Der erneute Wahlsieg Recep Tayyip Erdoğans bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei trotz desolater wirtschaftlicher Lage und wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung lässt sich nur erklären, wenn man den Charakter seines Regimes ins Auge fasst. Der investigative Autor Jürgen Roth, seinerzeit Mitherausgeber von BIG Business Crime, hat in seinem 2017 erschienenen letzten Buch: „Die Neuen Paten – Trump, Putin, Erdoğan, Orbán & Co. Wie die autoritären Herrscher und ihre mafiosen Clans uns bedrohen“ einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis geleistet. Er wandte sich dagegen, bloß von einem „neuen Autoritarismus“ zu reden, wie es heute üblich ist. Es handele sich vielmehr bei den „Neuen Paten“ um eine „gelungene Fusion von politischer und krimineller Macht“, die alle Sphären der Gesellschaft mit Korruption durchdringt, demokratische Kontrollen außer Kraft setzt und Opposition kriminalisiert – auch wenn noch mehr oder weniger „freie“ Wahlen bestehen.

Jürgen Roths Thesen dazu: „Die Neuen Paten haben den Staatsapparat nicht nur übernommen, vielmehr sind sie die Capo dei Capi des Staatsapparates geworden. Damit ihre Politik von der Gesellschaft akzeptiert wird, bedienen sie sich einer rassistischen, nationalistischen und autoritären Ideologie. Daher sind auch die Neuen Paten, wie die italienischen Mafien, eng mit rechtsextremen Bewegungen und Parteien verbunden… Beide Systeme, das der klassischen Mafien und das der Neuen Paten, regieren mit der Angst ihrer Untertanen und sind zutiefst undemokratisch. Beide zeichnen sich durch ein ihrem Wesen nach elitäres, antidemokratisches und dem Gleichheitsgrundsatz widersprechendes Grundmuster aus.“

Erdoğan spielte meisterhaft auf dem Klavier der Ängste und der gesellschaftlichen Spaltungen: Angst vor dem „Terror“ der kurdischen Minderheit – selbst wenn diese nur Mit- und Selbstbestimmung in einem föderal aufgebauten Staat fordert. Angst vor „globalistischen“ Drahtziehern, die die Türkei mit Modernismen wie LBGTI überfremden wollen. Das Muster ist bekannt.

Dass sein Gegenkandidat Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP dann in der Stichwahl darauf auch mit ähnlichen Mittel zu antworten versuchte – er versprach, die unliebsamen syrischen Flüchtlinge schnell aus dem Land zu werfen und nahm eine weitere rechte Partei mit ins Boot – hat ihm nichts genützt.

Dennoch: Erdoğan erhielt nur wenig mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen. Das zeigt, dass Widerstand gegen sein Regime nach wie vor vorhanden ist.

Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen bekam das linksgrüne „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ immerhin 10 Prozent der Stimmen – vor allem von Kurdinnen und Kurden, weil deren unter einer Verbotsdrohung stehende Partei HDP dazu aufrief.

In seiner Wahlanalyse auf der Homepage der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Murat Çakır auf, welche schweren Aufgaben vor der Opposition in der Türkei liegen: „Selbst wenn man die kemalistische CHP, die durchaus in ihren Reihen nationalistische Kreise beherbergt, herausrechnet, beweisen die Wahlergebnisse, dass über zweidrittel der türkischen Gesellschaft konservativ, reaktionär und nationalistisch eingestellt ist. Besonders traurig war es zu verfolgen, dass sogar in den vom Erdbeben betroffenen Gebieten mehrheitlich die AKP (Erdoğans Partei) und die neofaschistische MHP gewählt wurden. In den 11 Städten, die vom Erdbeben betroffen waren, konnte die AKP, während Erdoğan die Mehrheit der Stimmen bekam, rund 47 Abgeordnete gewinnen – nur im völlig zerstörten Hatay konnte Kılıçdaroğlu die Mehrheit auf sich vereinen. Weder die desolate ökonomische Lage und die hohen Inflationsraten noch die öffentlich gewordenen Korruptionen des AKP-Palast-Regimes konnten einen großen Teil der konservativen Wähler*innen davon abhalten, die AKP und MHP zu wählen.“ („Die Türkei hat gewählt“, 15. Mai 2023)

Quelle:

https://www.rosalux.de/news/id/50409/die-tuerkei-hat-gewaehlt