zeitschrift BIG Business Crime wurde dies in den vergangenen Jahren in mehreren Beiträgen thematisiert.

Aber beginnen wir noch einmal ganz von vorn: Bauherr des Großflughafens ist die „Flughafengesellschaft Berlin Brandenburg GmbH“ (BBI). Diese befindet sich zu 26 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland; jeweils 37 Prozent besitzen die Bundesländer Berlin und Brandenburg. Der Aufsichtsrat des Unternehmers ist seit Gründung mit hochrangigen Politikern bestückt. Die Flughafengesellschaft soll – wie 1996 zwischen der Bundesregierung und den Ländern Berlin und Brandenburg vereinbart – langfristig gesehen privatisiert, also an Investoren aus der Privatwirtschaft verkauft werden. Dies ist allerdings bis heute nicht erfolgt und wird wohl auch in absehbarer Zeit nicht erfolgen. Jedenfalls nicht, solange die Flughafengesellschaft einen immer mehr anschwellenden Schuldenberg mit sich herumschleppt.

 Nach dem ursprünglichen Konzept sollte der zu bauende Großflughafen im Jahr 2007 eröffnet werden. Bei der Höhe der Baukosten ging man damals von zwei Milliarden Euro aus. Ein symbolischer erster Spatenstich erfolgte im September 2006 – tatsächlich begannen die maßgeblichen Bauarbeiten erst im Jahr 2008. Als Eröffnungstermin wurde damals der 30. Oktober 2011 anvisiert. Als dieser sich als unrealistisch erwies, legte man im Jahr 2010 als neuen Termin den 3. Juni 2012 fest. Das mehrfache Verschieben des Eröffnungstermins ging mit einer Kostenexplosion einher. Bereits im Jahr 2006 wurde die Baukostenhöhe auf etwa fünf Milliarden Euro geschätzt.

Das kurzfristige Platzen des Inbetriebnahmetermins im Mai 2012 – unter anderem erwies sich die Brandschutzanlage des Flughafengebäudes als nicht funktionsfähig – entwickelte sich dann zu einem handfesten Politskandal. Die Verantwortlichen schoben sich die Schuld gegenseitig in die Schuhe – mit dem Ergebnis, dass es längere Zeit mit dem Bauprojekt überhaupt nicht voranging. Im September 2012 wurde demzufolge vom Berliner Abgeordnetenhaus ein Untersuchungsausschuss eingesetzt. Besonders die damals im Abgeordnetenhaus vertretene Piratenpartei – ein leider nur kurzlebiger politischer Newcomer, der am Politfilz der vergangenen Jahrzehnte keinerlei Anteil hatte – redete in ihren Berichten Klartext, sprach von chaotischen Zuständen in der Planung und Überwachung des Bauvorhabens, von verfehlten Krisenmanagement sowie von einem kompletten Versagen von Geschäftsführung und Aufsichtsrat. Frühe Warnungen von einem Scheitern des anvisierten Termins seien ignoriert, kritische Stimmen gezielt unterdrückt worden. Im Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses vom Juni 2016 sparten dann auch die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90 / Die Grünen nicht an Kritik am Berliner Politikbetrieb, welcher letztlich das Desaster der verpatzten Flughafeneröffnung in großen Teilen mitverschuldet hatte. 

Die Beseitigung der Mängel, an denen die Eröffnung damals gescheitert war, dadurch notwendig gewordene Umplanungen und Umbauten zogen sich über Jahre hin. Die FAZ bezeichnete im Mai 2020, als sich Fertigstellung und bevorstehende Eröffnung andeuteten, die bevorstehende Inbetriebnahme ironisch als „Wunder von Berlin“. Die Satiresendung „Heute-Show“ betitelte hingegen in ihrer Sendung vom 30. Oktober den BER als „Flughafen des Grauens“.

Dass die Inbetriebnahme des Großflughafens nun gerade in eine Zeit fiel, in der der weltweite Flugverkehr pandemiebedingt in einer massiven Krise steckt, ist natürlich ein Treppenwitz der Geschichte. Und auch, dass sämtliche auf diesem Flugverkehr basierende Rentabilitätsanalysen plötzlich nicht das gedruckte Papier wert sind, auf dem sie stehen. Im Jahr 2020 wird der Betrieb des BER auf jeden Fall ein Zuschussgeschäft bleiben. Die drei Betreiber der Flughafengesellschaft haben, wie es in der „Tagesschau“ vom 31. Oktober hieß, für dieses Jahr bereits eine Finanzspritze von 300 Millionen Euro zugesagt – und für 2021 einen Kredit von weiteren 550 Millionen Euro. Das Betriebsdefizit decken beide Beträge wahrscheinlich nicht.

Was aber wird das missratene Bauvorhaben den deutschen Steuerzahler insgesamt kosten?  Nach der BIG-Redaktion vorliegenden Informationen belaufen sich die reinen Baukosten des BER bis heute auf 5,9 Milliarden Euro. Die wesentlichen Mehrkosten gegenüber der ursprünglichen Schätzung resultieren aus der um Jahre verlängerten Bauzeit, aber auch aus notwendig gewordenen baulichen Erweiterungen gegenüber dem ursprünglichen Konzept, aus den Umbaumaßnahmen an der Entrauchungs- und Sprinkleranlage sowie aus ursprünglich nicht veranschlagten Schallschutzmaßnahmen im Umfeld des Flughafens. Der nicht unbeträchtliche Schuldendienst ist in diesen Baukosten nicht enthalten.

47 Prozent der Baukosten wurden durch (von der öffentlichen Hand verbürgte) Bankkredite der Flughafengesellschaft gedeckt. 39 Prozent der Baukosten gehen direkt zu Lasten der drei Gesellschafter, also der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesländer Berlin und Brandenburg. Der Rest wurde aus Eigenmitteln der Flughafengesellschaft beglichen.

Derzeit ist nicht abzusehen, in welcher Höhe sich der Schuldendienst, also die Verzinsung der aufgenommenen Bankkredite, voraussichtlich bewegen wird. Und es ist nicht einmal klar, ob die Flughafengesellschaft angesichts des massiv eingebrochenen Luftverkehrs jemals so viel Gewinn einfahren wird, dass sie die aufgenommenen Kredite bedienen und schrittweise abbauen kann. Solange dies nicht der Fall ist, werden die Schulden der Gesellschaft weiter steigen. Und es muss befürchtet werden, dass zuletzt doch der Steuerzahler entweder vollständig oder teilweise für diesen Schuldenberg aufkommen muss.

Im Übrigen deutet sich heute schon an, dass der Großflughafen infolge Fehlplanung von der Kapazität her unterdimensioniert ist, demzufolge bei wieder massiv steigenden Passagierzahlen ganz schnell baulich erweitert werden muss. Das nächste Milliardengrab zulasten der öffentlichen Hand ist also bereits absehbar.

