Man kann heute kaum mehr eine Tageszeitung aufschlagen, ohne nicht wenigstens im Wirtschaftsteil einen Artikel oder eine Nachricht über einen Fall von Wirtschaftskriminalität zu finden. Ab einer gewissen Skandalgröße schaffen sie es auf die vorderen Seiten, und wenn es um Verstrickungen mit politischen oder staatlichen Sphären geht, auch schon mal auf die Titelseite. Woran liegt es, dass die Zahl und Schwere der Fälle von Wirtschaftskriminalität – national wie international gesehen – zuzunehmen scheint? Oder ist das nur ein Ergebnis der wachsenden Berichtsdichte in Zeiten von Internet und globaler Vernetzung?
Psychologische Erklärungen wie etwa die in der „Finanzkrise“ 2008 ff. beliebt gewordene These, die unersättliche Gier der Unternehmer und Banker sei schuld an allem – neuerdings zum Beispiel an den betrügerischen Cum/Ex-Geschäften – tragen nicht sehr weit. Denn was ist mit der Psyche der Betreffenden passiert, dass sie jetzt plötzlich mehr hinter dem Geld her sein sollen als früher, und dabei zu unlauteren Praktiken greifen? Realistischer erscheint da schon die alte Spruchweisheit: Gelegenheit macht Diebe.
Um welche Gelegenheiten geht es dabei? Da ist einmal die seit der Dominanz des Neoliberalismus schwächer gewordene staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens samt ihren juristischen Normen. Wenn der Markt es richten soll, wird nicht nur, meist vergeblich, auf dessen vielbeschworene „Selbstheilungskräfte“ vertraut, sondern es kann auch veritabler Wildwuchs entstehen. Im Dschungel der härter werdenden Konkurrenz aller gegen alle gedeiht dann das, was „Raubtierkapitalismus“ genannt wird, um vom Kapitalismus als System nicht sprechen zu müssen. Das Darwinsche Prinzip des „survival of the fittest“ wird nun als Überleben des Brutalsten verstanden, der sich an möglichst wenig Regeln hält, um siegen zu können.
Eine andere Bedingung für das Aufblühen krimineller Ökonomie ist die immer größere Rolle, welche die Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft spielt. Mit Begriffen wie „Finanzialisierung“ oder „finanzmarktgetriebener Kapitalismus“ wird diese Entwicklung zu erfassen versucht. Scheinbar ist die Finanzsphäre inzwischen von der Produktionssphäre abgekoppelt. In ihr wird Kapital nicht mehr in erster Linie durch die Ausbeutung von Arbeitskraft und das Herstellen realer Produkte verwertet, sondern durch Geldverleih gegen Zinsen, Aktienkäufe, bestimmte Dienstleistungen und spekulative Geschäfte aller Art. Von jeher ist damit ein Odium des unehrlich bloß „Raffenden“ gegenüber dem ehrlich „Schaffenden“ verbunden. Hier setzt die Lehre von „zweierlei Kapital“ an, die Unterscheidung des guten Produktivkapitals vom bösen Finanzkapital, auf die sich auch Verschwörungslegenden wie die antisemitische beziehen.
Es ist dies die Sphäre, in der nach Marx die „Kapitalmystifikation in ihrer grellsten Form“ erscheint, weil Geld sich hier scheinbar aus sich selbst bzw. wie von selbst generiert und vermehrt. Eine gute Gelegenheit also für das Vorspiegeln falscher Tatsachen, für das Täuschen und Zocken, das Übervorteilen und Betrügen. Marx beschreibt das wie folgt: Es entstehe „eine neue Finanzaristokratie, eine neue Sorte Parasiten in Gestalt von Projektemachern, Gründern und bloß nominellen Direktoren; ein ganzes System des Schwindels und Betrugs mit Bezug auf Gründungen, Aktienausgabe und Aktienhandel“ 1).
Wie ausgedehnt und mächtig die Finanzwirtschaft inzwischen geworden ist, hätte sich Marx allerdings nicht denken können oder träumen lassen. Eine Voraussetzung dafür ist die Überakkumulation von Kapital, das keine produktiven Anlagemöglichkeiten mehr findet und auch nicht mittels höherer Besteuerung einer sinnvollen Verwendung für das Gemeinwohl zugeführt wird.
