Ein Bundesland im Würgegriff krimineller Gewalt
Die Eskalation rassistischer Gewalt in der sächsischen Stadt Chemnitz hat eine ganze Flut von Erklärungsversuchen hervorgebracht. Die meisten davon taugen keinen Pfifferling und man kann sie getrost wieder vergessen. Sehr beliebt ist beispielsweise der Versuch, die im Bundesland Sachsen sehr weite Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts dem 1990 verschwundenen Staat DDR anzulasten. Richtig ist davon nur, dass die rassistischen Denkmuster in den Köpfen vieler Einwohner dieses Bundeslandes ihre Ursache in der Historie haben. Oder, noch konkreter, in der Wirtschaftsgeschichte dieser Region. Zu dieser nachfolgend einige Ausführungen.
Wirtschaftlicher Riese, politischer Zwerg
Das Kurfürstentum und spätere Königreich Sachsen gehörte in der Frühphase kapitalistischer Industrialisierung zu den am meisten entwickelten und wirtschaftlich aufstrebenden Regionen Deutschlands. Grundlage dieser Entwicklung war zuerst der Bergbau im Erzgebirge und in der Lausitz, später dann vorrangig die sächsische Textilindustrie. Leipzig entwickelte sich schon früh zu einem der bedeutendsten Handelszentren Europas.
In der Reihe der deutschen Kleinstaaten des 17. bis 19. Jahrhunderts war Sachsen jedoch zuletzt ein politischer Zwerg. Dessen notorisch unfähige Herrscher hatten sich in verschiedenen Kriegen regelmäßig auf der falschen Seite engagiert und waren – besonders vom benachbarten Militärstaat Preußen – territorial arg gerupft worden. Als Folge der napoleonischen Kriege verschwand Sachsen fast vollständig von der politischen Landkarte, blieb als eigenständiges Königreich nur erhalten, weil die benachbarten Monarchen sich über die Aufteilung dieses Restterritoriums nicht einigen konnten. Mit dem Aufstand der Dresdener Bürgerschaft im Revolutionsjahr 1849 wurde die königliche Regierung gar nur mit Hilfe preußischer Truppen fertig. Nachdem ihr Herrscher beim preußisch-österreichischen Krieg des Jahre 1866 wieder auf der Verliererseite gestanden hatte, ordnete sich Sachsen fortan widerspruchslos der preußischen Politik unter und wurde 1871 Teil des Deutschen Reiches. Das im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entstandene Klischeebild des SACHSEN als Prototyp einer lächerlichen Figur hat bis in unsere heutige Zeit Bestand. Teile der betroffenen Bevölkerung reagieren auf diese Stigmatisierung mit Abwehr und zunehmend anachronistischer Brauchtumspflege.
Hochburg der Arbeiterbewegung
Sachsen war allerdings eines der Territorien, die am meisten vom wirtschaftlichen Aufschwung im 18. und 19. Jahrhundert profitierten, es hatte um 1870 von allen deutschen Regionen die höchste Industriedichte und das höchste Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung.
Als Folge der Industrialisierung wurde die Region stark durch die aufkommende Arbeiterbewegung geprägt. Bereits 1883 gründete sich in Leipzig der an Ferdinand Lasalle orientierte „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“; er fusionierte später mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Eine bedeutende Rolle in den sozialen Auseinandersetzungen der Kaiserzeit spielte der große Streik der Textilarbeiter*innen von Crimmitschau im Jahre 1903.
In der Endphase des 1. Weltkrieges kam es auch in Sachsen zu einer Welle von Streiks und Antikriegsprotesten; es bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte. Am 10. November 1918 rief ein linker Sozialdemokrat die Republik Sachsen aus – wenige Tage später dankte der letzte sächsische Monarch ab. In der Nachkriegskrise gab es dann weitere soziale Unruhen. Im April 1919 wurde beispielsweise der damalige sächsische Kriegsminister von wütenden Demonstranten in der Elbe ertränkt – Reichswehreinheiten rückten daraufhin an und stellten gewaltsam die „Ordnung“ wieder her. Beim Kapp-Putsch des Jahres 1920 kam es in Leipzig und in Dresden zu schweren Kämpfen zwischen streikenden Arbeitern und dem Militär. Als die SPD-geführte sächsische Landesregierung im Jahre 1923 gar kommunistische Minister ins Kabinett aufnahm, wurde sie auf Grundlager eine „Notverordnung“ der Reichsregierung entmachtet.
Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre erstarkte auch in Sachsen die politische Rechte. Sie bezog sich positiv auf die vermeintliche Zeit der Ruhe und des Wohlstandes während der Monarchie, machte für soziale Verwerfungen und politischen Unruhen die republikanische Staatsform verantwortlich. Die Nazis erreichten im „roten“ Sachsen allerdings nie die Stärke, die sie in anderen Teilen des Deutschen Reiches hatten.
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde im westlichen Erzgebirge ein größeres Gebiet mehrere Wochen lang nicht von den Siegermächten besetzt. In dieser „Freien Republik Schwarzenberg“ begannen Kommunisten, Sozialdemokraten und bürgerliche Demokraten aus eigener Kraft einen politischen Neuanfang. Der Dichter Volker Braun hat den Akteuren des kurzlebigen politischen Gebildes in seiner Erzählung „Das unbesetzte Gebiet“ ein literarisches Denkmal gesetzt.