 

Verwendete Literatur:

  • Bedszent, Gerd: „Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten“, Nomen Verlag, 2017
  • Bedszent, Gerd: „Berlin-Brandenburgisches Flughafendesaster ist hausgemacht“, in: BIG Business Crime, Ausgabe 3/2015
  • Bedszent, Gerd: „Berlin-Brandenburgisches Flughafendesaster ist hausgemacht – Ein Nachschlag“, in: BIG Business Crime, Ausgabe 4/2015
  • Delius, Martin / Ugarte Chacón, Benedict: „Außer Kontrolle. Zweiter Zwischenbericht der Piratenfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus zum Untersuchungsausschuss BER“
  • Delius, Martin: „Bericht des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Ursachen und Konsequenzen und Verantwortung für die Kosten- und Terminüberschreitungen des im Bau befindlichen Flughafens Berlin Brandenburg Willy Brandt (BER)“ vom 14. Juni 2016 (Drucksache 17/3000)
  • Immel, Michael: „Wird der BER sich jemals rechnen““, „Tagesschau“ vom 31. Oktober 2020
  • Ugarte Chacón, Benedict: „Anhaltender Sinkflug“, in: BIG Business Crime, Ausgabe 2/2014
  • Ugarte Chacón, Benedict: „Sturzflug mit Ansage“, in: BIG Business Crime, Ausgabe 3/2016

Ungleichheit in Coronazeiten

Vorab: Vom Titel des kürzlich erschienenen schmalen Bändchens „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ sollte man sich nicht irritieren lassen – bekanntlich setzt schon der Begriff „Klassengesellschaft“ die Existenz sozialer Ungleichheit voraus.

Der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge gilt als erbitterter Kritiker des modernen Kapitalismus und als Analytiker von dessen sozialen Abgründen. Seine kürzlich beim PapyRossa Verlag erschienene Studie ist insofern besonders lesenswert, als sie sich auch schon mit den bisher absehbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die soziale Ungleichverteilung auseinandersetzt.

Der Autor untersucht in der ersten Hälfte des Bandes die gesellschaftlichen Ursachen von Ungleichheit. Als wesentliche Triebkraft der immer weiter auseinander klaffenden Schere zwischen Arm und Reich macht er – unter Berufung auf Karl Marx – die Klassenstruktur einer Gesellschaft aus. Allein eine an Marx angelehnte Gesellschaftsanalyse sei in der Lage, nicht nur Herrschaftsverhältnisse offenzulegen, sondern auch deren Wurzeln in den jeweiligen Produktionsverhältnissen aufzuzeigen. Nur so könnten „Armut oder sozialer Abstieg als kollektives Schicksal begriffen (werden), das strukturelle Ursachen hat, und nicht als individuelles Versagen der Betroffenen missdeutet“.

Butterwegge benennt in der Folge weitere Ansätze namhafter Theoretiker, die sich gleichfalls an einer Analyse der modernen kapitalistischen Gesellschaft versucht haben. Sehr lesenswert ist ein längerer Abschnitt, der sich mit der Fundamentalkritik des Psychologen Rainer Mausfeld an der kapitalistischen Elitendemokratie beschäftigt. Laut Mausfeld beruhe diese nämlich auf einer mittels umfänglicher Manipulationstechniken erreichten Umwandlung von ökonomischer in politische Macht. Das Resultat sei eine Verrechtlichung, durch welche die „organisierte Kriminalität der besitzenden Klasse (…) nicht nur legalisiert, sondern auch zeitlich verfestigt und gegen mögliche demokratische Eingriffe abgedichtet“ werde. Butterwegge beschränkt sich leider nur auf eine Wiedergabe dieser These.

Im folgenden Abschnitt über moderne Finanzmärkte und die Entwicklung der sozialen Klassen beschreibt Butterwegge die letzten Jahrzehnte in der Bundesrepublik als einen „Wandel vom ‚rheinischen‘ zum schweinischen Kapitalismus“. Letzteren charakterisiert er unter ausdrücklichem Bezug auf den im Juni/Juli 2020 aufgedeckten Skandal beim Tönnies-Fleischkonzern als System, das „brutale Ausbeutung, drastische Entrechtung der Beschäftigten, systematisches Lohn- und Sozialdumping, skrupellose Leuteschinderei und massenhafte Tierquälerei duldet“. Starke Worte, aber treffsicher.

Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Zusammenfassung einer – ursprünglich von Werner Rügemer vorgenommenen – Strukturanalyse des derzeit bereits sehr dichten und immer umfangreicher werdenden Beziehungsgeflechts weltweit agierender Finanzmarktakteure. Ob die von Butterwegge sehr zu Recht angeprangerten sozialen Grausamkeiten des Neoliberalismus nun auf perfiden Strategien dieser Finanzunternehmen basieren oder ob die explosionsartige Vermehrung des auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten um den Globus vagabundierenden Finanzkapitals nicht ein spätes Produkt der schon vor Jahrzehnten losgetretenen neoliberalen Welle ist – darüber lässt sich sicher streiten.

Das abschließende Kapitel des Buches untersucht die „Haupterscheinungsformen der Ungleichheit“ bei den Einkommen und Vermögen, im Gesundheitsbereich, im Bildungssektor und beim Wohnen. Butterwegge liefert hier zahlreiche Daten und Analysen zur akuten Verschlechterung der Lage der Bevölkerungsmehrheit, darunter auch viele, die im allgemeinen Nachrichtenbrei entweder untergegangen oder gar nicht vorgekommen sind.

Dass die deutsche Wiedervereinigung des Jahres 1990 eine riesige soziale Umverteilung zugunsten der großen Kapitalgruppen bewirkt hat, ist an sich bekannt. Die von Butterwegge dokumentierte Befürchtung namhafter Ökonomen, auf die Pandemie und den im März 2020 bundesweit verfügten Lockdown könne langfristig gesehen eine weitere massive Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich folgen, wird von den meisten Medien derzeit ausgeblendet.

Auch, dass das Infektionsrisiko durchaus nicht gleich verteilt ist – Arbeitslose und Arme trifft es eher. Butterwegge erinnert in diesem Zusammenhang an die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters, bei deren Ausbruch die Reichen sich schnell auf ihre Landsitze zurückzogen und so meist einer Ansteckung entgingen. Hauptopfer einer Pandemie seien immer die Armen der jeweils heimgesuchten Gesellschaft. Der Autor bringt es an anderer Stelle noch treffender auf den Punkt: „Wer arm ist, muss eher sterben.“

Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft.
Papyrossa Verlag, Köln 2020, 183 Seiten, 14,90 Euro

 

 

 

Desaster der Privatisierung

 Zum Trauerspiel um die Privatisierung der Deutschen Bahn und deren destruktive Folgen ist schon viel geschrieben worden. Und es dürfte mehr als wahrscheinlich sein, dass die Bundesregierung die kürzlich beschlossene gigantomanische Neuverschuldung demnächst zum Anlass für eine neue Privatisierungswelle nimmt. Dies würde die bereits arg gerupfte verkehrstechnische Infrastruktur der Bundesrepublik ganz sicher noch weiter beschädigen. Insofern sollte man das kürzlich erschienene Buch „Schaden in der Oberleitung“ des Journalisten und ausgewiesenen Bahnspezialisten Arno Luik unbedingt zur Kenntnis nehmen.