Warum geschieht letzteres nicht oder warum wäre das so schwer zu machen? Dazu hat der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer 1996 vor Staatsmännern aus aller Welt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt: „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.“ 2)
Inzwischen kommt im Finanzbereich noch die Digitalisierung hinzu, die alle Prozesse beschleunigt, zum Beispiel die Spekulation im „Sekundentrading“. Sie erleichtert auch den Betrug – siehe den Fall Wirecard. Die mit der Digitalisierung verbundene weitergehende Abstraktion vom Konkreten bringt es mit sich, dass ein fingiertes Milliarden-Guthaben auf einem philippinischen Konto bei laxer Überprüfung jahrelang als existent durchzugehen vermag.
Auch wenn es immer um das reale Handeln realer Menschen geht, die dafür verantwortlich gemacht werden können und müssen: Stark bestimmt wird ihr Handeln durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Erwartungen ihres Umfelds, den Verwertungsdrang und Wachstumszwang des Kapitals, dem sie als Unternehmer gerecht werden müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Statt den „absoluten Bereicherungstrieb“ von Unternehmern zur Erklärung von Normverstößen heranzuziehen, den er einfach voraussetzt, spricht Marx lieber vom „Trieb der kapitalistischen Produktion“, alle Grenzen zu überschreiten, wenn sie ihr nicht mit genügend Macht und Nachdruck aufgeherrscht werden. Im „Kapital“ bringt er dazu – in griffiger Übersetzung – eine Passage aus einem Buch des englischen Gewerkschaftsfunktionärs J.T. Dunning von 1860, der sich seinerseits auf eine Zeitschrift bezieht, in der die noch heute gern angeführte These vertreten wird, das Kapital sei ein scheues Reh, das man nicht verschrecken solle: „Kapital, sagt der Quarterly Reviewer, flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Wenn Tumult und Streit Profit bringen, wird es sie beide encouragieren. Beweis: Schmuggel und Sklavenhandel.“ 3)
Diese oft zitierte Stelle bedeutet einerseits, dass die Kapitalverwertung, die Profitmacherei zunächst nicht per se kriminell ist. Sie folgt dem Prinzip des gleichen und zugleich ungleichen Tauschs Arbeitskraft gegen Lohn, aus dem sich der Mehrwert als Differenz zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und dem Wert der Arbeitskraft (= Lohn) ergibt. Bei der Aneignung des Mehrwerts oder Gewinns durch Unternehmer und Aktionäre handelt es sich also nicht um einen Betrug, sondern um eine Folge der strukturellen Ungleichheit von Kapital und Arbeit und des Widerspruchs zwischen beiden.
Die weiteren Mechanismen der Kapitalverwertung, das Streben nach Höchstprofit „bei Strafe des Untergangs“ 4), das Verdrängen anderer aus dem Markt und ihre feindliche Übernahme, bringen eine heftigere Versuchung mit sich, sich dabei auch illegaler Methoden zu bedienen, wenn nicht hingeschaut wird. Die Abgasmanipulationen der deutschen Automobilindustrie sind dafür das beste Beispiel. Von Machenschaften, die im ethischen oder moralischen Sinn illegitim, also verwerflich sind, aber (noch) nicht gesetzlich verboten, ganz zu schweigen.
Wirtschaftskriminalität als gesondertes Delikt zu skandalisieren und zu verfolgen ist deshalb möglich und notwendig. Wenn dabei jedoch nicht über ihre systemischen Hintergründe aufgeklärt wird, bleibt es beim nicht sehr nachhaltigen Personalisieren und Moralisieren von Schuld oder bei der Suche nach Sündenböcken und Bauernopfern. Der Fall Wirecard und seine Verarbeitung in den Medien als spannende Kriminalstory und „größter Bilanzskandal in der Geschichte der Bundesrepublik“ bietet dafür wieder einmal Anschauungsmaterial. Aber eins sollte klar sein: Wer „bandenmäßigen Betrug“ begangen hat, wie laut Staatsanwaltschaft die Chefs von Wirecard, wer damit „eine moderne Version der Mafia“ begründet hat, wie der „Spiegel“ 5) titelte, hat das Gefängnis verdient.
Anmerkungen:
1) Karl Marx: Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 4
2) Zit. nach Heinz-J. Bontrup: „Wirtschafts-Macht“, in Ossietzky Nr. 3/2021, Seite 80
3) Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, Seite 788
4) Das Kapital, Bd. 3, MEW Bd. 25, Seite 255
5) „Inside Wirecard – ‚Eine moderne Version der Mafia‘“. Titelblatt des „Spiegel“ Nr. 6/2021
Reiner Diederich
war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie an der FH Frankfurt am Main. Sein Artikel ist in der BIG-Beilage zur Nr. 2/2021 der Zeitschrift Stichwort BAYER erschienen.