Vernachlässigte Region
Die als Folge des 2. Weltkrieges gegründete DDR litt von Anfang an unter wirtschaftlichen Disproportionen. Der Süden der Republik war in großen Teilen hochindustrialisiert, wenn auch viele Betriebe kriegsbedingt stark zerstört waren oder als Reparationsleistung demontiert werden mussten. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern gab es hingegen kaum größere Wirtschaftsstandorte. Der Aufbau von Industriebetrieben im wenig entwickelten Norden hatte durchaus eine volkswirtschaftliche Logik. Eher aus politischen Gründen resultierten die von der DDR-Regierung unternommenen Anstrengungen, Ost-Berlin zu einem glanzvollen Schaufenster in Richtung Westeuropa auszubauen.
Der Ausbau der Hauptstadt und die industrielle Erschließung der nördlichen Regionen gingen zu Lasten des Südens. Zusammen mit den Auswirkungen eines zum Teil rabiat und ohne Rücksicht auf volkswirtschaftliche Logik durchgezogenen Verstaatlichungsprogramms rief diese einseitige Orientierung zunehmenden Unmut bei der Bevölkerung der südlichen DDR-Bezirke hervor, der problemlos an der noch aus dem 19. Jahrhundert herrührenden Abneigung gegen die „preußische Obrigkeit“ andocken konnte. Während man in der Hauptstadt dümmliche Witze über die „zurückgebliebenen Sachsen“ riss, wuchs im Süden der Zorn auf die „privilegierten Preußen“.
Die DDR-Regierung war (wie die Mehrzahl der osteuropäischen Volksdemokratien) in den 1970er Jahren unvorsichtigerweise in die Schuldenfalle getappt. Zusätzlich hinzu kamen ab 1979 drastische Erhöhungen des Weltmarktpreises für Erdöl. Der selbst in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckende Haupthandelspartner Sowjetunion war nicht bereit gewesen, seinem Verbündeten DDR diese Preiserhöhungen zu erlassen.
In den DDR-Medien kamen diese existenziellen Probleme nicht vor. Medien und Parteiapparat übten sich in Realitätsverweigerung, versuchten der Bevölkerung auch weiterhin einen wirtschaftlichen Aufschwung zu suggerieren, der tatsächlich längst in Stagnation umgeschlagen war. Besonders im Süden der Republik verschlechterte sich die Versorgungslage der Bevölkerung zunehmend und in den häufig veralteten Betrieben wurde es immer schwieriger, die geforderten Plankennziffern zu erreichen. Ab Mitte der 1980er Jahre ging hier die verordnete Propaganda an der Bevölkerungsmehrheit vorbei – man glaubte den Medien schlicht nichts mehr und machte für alle Probleme die Unfähigkeit der in Berlin sitzenden Regierung verantwortlich. Viele Bürger kehrten – legal oder illegal – dem untergehenden Land den Rücken. Als die Regierung die einzige noch offene Grenze (zur damaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik) schloss, eskalierte im Herbst 1989 zunächst in Leipzig und in Dresden der vielerorts schwelende Unmut.
Schattenwirtschaft
Die sozialen Verhältnisse in den Ende 1990 gebildeten fünf neuen Bundesländern haben ihren Ursprung zwar primär im vereinigungsbedingten Wirtschaftscrash, aber auch in der sehr spezifischen und für Außenstehende schwer verständlichen Situation der späten DDR.
Aufgrund der bereits geschilderten Probleme funktionierte spätestens ab Mitte der 1980er Jahre die Zusammenarbeit zwischen den Betrieben nicht mehr. Da aufgrund des angespannten Finanzhaushaltes dem DDR-Außenhandel das absolute Primat zukam, wurde im Binnenverhältnis die Nichterfüllung oder wesentlich verspätete Erfüllung von Verträgen Normalität. Um das Funktionieren des Betriebes bei ausstehenden Ersatzteillieferungen aufrechtzuerhalten, sah sich das technische Management nicht selten zu haarsträubenden Improvisationen am Rande oder gar jenseits der Legalität gezwungen.
Honoriert wurden solche Anstrengungen im Regelfall nicht. Mitarbeiter der Leitungsebene, aber auch ganz normale Beschäftigte zahlreicher Betriebe begannen irgendwann, das zunehmende Chaos innerhalb der Planbürokratie ausnutzend, auf Firmenkosten private Geschäfte zu tätigen. Unter der Decke der staatseigenen Wirtschaft bildeten sich – wie in allen anderen osteuropäischen Volksdemokratien – Strukturen einer kriminellen Schattenwirtschaft heraus.
Der 1989 vor allem im Süden der DDR eskalierende Unmut war allerdings nicht nur Resultat der ökonomischen Verwerfungen. Nicht wenige Mitläufer der Herbstproteste von 1989 strebten eine Legalisierung ihrer bisher illegalen Geschäftemacherei an, hofften, nun auf Kosten der Substanz von Staatsbetrieben ganz schnell reich zu werden. Diese Hoffnung war nicht unbegründet. In postsowjetischen und auch anderen osteuropäischen Staaten konnte in den 1990er Jahren eine aus gewesenen Wirtschaftsfunktionären und Akteuren des kriminellen Untergrundes entstandene Oligarchenkaste in kürzester Frist unwahrscheinliche Reichtümer zusammenraffen. Auf dem Gebiet der DDR wurden diesbezügliche Hoffnungen allerdings zumeist enttäuscht – von der kriminellen Verteilung des ehemaligen Volkseigentums profitierten mehrheitlich ganz andere Leute. Auch aus der Enttäuschung verhinderter „Vereinigungsgewinnler“ speist sich der seitdem in der ostdeutschen Provinz weiter vor sich hin schwelende Unmut.