Luik beginnt sein Buch mit einer Beschreibung des milliardenträchtigen, dafür aber verkehrstechnisch völlig unsinnigen Umbaus des Stuttgarter Hauptbahnhofs – für den Autor ein Symbol der in unserer Gegenwart fortschreitenden Zerstörung der Bahn. Der Protest breiter Bevölkerungskreise ging damals durch alle Medien und beförderte sogar einen Wechsel der Landesregierung. Bewirken tat dies freilich gar nichts – die Weichen waren längst in eine andere Richtung gestellt. Nachdem der Protest wieder aus den Medien verschwunden war, wurde das Projekt dann entgegen jeder Logik weiter umgesetzt.

Das angekündigte Desaster um „Stuttgart 21“ ist für den Autor jedoch nur der Aufhänger für eine Generalabrechnung mit der Bahnprivatisierung insgesamt. Aus einer angeblich ineffizienten, insgesamt aber funktionierenden staatseigenen Behörde wurde binnen weniger Jahrzehnte ein undurchschaubares Geflecht formell eigenständiger Firmen. Diese sind zwar mehrheitlich immer noch zu 100 Prozent im Staatsbesitz und werden vom Finanzministerium reichlich subventioniert. Ihr Management gehorcht jedoch einer eigenen, von betriebswirtschaftlichen Interessen diktierten Logik. Und diese ist mit den Interessen der Bahnnutzer meist nicht kompatibel. Erwirtschafteter Gewinn versickert in den Tiefen undurchsichtiger Projekte und in den Taschen führender Mitarbeiter – für Verluste muss immer der Steuerzahler aufkommen.

Luik zitiert reihenweise Ingenieure und andere langjährige Bahnmitarbeiter, die permanent auf gravierende Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen sowie gegen elementare Regeln der Technik hinweisen und deren Kassandrarufe vom Management zumeist nicht zur Kenntnis genommen werden. Das Buch erinnert auch an die Stilllegung zahlreicher vermeintlich „unrentabler“ Strecken sowie an Außerbetriebnahme und Verkauf zahlreicher Bahnhofsgebäude. Tatsächlich lief die Verkehrspolitik der letzten Jahre wohl hauptsächlich auf eine Förderung der großen Autokonzerne zuungunsten der Eisenbahn hinaus. Und der Steuerzahler, aus dessen Taschen die Umgestaltung der Bahn finanziert wurde, bezahlte letztlich dafür, dass Bahnfahren immer teurer, immer schlechter, immer umweltzerstörender und auch – wegen aus Kostengründen aufgeweichter Sicherheitsbestimmungen – immer lebensgefährlicher wurde. Und außerdem dafür, dass sich Immobilienspekulanten und ähnliche Figuren an der Verschleuderung bisher bahneigener Grundstücke und Gebäude eine goldene Nase verdienen konnten.

Der Autor nennt diese Entwicklung einen „großen Eisenbahnraub“, watscht gnadenlos alle seit 1990 amtierenden Bahnchefs und Verkehrsminister ab, die an selbigem beteiligt waren. Luik zitiert zahlreiche zu Beginn der Bahnprivatisierung verkündete „Visionen“, vergleicht sie mit den tatsächlichen Resultaten der Privatisierungspolitik und stellt die angeblichen Visionäre als genau die unfähigen und inkompetenten „Macher“ dar, die sie tatsächlich auch sind. Wobei sie zwar einen katastrophalen, aber auch noch gut bezahlten Job machten. Im Buch wird die durchweg miserable Bezahlung der Bahnmitarbeiter dokumentiert und mit den millionenschweren Boni und Abfindungen des höheren Managements verglichen.

Gegen Ende des Buches fordert der Autor dann ganz offen, die aus seiner Sicht völlig verrückte Verkehrspolitik der letzten 30 Jahre wieder zurückzudrehen.

Dass die genannte Verrücktheit, die hier nicht bestritten werden soll, in eine ebenso verrückte Systemlogik eingebettet ist, schreibt der Autor leider nicht. Daher abschließend ein persönlicher Kommentar des Rezensenten. Wenn sich jemand in einem späteren Jahrhundert einmal daranmachen sollte, die Geschichte unserer kapitalistischen Gesellschaft aufzuschreiben, so wird deren Anfang vermutlich wie folgt lauten: „Damit der Kapitalismus überhaupt funktionieren konnte, zwangen dessen Macher anfangs die Bevölkerung, unter gewaltigen Anstrengungen eine gigantische Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen. Und dann fraßen eben diese Macher diese Infrastruktur aus nicht zu stillender Geldgier wieder auf.“

Arno Luik: Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn

Westend Verlag, Frankfurt am Main 2019
293 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 978-3-86489-267-7

Clan-Kriminalität in Vergangenheit und Gegenwart

In den Medien taucht in jüngster Zeit vermehrt der Begriff „Clan-Kriminalität“ auf. Gemeint sind zumeist Strukturen der Organisierten Kriminalität, die sich personell aus Angehörigen ethnischer Minderheiten zusammensetzen. Diese kriminellen Strukturen gelten als extrem patriarchal organisiert und auf Grundlage eines anachronistischen Wertesystem handelnd. Das Eindringen von verdeckten Ermittlern in solche in sich abgeschotteten Clans gilt nach Auffassung von Kriminologen als außerordentlich schwierig.

Die Ursachen für das Auftreten von Clan-Kriminalität in Deutschland werden zumeist in der seit den 1980er Jahren andauernden Migration aus dem nahöstlichen Raum ausgemacht. Im Zusammenhang mit Straftaten, die diesen kriminellen Clans zugeschrieben werden oder die nachweislich von ihnen verübt wurden, skandieren rechtsradikale Propagandisten mit ermüdender Regelmäßigkeit Parolen wie „Grenzen dicht!“, „Deutschland den Deutschen!“ und seit einiger Zeit auch „Merkel muss weg!“. Ist die Clan-Kriminalität in den entwickelten kapitalistischen Zentren aber tatsächlich ein Produkt der Globalisierung unserer Neuzeit – so wie sie sie von rechten Denkfabriken gern dargestellt wird? Tatsächlich ist nur der Begriff neu, nicht aber das Phänomen selbst.

Wanderungen größerer Menschengruppen hat es schon immer gegeben. Organisiertes Verbrechen gibt es, seit Gesetze zur Regulierung wirtschaftlicher Aktivitäten erlassen und durchgesetzt werden. Und Gruppen von Migrant*innen, zumal dann, wenn diese bewusst ausgegrenzt und diskriminiert werden, neigen naturgemäß dazu, in sich geschlossene Wirtschaftseinheiten auf der Basis ethnischer Herkunft oder religiösem Bekenntnis ihrer Akteure zu schaffen. In solchen Strukturen herrschen dann andere Regularien und Moralvorstellungen als in der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft. Bei den von kriminellen Clans des 19. Jahrhunderts verübten Straftaten handelte es sich übrigens zum großen Teil um Armutskriminalität. Nur selten schafften die Anführer solcher Clans den Sprung in die große Geschäftswelt. So etwas wurde dann erst im frühen 20. Jahrhundert möglich.

Gehen wir aber einmal zurück in das 19. Jahrhundert und greifen uns als Beispiel die USA heraus: heute eine kapitalistische Großmacht, damals ein aufstrebendes Entwicklungsland, welches gerade die einengenden Zwänge der britischen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte. Bekanntlich besteht die Bevölkerung der USA fast ausschließlich aus Migrant*innen und deren Nachkommen; der Anteil indigener Bevölkerungsgruppen ist extrem gering. Die USA gilt in ihrem Selbstverständnis als kultureller Schmelztiegel – danach nahmen die meisten nicht englischsprachigen Einwanderer*innen relativ schnell Sprache und Kultur der Bevölkerungsmehrheit an. Es lohnt sich allerdings, dieses Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen.

