Es gibt bereits zahllose Reportagen und Untersuchungen über die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen in Altenheimen und die schlechten Zustände in der ambulanten Pflege. Und auch über kriminelle Netzwerke im Gesundheitswesen bzw. im Pflegesektor wurde in den letzten Jahren häufig berichtet.
Mitte Mai legte nun die KKH Kaufmännische Krankenkasse – mit 1,6 Millionen Versicherten eine der größten bundesweiten Krankenkassen – einen neuen Report vor, nach dem kriminelle Machenschaften im Gesundheitswesen und speziell im Pflegebereich „als einem Brennpunkt mit hohem Risiko für Bedürftige“ deutlich zunähmen.
In einer Pressemeldung der KKH heißt es:
„Ob Pseudo-Pflegepersonal eingesetzt, Arzneien gepanscht, Versichertenkarten missbraucht, nie erfolgte Behandlungen abgerechnet oder Berufsurkunden gefälscht werden: Betrug und Korruption ziehen sich quer durch alle Leistungsbereiche des Gesundheitssystems – von Arztpraxen und Apotheken über Pflegeeinrichtungen, Kranken- und Sanitätshäuser bis hin zu Praxen für Physio- und Ergotherapie. Allein im zurückliegenden Jahr gingen bundesweit 553 neue Hinweise auf möglichen Betrug bei der KKH-Prüfgruppe Abrechnungsmanipulation ein. Die meisten davon betreffen die ambulante (179) und die stationäre Pflege (167). Damit gehen rund zwei Drittel aller Neufälle auf das Konto von Pflegeeinrichtungen. Rang drei belegen Krankengymnastik- und Physiotherapiepraxen mit 74 Hinweisen.“
Durch Betrug, Korruption oder Urkundenfälschung entstand der KKH damit allein im vergangenen Jahr ein Schaden von rund 3,5 Millionen Euro. 2022 wurde der Schaden auf mehr als einer Million Euro beziffert, ein Jahr zuvor lag er bei 4,7 Millionen Euro (vgl. Die Welt).
Anfang April 2024 hatte das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag der KKH bundesweit 1.004 Personen repräsentativ zum Thema befragt. Das Ergebnis:
„Die Mehrheit der Deutschen zwischen 18 und 70 Jahren (58 Prozent) hat laut der forsa-Umfrage selbst schon einmal Erfahrungen mit Betrugsdelikten im Gesundheitswesen gemacht oder kennt Betroffene im eigenen Umfeld. Besonders auffällig auch hier der Pflegebereich. So geben 41 Prozent der Befragten an, dass aus ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis jemand trotz zuerkanntem Pflegegrad nicht ausreichend versorgt wurde – sei es aufgrund unzureichend ausgebildeter Pflegekräfte oder nicht erbrachter Leistungen.“ (Pressemeldung KKH)
Die Welt zitiert Silke Kühlborn von der Staatsanwaltschaft Leipzig, Leiterin einer Abteilung für Wirtschaftsstrafrecht zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen. „Es ist erschreckend festzustellen, welche kriminelle Energie die Beschuldigten bei ihren Taten teilweise an den Tag legen.“ Andererseits sei auffallend, dass viele Betrugstaten nicht heimlich begangen würden. Mitarbeitende wüssten das in aller Regel und wunderten sich, dass das hingenommen werde.
In der Titelgeschichte der Zeitschrift Focus vom 10. Mai 2024 geht es einmal mehr um die „Tricks der Pflege-Mafia“, um das löchrige Kontrollsystem und das Versagen der Politik. Das deutsche Gesundheitssystem wirke wie ein alles verschlingender Moloch: „Jährlich frisst es 500 Milliarden Euro – mehr als der gesamte Bundeshaushalt mit 477 Milliarden Euro.“ Nach offiziellen Schätzungen würden die Betrüger zwischen 18 und 20 Milliarden Euro aus dem System ziehen. Europäische Untersuchungen sprächen sogar von sechs Prozent der jährlichen Gesundheitsausgaben, die auf den Konten der Betrüger landeten – also fast 30 Milliarden Euro.
Auch der Pflegebereich als drittgrößtes Segment im Gesundheitswesen sei ein „Schlaraffenland für Kriminelle“, wie es ein Vertreter der Staatsanwaltschaft München ausdrückt. Nach Schätzung eines Experten beim LKA Berlin sind von den knapp 700 Pflegediensten in der Hauptstadt etwa 90 dem kriminellen Bereich zuzurechnen. Viele der bis zu 600.000 zumeist osteuropäischen Betreuungskräfte, die rund um die Uhr in deutschen Haushalten arbeiten, so die Zeitschrift, würden um ihre Rechte betrogen (Tricks bei Bezahlung und Arbeitszeit).
Das Versagen der Politik beim Abrechnungsbetrug zeige sich allein darin, dass der Gesetzgeber erst 2016 auf die ausufernden Milliardenschäden reagiert und Bestechung und Bestechlichkeit im Gesundheitswesen ins Strafgesetzbuch aufgenommen habe. Ein AOK-Ermittler weist auf die Notwendigkeit einer gesundheitsökonomischen und kriminologischen Forschung zu den vielfältigen Deliktsbereichen hin. Aber das Gesundheitsministerium schiebe die Verantwortung dafür ans Justizministerium ab – und das schiebe sie wieder zurück.
Quellen:
„Betrüger ergaunern Millionen aus Gesundheitstopf“, Pressemeldung der KKH Kaufmännische Krankenkasse vom 15. Mai 2024
https://www.kkh.de/presse/pressemeldungen/betruggesundheitswesen
„Krankenkasse KKH meldet Millionenschäden durch Betrüger“, Die Welt (Online) vom 16. Mai 2024
Christoph Elflein: „Der große Betrug“, Focus vom 10. Mai 2024, Seite 42-52