Rechter Bürgerprotest
In Berlin und anderen größeren Städten wurde die Opposition gegen die immer ohnmächtiger agierende DDR-Regierung und den sie stützenden Politapparat hauptsächlich von linken Intellektuellen und linksorientierten Strömungen der Jugendkultur getragen, die sich – obwohl meist nicht religiös – unter dem schützenden Dach kirchlicher Institutionen zusammengefunden hatten. Die Mehrheit der in der späten DDR entstandenen Bürgerrechtsgruppen verstand sich durchaus als antifaschistisch, warf dem Politapparat vor, die in den Nischen der DDR-Gesellschaft überwinternden Reste rassistischer Ideologie bewusst zu ignorieren und Nazis grundsätzlich nur außerhalb der DDR-Grenzen zu verorten. Ein Vorwurf, der durchaus seine Berechtigung hatte.
Denn mit einigen Jahren Verzögerung war auch eine rechtsradikale Jugendkultur über die Mauer geschwappt. In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen rechten und linken Jugendgruppen. Die Sicherheitsorgane waren mit der Situation völlig überfordert und unterstützten nicht selten die falschen Leute. Der Faschismus galt schließlich als in der DDR mit Stumpf und Stiel ausgerottet; randalierende Skinheads, die öffentlich den Hitlergruß zeigten, durfte es also gar nicht geben.
Zum ersten Mal deutlich zu Tage trat diese fatale Haltung bei der „Zionskirchenaffäre“ des Jahres 1987: Eine Gruppe von Skinheads überfiel damals die Besucher eines Punkkonzertes in einer Ostberliner Kirche. Die Volkspolizei war bei dem Angriff zwar vor Ort, griff aber nicht ein. In großen Teilen der DDR-Presse wurde der Überfall verharmlosend als „Rowdytum“ dargestellt. In der Folge kam es auf DDR-Territorium immer wieder zu neofaschistischen Krawallen inklusive der Verwüstung jüdischer Friedhöfe. Als Treppenwitz der Geschichte sei in dem Zusammenhang angemerkt, dass sich ausgerechnet das politische Chamäleon Vera Lengsfeld, mittlerweile als Scharfmacherin bei der radikalen Rechten angekommen, damals als entschiedene Gegnerin neofaschistischer Aktivitäten und deren Verharmlosung durch die DDR-Presse profilierte (Klein, Seite 326).
Wegen der Untätigkeit staatlicher Institutionen und Massenorganisationen formierten sich Ende der 1980er Jahre innerhalb der linken Subkultur verschiedener größerer DDR-Städte nach westdeutschem Vorbild autonome Antifa-Gruppen. Den Durchmarsch der Rechten – insbesondere in Kleinstädten und auf dem flachen Land – konnten sie jedoch nicht aufhalten.
Der damals bekannte Oppositionelle Wolfgang Rüddenklau hatte schon im Dezember 1988 im halblegalen Samisdat „Umweltblätter“ konstatiert: „Sozialismus und Kommunismus sind Schimpfwörter geworden, nationalistisch-faschistische Gesinnung, Juden- und Ausländerhass gehören in weiten Kreisen zum guten Ton. (…) Der östliche Teil Deutschlands (…) würde heute mit großer Wahrscheinlichkeit CDU/CSU oder noch weiter rechts wählen.“ (zitiert nach: Klein, Seite 447) Genau diese von Rüddenklau prognostizierte Situation ist wenig später eingetreten.
Während in den Herbsttagen des Jahres 1989 hauptstädtische Intellektuelle eifrig debattierten und oppositionelle Zirkel außerhalb und innerhalb der SED vergeblich versuchten, eine gemeinsame Sprache zu finden, hatte sich in den Städten des Südens schon ein rechtsgerichteter Bürgerprotest formiert. Mit dem Fall der Mauer nahm die neofaschistische Szene der alten Bundesrepublik sofort ihre Chance wahr und verteilte Berge von Propagandamaterial unter das ahnungslose Ost-Volk.
Die Montagsdemonstrationen, zuerst in Leipzig, später auch in anderen Städten von innerkirchlichen Friedensgruppen als Protest gegen militärische Hochrüstung initiiert, verloren binnen kurzer Zeit ihren Charakter und wurden zu Demonstrationen für eine schnelle Wiedervereinigung. Als sie im März 1990 endeten, waren sie zu Zusammenrottungen rechtsradikaler Gruppen verkommen, um die ihre ursprünglichen Akteure längst einen großen Bogen machten (siehe auch Ditfurth, Seite 65ff).
Als die SED auf ihre führende Rolle verzichtet und die Übergangsregierung Modrow freie Wahlen angekündigt hatte, kam es vorübergehend zu einer Vielzahl von Parteigründungen, von denen die meisten schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Es stellte sich nämlich heraus, dass man für die Installation eines Parteiapparates sowie zum Führen eines Wahlkampfes erstens Geld und zweitens diesbezügliche Erfahrungen benötigt. Sowohl die aus oppositionellen Gruppierungen hervorgegangenen Neugründungen als auch die bereits bestehenden Blockparteien suchten sich daher schnellstmöglich solvente westdeutsche Partner und warfen große Teile ihrer bisherigen politischen Vorstellungen über Bord. Nur der ehemaligen Staatspartei SED nutzte alle Demutsrhetorik samt Umbenennung und neuer Programmatik nichts; sie musste – auf sich allein gestellt – einen Neuanfang wagen.