Noch bei der ersten Volkszählung des Jahres 1790 gaben etwa 80 Prozent der Bevölkerung des neugegründeten Staates zur Frage ihrer nationalen Herkunft England, Schottland, Wales und Nordirland an. Zwar stammten schon damals größere Bevölkerungsgruppen aus Deutschland, Irland, den Niederlanden, Frankreich und Schweden. Die ganz großen Migrationsschübe aus nicht-englischsprachigen Ländern kamen jedoch erst danach über den Großen Teich. Und diese Migrant*innen wurden von den bereits ansässigen und integrierten Bevölkerungsgruppen keineswegs immer willkommen geheißen.

Die Ursachen für die großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts waren in etwa dieselben, wie in unserer Gegenwart auch: Kriege, Hungersnöte, Massenarbeitslosigkeit, ausufernde staatliche Repression… Allein in den 1840er Jahren flüchteten beispielsweise wegen einer Hungerkatastrophe etwa zwei Millionen Menschen aus dem britisch beherrschten Irland; etwa eine Million der Irininnen und Iren, die im Land geblieben waren, verhungerte. Mehrere Millionen Menschen verließen etwas später das von Wirtschaftskrisen und heftigen sozialen Unruhen geschüttelte Königreich Italien. Allein von 1906 bis 1910 ließen sich etwa zwei Millionen Italiener in den USA nieder. Die Ankömmlinge aus diesen überwiegend katholischen Ländern bildeten für lange Zeit Parallelgesellschaften in den protestantisch dominierten USA. Die Mafia-Netzwerke, welche ihre Wurzeln in der italienischen Einwanderung hatten, sind legendär und bilden bis in unsere Gegenwart hinein den historischen Hintergrund für zahlreiche gelungene oder auch weniger gut gelungene Hollywoodfilme.

Das Schicksal der Armutsflüchtlinge aus Irland ist hingegen kaum ins öffentliche Bewusstsein unserer Gegenwart eingegangen. Diese Bevölkerungsgruppe war im 19. Jahrhundert heftig diskriminiert, bildete lange Zeit den Bodensatz der US-Gesellschaft. Die Mehrzahl der bettelarm ankommenden Iren war weder gewillt noch verfügten sie über die finanziellen Mittel, sich irgendwo im Landesinneren eine bürgerliche Existenz aufzubauen. In den Hafenstädten an der Ostküste der USA bildeten sich demzufolge fast ausschließlich irisch bewohnte Armutsviertel, die von kriminellen Banden beherrscht wurden. In ähnlich abgeschlossenen Wohnvierteln hausten damals übrigens auch andere ethnische Minderheiten. Nach den Iren waren die Einwanderer aus den deutschen Kleinstaaten und aus der Schweiz die zweitgrößte Nationalität. Von einem multikulturellen „Schmelztiegel“ konnte damals zumindest an der Ostküste der USA keine Rede sein. Vor allem die Stadt New York wurde Schauplatz mittels brutaler Gewalt ausgetragener Bandenkriege, regelmäßig flankiert von Hungeraufständen, Krawallen und Plünderungen wohlhabender Viertel.

Banden irischer Elendsmigrant*innen bekämpften einander, schlossen aber auch Bündnisse gegen andere Banden, die sich entweder aus Einheimischen oder aber aus Angehörigen anderer Minderheiten rekrutierten. Die Bevölkerung der irisch dominierten Wohnviertel stützte sich auf die Bandenstrukturen, um sich gegen Angriffe von Polizei und Nationalgarde zur Wehr setzen zu können. Die Banden waren aber auch tragende Kraft bei rassistischen Pogromen, die sich hauptsächlich gegen Angehörige der afroamerikanischen Minderheit richteten.

In die Geschichte eingegangen sind vor allem die „Draft Riots“ von 1863, ein Aufstand der irischen Bevölkerungsgruppe der Stadt New York, der sich gegen die während des US-amerikanischen Bürgerkrieges dekretierte Einführung der Wehrpflicht richtete. Die Militärführung der Nordstaaten musste damals mehrere Regimenter von der Front abziehen, um die in der Stadt ausufernde Gewalt samt Plünderungen beenden zu können. Der 2002 produzierte und mehrfach ausgezeichnete Monumentalfilm „Gangs of New York“ (Regie: Martin Scorsese) spielt vor dem Hintergrund dieser Ereignisse. Das Drehbuch benutzte als Quelle das gleichnamige Buch des US-amerikanischen Kriminalhistorikers Herbert Asbury.

Was aber war die ökonomische Basis dieser Bandenherrschaft? Wie Asbury in seinem Buch beschreibt, erhoben die Bandenführer Schutzgelder von den in solch abgeschotteten Vierteln wie Pilze aus dem Boden schießenden Kneipen, Tanzlokalen, Spielhöllen, Schnapsbrennereien und Bordellen oder aber sie betrieben solche Unternehmen selbst. Da die Staatsmacht in den von Banden beherrschten Vierteln faktisch ohnmächtig war, bezahlten die in ihnen aktiven Unternehmen keine oder fast keine Steuern und Abgaben, brauchten sich beim Betreiben ihrer Einrichtungen auch an keinerlei öffentliche Vorgaben und Regularien zu halten. Die Banden profitierten also von den von ihnen selbst geschaffenen rechtsfreien Räumen.

Wie es in Asburys Buch weiter heißt, konnten sie aber auch deshalb weitgehend ungestört agieren, weil maßgebliche Politiker der damals in den USA in Entstehung begriffenen Parteienlandschaft sich von den kriminellen Netzwerken Vorteile erhofften und Bündnisse mit den wichtigsten Bandenführern geschlossen hatten. Besonders heftig bekämpften die irischen Banden damals Gegner der Sklaverei, da sie – nicht ganz zu Unrecht – im Falle einer allgemeinen Sklavenbefreiung einen Zustrom von Afroamerikanern aus den Südstaaten in die bisher von ihnen kontrollierten Städte des Nordens befürchteten. Die Bandenführer organisierten im Auftrag von Politikern, die eine Abschaffung der Sklaverei ebenfalls ablehnten, Stimmenkauf und ganz unverfrorene Wahlfälschungen. Im Gegenzug versprachen Politiker den Banden, sich für die schnellstmögliche Einbürgerung der von ihnen repräsentierten Einwanderergruppen einzusetzen.

Zusätzlich zum Erheben von Schutzgeldern und dem Betreiben illegaler Einrichtungen kam in den von Banden beherrschen Gebieten natürlich noch die ganz normale Straßenkriminalität hinzu: Diebstahl, Raubmord, Piraterie, Schmuggel, Einbruch, Hehlerei… Die Staatsgewalt reagierte auf die zunehmende Rechtsunsicherheit damit, dass auf frischer Tat ertappte Straftäter oft nach einem eher kurzen Prozess sofort gehängt wurden. Wie Asbury schreibt, wurden allein im Jahre 1860 in der Stadt New York mehr als 58.000 Personen wegen verschiedener Verbrechen verurteilt; etwa 80 Prozent von ihnen waren nicht in den USA geboren (Asbury, Seite 147).

Bei den bereits genannten „Draft Riots“ des Jahres 1863 brauchte das Militär der Nordstaaten vier Tage, um die in New York ausufernden Plünderungen und Gewalttaten zu beenden. Bei den Unruhen sollten etwa 2000 Menschen ums Leben gekommen sein; 100 Gebäude wurden niedergebrannt, 200 geplündert und verwüstet (Asbury, Seite 203). Wie Asbury in seinem Buch meint, flauten die Bandenkriege dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab, ganz beendet wurden sie aber erst um das Jahr 1910. Dies ist kein Zufall.

Die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges massiv expandierende fordistische Industrieproduktion (Fließbandfertigung) entwickelte vorübergehend einen Riesenhunger nach Arbeitskräften. Die Einbeziehung der Bevölkerung der bisher weitgehend abgeschotteten Einwandererviertel in die Fabrikarbeit erreichte in vergleichsweise kurzer Zeit genau das, was zuvor weder Schnellgerichte noch knüppelschwingende Polizeitrupps und schießwütige Nationalgardisten vermocht hatten: das Ende der kriminellen Clans. Die in sich abgeschotteten Familienzusammenhänge lockerten sich. Die neu heranwachsende Generation ergriff ihre Chance und verließ die Armutsghettos. Schutzgelderpresser mutierten zu Polizeibeamten, Bandenführer zu vermeintlich seriösen Geschäftsleuten, Kleinkriminelle zu gewerkschaftlich organisierten Fließbandarbeitern.

Die US-Gesellschaft war dann zumindest in ihren Industrieregionen an der Ost- und Westküste mehrere Jahrzehnte lang wirklich der kulturelle Schmelztiegel, als der sie sich bis heute gern präsentiert. Ähnlich verlief die Entwicklung übrigens auch in anderen Industriestaaten. Bei zahlreichen Einwohnern des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen erinnert heute noch der polnisch klingende Namen daran, dass es sich um Nachfahren von Bergleuten aus Schlesien handelt, die man ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das damals wirtschaftlich florierende Ruhrgebiet geholt hatte.

Woraus resultiert nun aber die in unserer Gegenwart unübersehbare Wiederauferstehung von Armutsvierteln in den Städten samt sich darin entwickelnder Clan-Kriminalität? Ist sie das Ergebnis der gnadenlosen Durchrationalisierung von Industrieproduktion durch neoliberal geschultes Management während der letzten Jahre und Jahrzehnte? Ist es die weltweite Zunahme industriell betriebener Agrarproduktion inklusive massivem Arbeitskräfteabbau? Ist es das absehbare Ende der Expansion des Kapitalismus, welcher sich mittlerweile auch auf die allerletzten Regionen unseres Planeten ausgebreitet hat? Ist es der Zusammenbruch von Versuchen nachholender Modernisierung in zahlreichen Staaten Afrikas und Asiens? Oder all das zusammen? Oder ist es schlicht das Fehlen von Verteilungsgerechtigkeit unter den Bedingungen kapitalistischen Wirtschaftens?

Im verqueren Weltbild von derzeit (leider) im Aufwind befindlichen rechtsradikalen Politaktivisten kommt dergleichen natürlich alles nicht vor. Von diesen propagierte Rezepturen gegen die unbestreitbare zunehmende Clan-Kriminalität sind nichts als eine Neuauflage von all dem, was im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Sachen staatlicher Repression ausprobiert wurde, letztlich kaum etwas bewirkt hat und auch nichts hätte bewirken können.

Es ist übrigens bezeichnend, dass es sich bei den rechtsradikalen Politaktivisten in Deutschland nicht selten um vorbestrafte Kleinkriminelle handelt – bekannte Figur: der PEGIDA-Gründer Lutz Bachmann. Und vor einiger Zeit konnten findige Journalisten ermitteln, dass ausgerechnet die sich als Ordnungspartei, als Interessenvertreterin von Polizei und Militär präsentierende AfD selbst ein Problem in Sachen Kriminalität hat: Der Anteil von vorbestraften Mandatsträgern ist bei ihr nachweislich wesentlich höher, als bei allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien (Kock / Müller). Dies mag verwundern, aber nur auf den ersten Blick. Gewesene oder Noch-Beamte sind auch nur Menschen und demzufolge für Straftaten anfällig. Und die Geschichte hat gezeigt, dass sich in repressiven Diktaturen deren führende Repräsentanten oftmals ganz ungeniert die Taschen vollstopften.

In der Bundesrepublik wurde bisher mehr oder auch weniger erfolgreich versucht, einer beginnenden Ghettoisierung von Minderheiten gegenzusteuern, kriminellen Clans so den Boden zu entziehen oder ihren Vormarsch zumindest auszubremsen. Für die im ebenfalls Vormarsch befindliche Rechte sind Sozialprojekte zur Förderung von Angehörigen ethnische Minderheiten hingegen ein Werk des Teufels. Nachgewiesene Fälle von Clan-Kriminalität werden dahingehend instrumentalisiert, solche Förderungen ganz zu streichen.

Es handelt sich bei der Ideologie rechter Parteien und zunehmend auch von Politikern der sogenannten bürgerlichen Mitte schlicht um die Propagierung von Verteilungskämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen um knapper werdende Soziallleistungen. Der Rückblick auf in der Vergangenheit tobende Bandenkriege zeigt, zu was für Zuständen die Umsetzung einer solchen Ideologie letztlich führen kann.

 

Verwendete Literatur

Herbert Asbury: „Gangs of New York“, Wilhelm Heyne Verlag, München 2003

Alexej Kock / Uwe Müller: „Fast jeder zehnte AfD-Abgeordnete hat Ärger mit dem Gesetz“, in: „Die Welt“ vom 6. Mai 2018

Gerd Bedszent
lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2020 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.

Die permanente Angst

Aus den Fabriken des Todes: Mordechai Striglers “Werk C” liegt in deutscher Übersetzung vor

Das Buch “Werk C” ist das dritte von insgesamt vier Büchern des Journalisten Mordechai Strigler (1918–1998). Dieser überlebte im besetzten Polen und in Deutschland insgesamt zwölf Ghettos und Konzentrationslager, darunter das Vernichtungslager Majdanek. Mehrere seiner Verwandten wurden umgebracht. Im April 1945 in Buchenwald befreit, sagte er vor einem Untersuchungsausschuss der US-Armee zu den Verbrechen der Nazis aus. In den Folgejahren legte Strigler, der nach dem Krieg in Paris und ab 1952 in New York lebte, seine Erinnerungen schriftlich nieder. Das Ergebnis ist die Tetralogie “Verloschene Lichter”, die ursprünglich in jiddischer Sprache erschien und derzeit vom Verlag zu Klampen erstmals in deutscher Übersetzung herausgebracht wird. Die beiden ersten Bände “Majdanek” und “In den Fabriken des Todes” erschienen 2016 und 2017 (siehe jW vom 21. August 2017). Der die Reihe abschließende vierte Band ist noch in Arbeit.