Ableger der CSU – ein Exkurs
Eine der politischen Neugründungen in dieser Zeit politischer Wirren war die Deutsche Soziale Union (DSU). Diese hatte ihre Wurzeln weder in einer Blockpartei noch in intellektuellen Zirkeln, sondern konstituierte sich im Januar 1990 in Leipzig durch den Zusammenschluss mehrerer stockkonservativer Splittergruppen. Einen politischen Partner fand sie rasch in der bayrischen CSU. In ihrem Wahlprogramm hieß es unter anderem: „Deutschland braucht Freiheit statt Sozialismus“. Die DSU propagierte die rigorose Umwandlung von Staats- in Privateigentum und betonte die Dominanz der Privatwirtschaft in einer anzustrebenden Gesellschaft (Dokumentation, Seite 122ff). Von der politischen Linken wurde diese obskure Parteigründung zunächst nicht ernst genommen. Da die DSU ihre Wählerbasis fast ausschließlich in Sachsen und in Thüringen hatte, spottete man damals, die Partei strebe ein „Großdeutschland in den Grenzen des Königreichs Sachsen“ an.
Die DSU errang im März 1990 dank finanzieller und auch personeller Unterstützung aus Bayern 25 Abgeordnetenmandate in der letzten DDR-Volkskammer. Ihre Fraktion machte sich in kürzester Zeit mittels unsinniger Anträge derart lächerlich, dass mehrere führende Mitglieder – darunter zwei Minister – der Partei unter Mitnahme von Volkskammersitz und Regierungsposten den Rücken kehrten. Obwohl die die Regierung dominierende CDU in Eiltempo und ohne Rücksicht auf die bereits absehbaren sozialen Verwerfungen einen Anschluss der DDR an die alte Bundesrepublik betrieb, ging dieser Prozess den DSU-Abgeordneten noch immer nicht schnell genug. In Volkskammersitzungen forderte sie mehrfach den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik zum Folgetag, kündigten schließlich gar das Bündnis mit der CDU, weil diese darauf nicht einging.
Nach dem Bruch mit CDU und CSU entwickelte sich die DSU schnell zu einer rechtsradikalen Splitterpartei; zahlreiche Mitglieder und ganze Ortverbände traten allerdings zu anderen rechten Parteien und Wählergemeinschaften über. Bei Bundestags- und Landtagswahlen scheiterte die Partei regelmäßig, konnte nur auf kommunaler Ebene gelegentlich Abgeordnetenmandate und Stadtratsposten erobern. 2006 war sie für kurze Zeit mit einem Abgeordneten im sächsischen Landtag vertreten; dieser war von der NPD zur DSU gewechselt.
Die Partei hinderten ihre permanenten Wahldebakel nicht daran, sich als einzig legitimer Vertreter des stolzen, aber geknechteten Volks der Sachsen zu gerieren. Nicht wenige Initiatoren rechtsradikaler Aktivitäten unserer Gegenwart haben ihre Politkarriere in der DSU begonnen.
Das 2011 gegründete rassistische Netzwerk „Pro Sachsen“ wurde maßgeblich von der DSU unterstützt. Die Wählervereinigung „Pro Chemnitz“, die bei den Ausschreitungen vom August 2018 eine besonders üble Rolle spielte, hat ebenfalls ihren Ursprung in Parteistrukturen der DSU. Der rechtsradikale Anwalt Martin Kohlmann, Mitbegründer von „Pro Chemnitz“, war 2006 von den „Republikanern“ zur DSU gewechselt.
Glückritter und Großkonzerne
Nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990, erst recht dann nach der Aufgabe der staatlichen Existenz der DDR am 3. Oktober galt die Privatisierung von staateigenen und Genossenschaftsbetrieben als Grundlage für Wirtschaftswachstum und allgemeinen Wohlstand. Dass es dann ganz anders kam, ist bekannt. Wie der Philosoph Robert Kurz schrieb, organisierte damals „eine Zunft von Aasgeiern das Sterben einer ganzen Volkswirtschaft“ (Kurz, Seite 116).
Horden von Glücksrittern und Mafiosi fielen über den verendenden Staat her und versuchten, für wenig oder gar kein Geld möglichst viele Schnäppchen aus der Konkursmasse zu erhaschen. Den offen kriminellen Glücksrittern folgten mit geringer Verzögerung die Großkonzerne. Deren Anliegen war dasselbe: sich möglichst schnell die Taschen vollzustopfen, ohne Rücksicht auf etwaige soziale Folgen. Und wie sogar seriöse bürgerliche Medien damals schrieben, waren die Methoden, mit denen sie vorgingen, nicht gerade fein: „Sie täuschen, tricksen und bestechen. Hemmungslos werden Bilanzen frisiert. Selbst die vornehme Zunft der Wirtschaftsprüfer spielt mit. (…) Die Raffgierigen beider Deutschlands haben sich offenbar zuerst vereinigt.“ (Der Spiegel Nr. 37/1991, zitiert nach: Kurz, Seite 121)
Willige Helfer fanden die Räuber damals im Personal der DSU, der DDR-Blockparteien und auch der SPD. Bezeichnenderweise hatte man ausgerechnet den konservativen Theologen und damaligen DSU-Vorsitzenden Hans-Wilhelm Ebeling als „Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ in die letzte DDR-Regierung berufen. Der Erfolg war entsprechend.
Die Mehrzahl der Menschen, auch in Sachsen, glaubte damals blind den Versprechen, nach einer kurzen Übergangsfrist würde es wirtschaftlich schnell wieder aufwärts gehen. Dass der Industriekahlschlag irreparabel war, mochte kaum jemand glauben. Immerhin kam es im Mai 1990 zu Warnstreiks und Demonstrationen, auch bei Beschäftigten der sächsischen Textilindustrie. Gewerkschafter befürchteten damals zu Recht den baldigen Zusammenbruch ihrer Unternehmen oder zumindest drastische Lohneinbußen (Bahrmann/Links, Seite 222). Wenig später folgten Proteste von Bauern, die sich infolge des Vordringens hochsubventionierter westdeutscher Agrarprodukte in ihrer Existenz bedroht sahen (a.a.O., Seite 293). Größere Auswirkungen hatten diese weitgehend isolierten Widerstandaktionen allerdings nicht. Der 3. Oktober 1990 verschaffte den Plünderern endgültig freie Bahn.
Gewolltes Desaster
War der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft gewollt? Zumindest wurde er billigend in Kauf genommen. Bei der Politik des Jahres 1990 triumphierte Ideologie über den Sachverstand. In der kruden Logik marktradikaler Hardliner reicht es ja aus, das „scheue Reh“ Kapital möglichst ungehindert gewähren zu lassen, um ein neues Wirtschaftswunder zu generieren. Und als man schließlich vor einem Scherbenhaufen stand, suchte und fand man schnell einen Buhmann.
Die „Treuhandanstalt zur Verwaltung des Volkseigentums“ (THA, oder auch nur „Treuhand“), noch von der Modrow-Regierung gegründet, um jedem DDR-Bürger einen Anteil an ursprünglich erwarteten Privatisierungsgewinnen auszuzahlen, wurde nach dem 3. Oktober 1990 zum Instrument einer ohne Rücksicht auf soziale Folgen umgesetzten Privatisierungspolitik umfunktioniert. Alles, was im Zuge der wirtschaftlichen Transformation schieflief, schien dann der Unfähigkeit des bürokratisch aufgeblähten Monsters Treuhand geschuldet. Dass der Apparat nur ausführendes Organ der kriminellen Privatisierung war, wurde kaum thematisiert.
Treuhandmanager verschleuderten in Größenordnungen Industriesubstanz ohne ordentliches Bieterverfahren für rein symbolische Beträge an irgendwelche dahergelaufenen westdeutschen Interessenten. Bieter aus anderen westeuropäischen Staaten oder aus Übersee rangierten grundsätzlich an zweiter Stelle, Einheimische an letzter; für die blieben lediglich Ladenhüter, die sonst niemand haben wollte.
Zahlreiche Unternehmen wurden solange „gesundgeschrumpft“, bis sie für irgendjemanden interessant wurden. Die massenhafte Entlassung von Beschäftigten intakter Unternehmen nannte man damals „Abwickeln“. Es betraf hunderttausende Arbeiter und Angestellte. Und meist war die dann vollzogene Privatisierung erst der Auftakt für weitere Entlassungswellen, die erst mit der Schließung und profitträchtigen Ausschlachtung des jeweiligen Unternehmens endeten.
War diese Vorgehensweise kriminell? „Es hat in Ostdeutschland gar keiner großen Kriminalität bedurft. Jeder bekam, was er wollte, und dies zu Konditionen, die außerordentlich günstig waren.“ So charakterisierte jedenfalls am 2. Juli 1993 der Wirtschaftsstaatsanwalt Dr. Hans Richter in der ZEIT die damalige Situation (zitiert nach Köhler, Seite 187). Und der ehemalige Bundesbankpräsident Karl-Otto Pöhl verkündete 1993 ein immer noch lesenswertes Fazit der damaligen Aktivitäten: „Das war eine Rosskur, die keine Wirtschaft aushält.“ (zitiert nach Hartmann, Seite 59)
In den 1990er Jahren hinterließen die wirtschaftskriminellen Akteure zwischen Ostsee und Erzgebirge eine Spur der Verwüstung – inklusive mehrerer Millionen von Arbeitslosen und für immer ruinierter Biographien. Die schon in den 1980er Jahren begonnene Abwanderung von Einwohnern in Richtung Westdeutschland nahm nach der Wiedervereinigung Ausmaße an, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte. Stadtteile und ganze Städte veröden, Dörfer sind mangels Einwohnerschaft dabei, von der Landkarte zu verschwinden. Und eine der Regionen, die es am schlimmsten traf, war und ist Sachsen.
Die Transformation der ostdeutschen Wirtschaft wird gelegentlich mit dem Ende der Steinkohleförderung im Ruhrgebiet verglichen, als diese in den 1960er Jahren unrentabel geworden war. Das ist nicht ganz falsch. Der westdeutschen Wirtschaftsregion hatte man aber mittels staatlicher Subventionen und Förderprogramme eine längere Übergangszeit verschafft, in der Firmen neue Wirtschaftskonzepte entwickeln und Beschäftigte umschulen konnten. Für die ostdeutschen Unternehmen gab es einen solchen Übergang nicht.