Beim titelgebenden “Werk C” handelte es sich um eine von einem Leipziger Unternehmen, der Hugo-Schneider-Aktiengesellschaft (HASAG), betriebene Munitionsfabrik im besetzten Polen. In dieser mussten überwiegend jüdische Häftlinge des Arbeitslagers Skarzysko-Kamienna Granaten und Seeminen für die Wehrmacht herstellen. Strigler hatte im zweiten Band seine Ankunft und die ersten Wochen im Lager geschildert. In der jetzt vorliegenden Fortsetzung beschreibt er die Fabrik als “großes Rad des wahnsinnigen Todes, das Menschen hineinzieht und ihnen das Blut aussaugt”.

Der Autor liefert in seinen Büchern keine Beschreibung von Widerstandsaktionen, sondern thematisiert das Grauen des Arbeits- und Lageralltags, wie ihn die Mehrzahl der jüdischen Häftlinge erlebte. Dieser Alltag bestand vor allem aus Hunger, dem täglichen Kampf um einen Napf Suppe und einen Kanten Brot, aus extrem gesundheitsschädigender Schwerstarbeit, aus Schlägen samt Schikanen von Seiten des Aufsichtspersonals und privilegierter Häftlinge der Lagerverwaltung. Und aus der permanenten Angst, krank zu werden und zu schwach für die Arbeit. Denn dann wurde man entweder vom Werkschutz in den umliegenden Wäldern erschossen oder aber auf “Transport” zurück in eines der Vernichtungslager geschickt. Bei der mit höchstem Tempo zu leistenden Arbeit kam es oft zu Unfällen; nicht wenige Häftlinge wurden in den Fabrikhallen von explodierenden Granaten zerrissen. Tausende überlebten die Arbeit in der Fabrik nicht.

Der übergroße Teil der bekannten Erinnerungsliteratur von Shoa-Überlebenden wurde von jüdischen Häftlingen geschrieben, die in ihren Heimatländern als “assimiliert” galten und es häufig geschafft hatten, in irgendeiner Funktion der Lagerverwaltung das Grauen der Massenvernichtung und des mörderischen Lageralltags zu überleben. Aus Angehörigen dieser Minderheit rekrutierten sich auch die sozialistisch oder zionistisch geprägten Widerstandsgruppen, die den Vernichtungsaktionen der Nazis stellenweise erbitterten Widerstand entgegensetzten und von denen einige im Untergrund überlebten. Strigler, der sein Überleben wohl ebenfalls dem Aufstieg in den Kreis der “Funktionshäftlinge” verdankt, schreibt hingegen aus der Sicht der religiös geprägten und gänzlich unpolitischen Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Polens, die den größten Anteil der in den Lagern Ermordeten ausmachte.

Die Lektüre der Bände Striglers ist in weiten Teilen verstörend und schwer erträglich. Der Autor thematisiert ohne Verklausulierung die Beteiligung von baltischen und ukrainischen “Hilfskräften” der SS an den Massenmorden und die duldende Mittäterschaft polnischer Antisemiten, die sich den Besatzern andienten. Existierte denn, wie der Herausgeber im Vorwort fragt, in dieser Welt des Grauens gar keine Solidarität der Opfer des Naziregimes untereinander? Doch, so etwas gab es. Um darauf zu stoßen, muss man das Buch aber sehr genau lesen.

Strigler porträtiert beispielsweise einen polnischen Arbeiter, der sich nicht an Schikanen und der Ausplünderung der Häftlinge beteiligt, ihnen sogar hin und wieder etwas zu essen zusteckt. Seine Einweisung des neu in der Werkhalle angekommenen Häftlings liest sich fast wie eine Anleitung zur Sabotage: “Mich stört es wenig, wenn die Granate an der Front nicht explodiert (…) Lass uns hoffen, dass es tatsächlich wirkt und ein paar Menschen am Leben bleiben.” An einer anderen Stelle beginnen weibliche Häftlinge plötzlich Lieder der jüdischen Arbeiterbewegung zu singen. Gegen Ende des Buches schildert der Autor zaghafte Versuche einer Selbstorganisation der Häftlinge. So wird ein hochschwangeres Mädchen abgeschirmt, um sie und ihr Kind zu retten.

Dem letzten Band der Tetralogie kann man mit Interesse entgegensehen. Für das sehr informative Vorwort des jüngsten Bandes und die zahlreichen erläuternden Fußnoten sei Herausgeber Frank Beer und dem Verlag zu Klampen ausdrücklich gedankt.

Mordechai Strigler (Hrsg. Frank Beer): Werk C. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Übersetzung: Sigrid Beisel. Verlag zu Klampen, Springe 2019, 453 Seiten, 32 Euro

Die Rezension erschien in der vorliegenden Form bereits am 09. Dezember 2019 in der Tageszeitung „junge Welt“ (www.jungewelt.de) auf der Seite „Politisches Buch“. Die beiden ersten Bände von Mordechai Strigler „Majdanek“ und „In den Fabriken des Todes“ wurden in der Ausgabe 4/2017 von BIG Business Crime ausführlich rezensiert.

Der Gott des Geldes

 

Eine junge Frau wird beschuldigt, durch Hochverrat einen mehrere Tage andauernden wirtschaftlichen Zusammenbruch mitverschuldet zu haben. In dieser Zeit herrschte in Deutschland das nackte Chaos, über hundert Menschen starben, hunderte wurden verletzt. Es entstand ein Schaden in Milliardenhöhe. Die junge Frau beteuert ihre Unschuld. Ist sie unschuldig?

In der den Großteil des hier rezensierten Buches umfassenden Rückblende kann der Leser die Beschuldigte als zunächst arglose und nichtsahnende Bankkundin erleben, bevor ein Wirrwarr unvermittelt hereinbrechender Abenteuer sie aus der Bahn wirft. Ereignisse, in die, wie sich herausstellt, auch höhere Bankmitarbeiter und Polizeibeamte verstrickt sind. Auf eine fehlerhafte Geldabhebung folgt ein Kidnapping, auf dieses folgen dann irrwitzige Verfolgungsjagden durch eine im Chaos versinkende Stadt. Denn bei der einen fehlerhaften Abhebung war es nicht geblieben. Zuerst brach eine Bank zusammen, dann eine zweite und schließlich schaffte ein geheimnisvoller Unbekannter den Einbruch ins Allerheiligste: die Zentrale der Bundesbank. Währenddessen sitzt die vermeintliche Mittäterin in Beugehaft und überlegt verzweifelt, wie sie ihrem Sohn seine lebenswichtigen Medikation zukommen lassen kann.