Die traditionsreiche sächsische Textilindustrie verschwand Anfang der 1990er Jahre vollständig und ersatzlos aus der Region. Die sächsische Kraftfahrzeugindustrie durchlebte ein Trauerspiel von Korruptionsaffären, Firmenzusammenbrüchen und subventionierten Neugründungen, schrumpfte dabei auf einen Bruchteil ihres ursprünglichen Umfanges. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) konnten sich zwar auch in Sachsen mehrheitlich nach Umwandlung in eine bürgerliche Rechtsform behaupten, allerdings nur mittels eines drastischen Arbeitskräfteabbaus. Einen solchen Arbeitskräfteabbau gab es auch bei der Umstellung des sächsischen Bergbaus auf Renaturierung und Altlastensanierung. Und das war nicht alles – an den teilweise oder vollständig stillgelegten Großbetrieben hingen meist noch Zulieferer und Dienstleister, denen plötzlich die Auftraggeber abhandengekommen waren.
Natürlich war der Industriekahlschlag nicht nur das Werk von aus Westdeutschland importierten Managern und Unternehmensberatern – auch das Leitungs- und Verwaltungspersonal der betroffenen Firmen hat bei dem Desaster kräftig mitgeholfen. Als die künstlich geschürte Vereinigungseuphorie verflogen war, stellten letztere jedoch fest, dass sie bei dem Beutezug fast leer ausgegangen waren. Die kriminelle Privatisierung war so angelegt gewesen, dass in der Hauptsache die westdeutschen Wirtschaftskapitäne davon profitierten. Nur selten konnten Einheimische beim Ausverkauf ihrer Volkswirtschaft für sich selbst einige Häppchen erhaschen.
Viele der vor Ort gebliebenen Einwohner bekamen außerdem sehr schnell mit, dass fortan niemand mehr ihre Arbeitskraft benötigte. Diese Leute konnten sich zwar noch eine Zeit mit ABM-Stellen und Jobs bei Zeitarbeitsfirmen durchschlagen. Aber irgendwann lauerte dann unbarmherzig das im Zuge der Hartz-Reformen eingeführte ALG 2.
Eine vollständige Aufarbeitung dieses kriminellen Raubzuges und seiner langfristigen sozialen Folgen hat bis heute nicht stattgefunden. Die Ursachenforschung blieb somit obskuren Verschwörungstheoretikern und rechtsradikalen Ideologen überlassen. Besonders letztere übten sich in einer fieberhaften Suche nach Sündenböcken – mit zunehmendem Erfolg.
Krimineller Sumpf
Gab es nach 1990 Widerstand gegen die Politik der Entmündigung und des Sozialkahlschlages? Eher wenig. Die Linke war insgesamt marginalisiert. Teilweise beteiligten sich sogar Politiker der Linkspartei aktiv daran, diese Politik durchzusetzen. Die Grünen spielten in Sachsen nie eine wesentliche Rolle, die Sozialdemokratie ist nach einem eher kurzen Aufschwung längst wieder im Niedergang begriffen. Die CDU stellte seit 1990 alle sächsischen Ministerpräsidenten. Zahlreiche Schaltstellen in Politik und Wirtschaft waren und sind von Importen aus Westdeutschland besetzt.
Die Wirtschaft Sachsens beruht seit den 1990er Jahre zu großen Teilen auf Transferzahlungen aus den wirtschaftlich stärkeren alten Bundesländern, hauptsächlich aus Bayern und Baden-Württemberg. Die Zahlungen wurden von der Landesregierung hauptsächlich zur Finanzierung von Projekten zur Erweiterung und Erneuerung der Infrastruktur verwendet, kamen also größtenteils der Bauindustrie zugute. Eine Re-Industrialisierung nach der Schocktherapie der frühen 1990er Jahre erfolgte nur in sehr eingeschränktem Umfang. Als Ergebnis dieser Art von Wirtschaftspolitik entstanden zwar sanierte Verkehrswege und wie geleckt aussehende Stadtzentren, aber kaum auf Dauer angelegte Arbeitsplätze.
Die Transferzahlungen waren und sind nicht selten Gegenstand krimineller Verteilungskämpfe. Unter CDU-dominierten Regierungen wurde Sachsen von einer ganzen Reihe von Korruptionsskandalen erschüttert, bei denen es nicht selten um zweckentfremdete Verwendung dieser Fördermittel ging. Einen heftigen Aufschwung nahm in diesem Zusammenhang das Organisierte Verbrechen. Was kein Wunder war, hatten doch zahlreiche Handlanger der kriminellen Privatisierungswelle Anfang der 1990er Jahre hinreichende Erfahrungen gesammelt, wie man sich straflos bereichern konnte.
Ein treffendes Beispiel, das sogar in den großen Medien thematisiert wurde, ist die sogenannte „Sachsensumpf“-Affäre. 1993 hatte die Leipziger Polizei ein Bordell ausgehoben, in dem minderjährige Mädchen gewaltsam zur Prostitution gezwungen wurden. Jahre später trat im Verlaufe der Ermittlungen ein kriminelles Geflecht von Rotlichtmilieu, Immobilienspekulanten und hochrangigen sächsischen Justizbeamten zutage. Die Aufklärung des Skandals wurde von der Justiz nach Kräften behindert und konnte bis heute nicht vollständig abgeschlossen werden. Das zuständige Referat wurde aufgelöst, der verantwortliche Polizeibeamte in den Ruhestand versetzt, mehrere angeklagte Richter von ihren Kollegen freigesprochen.