Ist der Zusammenbruch des deutschen Finanzwesens nun das Werk hinterlistiger russischen Hacker? Oder stecken ganz andere Personen hinter dem Bankencrash? Eine Erpressung? Aber warum gibt es dann keine Forderung? Der Einzige, der darüber Auskunft geben könnte, ist und bleibt verschwunden.
Als Folge des Crashs müssen sich große Teile der Bevölkerung jedenfalls ernsthaft überlegen, wie man ohne Bargeld in einer immer brutaler agierenden Gesellschaft klarkommt. Unbesoldete Polizisten weigern sich nämlich, ihren Dienst weiter zu versehen. Polizei- und Militärführung streiten sich über Kompetenzen, während die Preise für Sachwerte ins Unermessliche steigen und aufgebrachte Demonstranten die Kanzlerin mit Steinen bewerfen…

Dass der Autor Gerhart J. Rekel mit seinem Thriller etwas drastisch an die mittlerweile fast vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwundene Finanzkrise des Jahres 2008 erinnert, macht ihn sympathisch. Und dass Finanzhaie im Verlaufe seines Romans nicht gerade als Sympathieträger herüberkommen, ebenfalls. Rekel hat allerdings noch nicht so richtig mitbekommen, dass derzeit ganz andere Leute die deutsche Kanzlerin mit Wurfgeschossen bombardieren wollen. Als Österreicher mag man ihm das jedoch nachsehen.

Aber ob, wie der Autor im Verlauf der Romanhandlung suggeriert, einfach nur ein heftiger Schreckschuss genügen würde, damit irgendwelche ominösen Verantwortlichen zur Vernunft kommen und nun endlich das weltweit verschachtelte Banken- und Finanzsystem reformieren, sollte man doch eher bezweifeln. Schließlich ist nach der Krise immer gleichzeitig vor der nächsten Krise. So war es stets und so wird es bleiben. Jedenfalls solange, wie wir Kapitalismus haben.

Gerhard J. Rekel: Der Gott des Geldes, Roman, Verlag Wortreich, 2018,
ISBN 978-3-903091, 275 Seiten, 14,90 Euro

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.

 

Putsch für mehr Elektronikschrott

Die Existenz des chemischen Elementes Lithium ist seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt, Mitte des 19. Jahrhunderts wurde es erstmals in Reinform gewonnen. Die industrielle Verwertung des Alkalimetalls und seiner Verbindungen hielt sich jedoch bis zum Ende des 2. Weltkriegs sehr in Grenzen. Ein Bedarf an größeren Mengen entstand erst während des Kalten Krieges. Das Militär benötigte damals Lithium für die Entwicklung und den Bau von Wasserstoffbomben – welche aber glücklicherweise nie zum Einsatz kamen.

In den 1980er Jahren wurde von britischen Wissenschaftlern die Möglichkeit des Baus neuartiger Akkumulatoren unter Verwendung von Lithium-Ionen entwickelt. Ein erster kommerziell nutzbarer Lithium-Ionen-Akkumulator wurde 1991 von einem japanischen Unternehmen auf den Markt gebracht. Bis in unserer Gegenwart hinein werden auf diesem Prinzip beruhende Akkumulatoren hergestellt und finden in einer Vielzahl von Geräten Anwendung. Ein großer Teil des vom US-Militär angehäuften Lithiumvorrates konnte dadurch für zivile Zwecke verwendet werden.

Mit dem Beginn des Zeitalters von Internet und der Handymania erhöhte sich die Nachfrage nach dem zuvor kaum beachteten Rohstoff Lithium schlagartig. Und kürzlich tat sich noch eine weitere Verwendungsmöglichkeit auf: Das Elektroauto. Dessen Umweltbilanz ist zwar heftig umstritten. Das Schrumpfen der weltweit bekannten Erdöllagerstätten veranlasste aber nicht wenige Autohersteller, dennoch in diese Technologie zu investieren.

Mit wachsendem Bedarf an Lithium setzte während der letzten Jahre eine fieberhafte Suche nach weiteren Lagerstätten ein. Fündig wurde man unter anderem im Zentrum Südamerikas, in Bolivien. Der abgelegene Andenstaat verfügt über Salzwasserseen, aus denen vergleichsweise kostengünstig Lithiumhydroxid gewonnen werden kann. Als tatsächlich ein Vertrag zwischen dem bolivianischen Staatsunternehmen YLB und dem in Baden-Württemberg beheimateten Unternehmen ACI Systems Alemania (ACISA) über die gemeinsame Förderung und Verarbeitung von Lithium aus dem Salzsee Uyuni zustande kam, überschlugen sich deutsche Politiker und Unternehmenssprecher in begeisterten Kommentaren. Dass Bolivien von einem Präsidenten regiert wird, der als Interessenvertreter von Gewerkschaften und landwirtschaftlichen Kooperativen an die Macht kam, geriet während dieser Euphorie vorübergehend in den Hintergrund.

Bolivien gilt als wirtschaftlich unterentwickelt und als ärmster Staat Südamerikas. Das Land verfügt zwar über einige Erdgaslagerstätten. Diese waren mit der neoliberalen Welle unter dem Druck westlicher Geldgeber privatisiert worden. Da ausländische Konzerne hauptsächlich mit eigenen Spezialisten arbeiten, ging der geförderte Reichtum demzufolge an der Bevölkerungsmehrheit vorbei. Ein weiterer Grund für Unzufriedenheit war das Antidrogenprogramm der USA. Leidtragende dieses Programms waren nämlich hauptsächlich Agrargemeinden im Andenhochland, für die der Anbau der Kokapflanze oftmals die einzige nennenswerte Erwerbsquelle ist.

Auf einer Welle von Sozialprotesten reitend konnte 2005 die Partei „Movimiento al Socialismo“ (MAS) die Wahlen gewinnen und Evo Morales wurde Präsident der Republik Bolivien. Dieser re-verstaatlichte unverzüglich die Erdgasförderung, dazu noch weitere Industrieunternehmen sowie von Grundbesitzern nicht genutzte Agrarflächen. Eine umfassende Agrarreform blieb allerdings aus. Morales konnte auch die folgenden Wahlen stets gewinnen, jedoch nur auf der Grundlage von umstrittenen Verfassungsänderungen.

Entgegen allen Prognosen neoliberaler Denkfabriken konnte sich Bolivien in der Ära Morales wirtschaftlich stabilisieren. Die Lage der Bevölkerung verbesserte sich spürbar. Ein Großteil der Staatseinnahmen floss in Sozialprogramme, in den Bildungssektor und in die medizinische Infrastruktur. Selbst der Internationale Währungsfonds attestierte dem charismatischen und betont antiwestlich auftretenden Präsidenten eine „angemessene Wirtschaftspolitik“.

Auf allgemeine Ablehnung stießen allerdings die von Morales betriebene Aufweichung des Verbotes von Kinderarbeit sowie die Freigabe von Urwaldflächen für Brandrodungen. Infolge der widersprüchlichen und sich teilweise ausschließenden Interessen seiner Wählerschaft verlor der zunehmend autoritär regierende Präsident in der Endphase seiner Herrschaft das Vertrauen von Teilen seiner Basis. Die indigenen Ethnien der Tieflandregionen betrachteten ihn beispielsweise als Verräter an ihrer Sache und warfen ihm vor, ausschließlich die Interessen der Kokabauern des Hochlandes zu vertreten.

Auch der mit der deutschen Firma abgeschlossene Joint-Venture-Vertrag über die Förderung von Lithium war in Bolivien nicht unumstritten. Kritiker aus den eigenen Reihen warfen der Regierung einen Ausverkauf nationaler Ressourcen vor. Vertreter der Bergregion, in dem der lithiumhaltige See liegt, forderten einen größeren Anteil an den voraussichtlich erzielten Erlösen. Die am 4. November 2019 bekannt gewordene Annullierung des Vertrages war wohl einer der Auslöser für eine Reihe von Protesten der vergleichsweise wohlhabenden städtischen Bevölkerung.