Teile der Tagespresse verbreiteten damals unhinterfragt Verlautbarungen der Staatsanwaltschaft, dass es sich ausschließlich um „heiße Luft“ handele und es nie eine Affäre gab. Der leider zu früh verstorbene Korruptionsexperte Jürgen Roth, auf den man sich auch in diesem Fall wieder einmal eingeschossen hatte, schrieb damals: „Man kann mit journalistischer Aufklärung, wie durch den Dresdner FAZ-Journalisten versuchen, den ‚Sachsensumpf‘ als Fata Morgana darzustellen, man kann diffamieren oder politisch die Keule des Strafrechts benutzen – sicher ist nur: Früher oder später wird das gesamte mafiose Netzwerk in Sachsen aufgeklärt werden.“ (www.juergen-roth.com, Blog, 4.4.2008)
Katzenjammer
Auch in Sachsen folgte auf die nationale Begeisterung des Jahres 1990 der Katzenjammer. Irgendwann begriffen die Leute, dass man ihnen etwas vorgemacht hatte und dass sie auf simple Wahlpropaganda hereingefallen waren. Der Kapitalismus entpuppte sich plötzlich als gar nicht so schön und erstrebenswert, wie sie ihn sich erträumt hatten. Man fühlte sich wieder einmal betrogen. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch einschlägige Erfahrungen mit einer unsäglichen Verwaltungsbürokratie, der die in der auf Ausgleich und Konfliktvermeidung angelegten DDR-Gesellschaft sozialisierten Menschen häufig nicht gewachsen waren.
Die zunehmende Abwendung immer größerer Bevölkerungsgruppen von den bürgerlichen Parteien kam jedoch nicht der politischen Linken zugute – im Gegenteil. Dem Siegeszug der radikalen Rechten hatten bürgerlichen Parteien den Boden bereitet, indem sie die unübersehbare wirtschaftliche Misere der Region ausschließlich als DDR-Altlast darstellte. In der verqueren Ideologie rechter Verschwörungstheoretiker kann so Angela Merkel problemlos als politische Wiedergängerin von Erich Honecker ausgemacht werden… Und es gab nicht wenige Leute, die auf solche verkürzten Argumentationen hereinfielen. Rechts zu sein, galt im Vergleich zu einer DDR-Vergangenheit als lässliche Sünde.
Da eine Ursachenforschung ängstlich vermieden wurde, erzeugte die wirtschaftliche Situation bei großen Teilen der Einwohnerschaft ein Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem befürchteten oder realen sozialen Abstieg. Aus diesem Gefühl der Ohnmacht heraus entstand ein Klima wachsender Aggressivität, zunehmender Hass auf andere Bevölkerungsgruppen, die man für die eigene Misere verantwortlich machte. Dieser Hass wurde von der politischen Rechten gezielt geschürt und in rassistische Bahnen gelenkt: Schuld an allem ist die Ankunft „undeutscher“ Migranten, die sich hier auf Kosten deutscher Steuerzahler ein tolles Leben leisten können.
Rassistische Netzwerke
Auch in Sachsen forderten militante Rechtsradikale schon Anfang der 1990er Jahre die Schaffung „national befreiter Zonen“. Es war dann nur eine Frage der Zeit, wann diese Forderung sich in gewaltsamen Übergriffen entlud. Nicht umsonst fand der erste rassistische Pogrom des wiedervereinigten Deutschlands bereits 1991 im sächsischen Hoyerswerda statt. Und schon damals ließ die Staatsgewalt den rechten Mob ungestraft gewähren, griff erst ein, als Tage später linke Demonstrant*innen in die Stadt wollten.
2004 zog die neofaschistische NPD in den sächsischen Landtag ein. Ihr folgte wenige Jahre später die AfD. Die sich als Partei der politischen Sauberkeit gebenden Neurechten legten in Sachsen einen scheinbar unerwarteten Siegeszug hin und schicken sich derzeit an, die CDU als stärkste Kraft abzulösen. Eher selten wird thematisiert, dass die AfD ihren Wahlkampf zum Teil aus äußerst undurchsichtigen Quellen finanziert. Kürzlich stellten von der AfD selbst beauftragte Wirtschaftsprüfer fest, dass Abgeordnete ihrer Bundestagsfraktion in Größenordnungen die ihr zustehenden Gelder zweckentfremdet verwendet haben (https://www.sueddeutsche.de/politik/afd-bundestag-weidel-gauland-geld-1.4190971).
Ein weiteres Beispiel der Vernetzung zwischen kriminellem Untergrund und der rechtsradikalen Szene ist der 2014 in Dresden gegründete Verein PEGIDA. Obwohl es in Sachsen nur einen vergleichsweise winzigen Anteil an Migrant*innen gibt, imaginierte PEGIDA eine bevorstehende „Islamisierung des Abendlandes“ und schaffte es so tatsächlich, größere Menschenmengen auf die Straße zu bringen. Die obskure Forderung der Rechten diente offensichtlich zahlreichen Bürgern als willkommene Möglichkeit, ihr Gefühl einer Unzufriedenheit mit der derzeitigen Situation artikulieren zu können. Einer Unzufriedenheit, die sich nicht gegen den Kapitalismus richtet, allerdings gegen dessen unerwünschte Nebenwirkungen. Und genau als solche stellt sich in der Logik verängstigter Kleinbürger die Migration aus Zusammenbruchs- und Bürgerkriegsregionen dar.