Der Firmenchef der Firma ACI Systems erklärte gegenüber der deutschen Tagesschau: „Wir werden daher erst einmal wie geplant am Projekt weiterarbeiten“. Es folgte eine Medienkampagne: Von den deutschen Medien und Politikern wurde Evo Morales als notorischer Umweltsünder dargestellt, der verantwortungsvolle Autofahrer dazu zwingen wolle, statt mit modernen E-Autos weiter mit benzinfressenden Dreckschleudern zu fahren. Ausgeblendet wurde dabei, dass Elektroautos gar nicht mit Lithium betankt werden. Das Element ist kein Energieträger, sondern nur Bestandteil wichtiger Bauteile des Akkumulators.

Das Aufladen dieser Akkumulatoren kann zwar mit regenerativ erzeugter Energie erfolgen, aber auch mittels dreckiger Kohleverbrennung oder gar mit Atomstrom. Die Energiebilanz von Elektroautos ist, wie gesagt, sehr umstritten. Und die massenhafte Produktion dieser Autos dürfte das nächste Umweltproblem in Gestalt von zu entsorgenden Bergen von Lithiumakkumulatoren erzeugen. Auf Armutsregionen, die mangels anderer Einnahmequellen den reicheren Industriestaaten gegen Bezahlung ihren Dreck abnehmen, dürfte mit dem Elektroauto eine neue Schwemme an hochgiftigem Schrott hereinbrechen.

Natürlich hatte Evo Morales, als er den Joint-Venture-Vertrag per Dekret stoppte, nicht die Sauberkeit des Planeten im Sinne. Umweltschutzmaßnahmen betrachtet er als Problem der wohlhabenden europäischen Staaten. Es ist aber anzunehmen, dass Morales den Vertrag im Interesse der bolivianischen Seite nachbessern wollte. Es handelte sich also um den Bestandteil eines finanziellen Tauziehens zwischen zwei Vertragspartnern – in diesem Fall der bolivianischen Regierung auf der einen und dem baden-württembergische Unternehmen auf der anderen Seite. Letzteres hatte allerdings die deutsche Regierung und ihr Auswärtiges Amt sowie diverse parteinahe Stiftungen im Rücken. Und diese unterstützen seit Jahren die bürgerlichen Oppositionsparteien Boliviens gegen den gewählten Präsidenten.

Es ist nicht bekannt, ob die Annullierung des Vertrages einziger Grund für die Welle von Unruhen und Krawallen war, die in den letzten Wochen Bolivien an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Es dürfte aber der Hauptgrund gewesen sein. Regierungsgegner hatten gewaltsam Rundfunk, und Fernsehsender besetzt, Abgeordnete und Mandatsträger der regierenden Partei angegriffen. Bekanntlich verzichtete Morales am 10. November auf sein Amt und ging ins Exil, nachdem sich zuerst die Polizei auf die Seite der Regierungsgegner gestellt hatte und die Militärführung ihn dann ultimativ zum Rücktritt aufforderte. Proteste von Morales Anhängern wurden gewaltsam aufgelöst, es gab zahlreiche Tote.

Die jetzt amtierende selbsternannte Übergangpräsidentin Jeanine Añez gilt als erklärte Gegnerin der indigenen Agrarbevölkerung und als erbitterte Kritikerin der von Morales umgesetzten Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Regierung der Bundesregierung Deutschland sowie mehrere ihrer Politiker begrüßten den kaum verbrämten Putsch. Nach den letzten gegenwärtig vorliegenden Informationen steuert Bolivien auf die Installation einer vom Militär gestützten rechtsgerichteten Diktatur zu. Oder auf einen Bürgerkrieg.

Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Er ist Mitglied der Redaktion von BIG Business Crime.

Gerd Bedszent über Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure

Werner Rügemer beschäftigt sich in seinem neuen Buch nicht primär mit Arbeitsunrecht. Und das Thema Wirtschaftskriminalität spielt darin auch nur eine untergeordnete Rolle. Rügemer liefert vielmehr eine Analyse der als Folge der Bankenkrise von 2007 begonnenen Orientierung kapitalistischer Großunternehmen weg von traditionellen Banken hin zu neuen Kapitalorganisationen.

Den Schwerpunkt des Buches bildet eine Analyse der Geschäftsmodelle von Kapitalriesen vom Schlage des Finanzgiganten BlackRock. Rügemer charakterisiert dieses und ähnliche Unternehmen als eine Art Superhirne des Großkapitals: Unternehmens- und Bankenvorstände, Versicherungen, Milliardärserben und Stiftungen würden gegen Zahlung vergleichsweise geringer Gebühren ihr Vermögen BlackRock und anderen Finanzakteuren anvertrauen und dabei immer reicher werden.

Wie Rügermer meint, sind Steuerhinterziehung durch systematische Nutzung von Finanzoasen sowie Insidergeschäfte bei diesem Unternehmensmodell mittlerweile eher die Regel als Ausnahme, verhängte Strafen würden aus der Portokasse beglichen. Diese neuen Großunternehmen hätten einen wesentlichen Anteil an der Entmachtung der Gewerkschaften, den innerhalb der letzten Jahrzehnte in Gesetzesform gegossenen sozialen Grausamkeiten und dem neoliberalen Durchmarsch auch in den Vorständen staatseigener Unternehmen.

Da die Mehrzahl dieser Unternehmen ihre Wurzeln in den USA habe, sei der wirtschaftliche Aufstieg der US-Wirtschaft und der zeitgleiche ökonomische Niedergang anderer Teilen der Welt maßgeblich von diesen neuen Finanzakteuren befördert.

In den letzten Kapiteln des Buches findet Rügemer lobende Worte für den chinesischen Weg in den Kapitalismus. Die kommunistisch geführten chinesischen Großunternehmen seien „geduldiger“; das chinesische Kapital würde sich mit niedrigeren Profitraten zufrieden geben. Die von den westlichen Finanzakteuren verursachte Schwäche ihrer jeweiligen Staatsmacht habe außerdem den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zusätzlich begünstigt. Zu dieser These kann man allerdings unterschiedlicher Meinung sein.

Werner Rügemer:
Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts
Gemeinverständlicher Abriss zum Aufstieg der neuen Finanzakteure
PapyRossa Verlag, Köln 2018
357 Seiten, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-89438-675-7

 

 

 

Hutbürger im Sachsensumpf

Ein Bundesland im Würgegriff krimineller Gewalt

Die Eskalation rassistischer Gewalt in der sächsischen Stadt Chemnitz hat eine ganze Flut von Erklärungsversuchen hervorgebracht. Die meisten davon taugen keinen Pfifferling und man kann sie getrost wieder vergessen. Sehr beliebt ist beispielsweise der Versuch, die im Bundesland Sachsen sehr weite Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts dem 1990 verschwundenen Staat DDR anzulasten. Richtig ist davon nur, dass die rassistischen Denkmuster in den Köpfen vieler Einwohner dieses Bundeslandes ihre Ursache in der Historie haben. Oder, noch konkreter, in der Wirtschaftsgeschichte dieser Region. Zu dieser nachfolgend einige Ausführungen. (mehr …)