Zahlreiche Rechtsradikale pilgern seit Jahren regelmäßig nach Dresden; PEGIDA-Aufmärsche fanden bundes- und europaweit zahlreiche Nachahmer. Über die zunehmende rassistische Ausrichtung dieser Zusammenrottungen ist schon viel geschrieben worden. Eher selten wird thematisiert, dass es sich beim Vereinsgründer Lutz Bachmann um einen vorbestraften Kriminellen handelt, der sich nach seinem politischen Erfolg aus der Vereinskasse bediente.
Feststellbar ist in diesem Zusammenhang eine zunehmende Infiltrierung staatlicher Institutionen durch Akteure der kriminellen und rechtsradikalen Szene. Nur ein Beispiel: Kürzlich stellte sich nach der Verbalattacke eines PEGIDA-Demonstranten auf Journalisten heraus, dass es sich bei dem Mann – wegen seiner lächerlichen Kopfbedeckung erhielt er umgehend den Spitznamen „Hutbürger“ – um einen im Urlaub befindlichen Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes handelte. Der Mann wurde zwar schleunigst aus der Schusslinie genommen; weiterführende Konsequenzen hatte dies aber nicht. Was dem Grunde nicht verwundern kann: Übte sich doch sogar der oberste Verfassungsschützer der Bundesrepublik im Zusammenhang mit den rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz in Verharmlosung der Gewalttaten und bezeichnete nach seiner Entlassung die Sozialdemokratische Partei als von „Linksradikalen“ durchsetzt.
Fazit
Droht uns, von Sachsen ausgehend, eine Diktatur rechter Hardliner? Das nun wohl nicht. Die derzeit im Aufwind befindliche neurechte Bewegung bedient sich zwar zum Teil auch der Symbolik der Altfaschisten. Geschichte wiederholt sich aber nicht. Wie der Philosoph Robert Kurz schon 1993 schrieb, trifft „die ideologische Erneuerung von vergangenen Gestalten der modernen Barbarei (…) auf veränderte Bedingungen und Verhältnisse“ (Kurz, Seite 184). Forderungen nach einem starken Staat hört man aus den Reihen von PEGIDA-Demonstranten und anderer Neurechter selten. In deren Köpfen ist Deregulierung angesagt. Es wird gegen Überbürokratisierung gewettert und gegen störende Gesetze, welche angeblich das Wirtschaftswachstum schädigen. Was im Klartext heißt: Es wird eine Entkriminalisierung verbotener Praktiken und weniger staatliche Kontrolle gefordert.
Genau diese Forderungen entsprechen den Interessen des kriminellen Sumpfes, der sich im wirtschaftlich niedergehenden Sachsen mehr und mehr ausbreitet. Dazu passt auch, dass sich die neurechte Bewegung vorrangig auf die grüne Partei eingeschossen hat. Grün steht für Umweltgesetzgebung und offene Grenzen. Das erstere gilt in den Augen rechter Hardliner als staatliche Überregulierung, der unübersehbar voranschreitende Klimawandel als Hirngespinst. Und Migrant*innen werden von Kriminellen und Rechtsradikalen in trauter Eintracht als unerwünschte Konkurrenz im Kampf um jene öffentlichen Mittel betrachtet, die man sich gern in die eigene Tasche praktizieren möchte.
Sind die vor allem in Sachsen zunehmenden rechten Aufmärsche samt der Angriffe auf Migranti*innen, auf kritische Berichterstatter*innen und auf politisch Andersdenkende nun politische oder kriminelle Gewalt? Beides trifft zu. Die politische Rechte ist im Zuge der von ihr selbst beförderten gesamtgesellschaftlichen Verrohung zum Vollstrecker kriminellen Handelns geworden.
Verwendete Literatur:
Bahrmann, Hannes und Links, Christoph: „Chronik der Wende 2. Stationen der Einheit. Die letzten Monate der DDR“, Ch. Links Verlag, Berlin 1995
Bedszent, Gerd: „Wirtschaftsverbrechen und andere Kleinigkeiten“, Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2017
Diturth, Jutta: „Lebe wild und gefährlich. Radikalökologische Perspektiven“, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1991
„Dokumentation: Die aktuelle Programmatik von Parteien und politischen Vereinigungen in der DDR“ vom 30. März 1990
Hartmann, Ralph: „Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland“, Edition Ost, Berlin 2008
Klein, Thomas: „Frieden und Gerechtigkeit. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre“, Böhlau Verlag, Köln Weimar Wien, 2007
Köhler, Otto: „Die große Enteignung. Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte“, Droemersche Verlagsanstalt Knaur Nachf., München 1994
Kurz, Robert: „Potemkins Rückkehr. Attrappen-Kapitalismus und Verteilungskrieg in Deutschland“, Edition Tiamat, Berlin 1993
Mottek, Hans: „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands“, Band 1 und 2, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin (DDR), 1964
Der Autor
Gerd Bedszent lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin.