Hans-Carl Nipperdey war von 1925 bis 1954 Professor für Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht in Köln, hatte in der NS-Zeit und auch noch nach 1945 als Präsident des Bundesarbeitsgerichts (von 1954 bis 1963) maßgeblichen Einfluss auf Theorie und Praxis des Arbeitsrechts. Er „hat das restriktive deutsche Arbeitsrecht bis heute geprägt: Politische Streiks sind verboten, Beschäftigte zur Treue verpflichtet und Whistleblower nahezu ungeschützt“. (1)

In der Weimarer Republik war Nipperdey zunächst nationalliberal orientiert, verfasste dann zusammen mit Alfred Hueck das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ (vom 20. Januar 1934) und war zugleich einer von dessen Hauptkommentatoren. In besagtem Gesetz wurde das „Führerprinzip“ eingeführt, wonach der Vorgesetzte als Betriebsführer die absolute Befehlsgewalt innehatte, die Untergebenen eine „Gefolgschaft“ (nicht etwa Belegschaft) bildeten und zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet waren. Dieses Gesetz gilt als Basis für die Durchsetzung der „Produktionsschlacht“, welche dann letztlich Aufrüstung und Weltkrieg ermöglichte.

Zur historischen Kontinuität hier ein längeres Zitat aus einem Beitrag des Deutschlandfunks:

 „Die Treuepflicht stammt ursprünglich aus dem germanischen Recht, das im 19. Jahrhundert unter Rechtswissenschaftlern eine Renaissance erlebte und dann im Nationalsozialismus eine radikale Auslegung erfuhr. Diese ‚Treuepflicht‘ des Dritten Reiches wandelte die bisherigen sachlichen Rechtsansprüche zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ‚personenrechtliche‘ Ansprüche um und beherrschte das gesamte Arbeitsverhältnis. (…) So folgte zum Beispiel aus der Treuepflicht, dass ein Beschäftigter auch andere als im Arbeitsvertrag vereinbarte Leistungen erbringen musste. Die Beschäftigten hatten bei Bedarf auch Mehrarbeit, selbst über die regelmäßige gesetzliche Höchstarbeitszeit hinaus, zu leisten. (…) Diese Treuepflicht ist auch Teil der Rechtsordnung der Bundesrepublik geworden. Und zwar im Bürgerlichen Gesetzbuch. Professor Dr. Michael Kittner, Rechtswissenschaftler an der Universität Kassel und ehemaliger Justiziar der Gewerkschaft IG Metall: ‚Das ist ein sehr überkommener Begriff, der insbesondere aus der NS Zeit herrührt. Eine der wirklichen Kernangelegenheiten, wo das NS Recht substanziell in die Bundesrepublik noch hineintransportiert worden ist. (…) Und das, was früher unter dem Begriff Treuepflichten und Fürsorgepflichten subsumiert war, steht heute unter Nebenpflichten. (…) Zu den Nebenpflichten zählen: Die Anzeige- und Nachweispflicht im Krankheitsfall, Sorgfalts- und Schadensabwendungspflichten, das Wettbewerbsverbot, Verschwiegenheitspflicht, und das Schmiergeldverbot. (…) Zentral ist hier die Pflicht zur Verschwiegenheit, die bis zur Deckung von Straftaten reicht und auch das Privatleben betreffen kann. (…) Entsprechend legte das sogenannte ‚Maulkorburteil‘ des Bundesarbeitsgerichtes vom 24. August 1972 fest, dass die Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers nicht die Interessen des Arbeitgebers beeinträchtigen dürfe. Am 4. Juli 1991 und am 3. Juli 2003 verkündet das BAG Urteile, die Strafanzeigen gegen den Arbeitgeber nur eingeschränkt ermöglichen.“ (1)

Nipperdey konnte besonders durch seine Position als Präsident des Bundesarbeitsgerichts die Idee, das Arbeitsverhältnis von einem Austausch- zu einem „Gemeinschaftsverhältnis“ umzubauen, als „herrschende Meinung“ in die Literatur und Rechtsprechung der Nachkriegszeit übertragen.(2) Damit verbunden war das Ziel, die Interessen des Arbeitnehmers denen des Arbeitgebers klar unterzuordnen (Verbot politischer Betätigung, fehlende Meinungsfreiheit am Arbeitsplatz, also auch Verbot von Whistleblowing). Die Folgen zeigen sich bis heute: Deutschland hat die Whistleblower-Richtlinie der EU noch immer nicht umgesetzt.

Auch bei der Abfassung von Gesetzen gelang es Nipperdey und seinen Gesinnungsgenossen, ihre Vorstellungen einfließen zu lassen. So wurde in das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 die Idee einer „Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und Belegschaft“ übernommen, welche zuvor im „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit“ von 1934 als „Gemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft“ festgeschrieben war (inkl. „Friedenspflicht“, Arbeitskampfverbot, Verbot der politischen Betätigung, Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit). (3)

Passend dazu ein weiteres Zitat aus einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Januar 1955 (Präsident:  Hans Carl Nipperdey): „Streiks sind im Allgemeinen unerwünscht, weil sie volkswirtschaftliche Schäden hervorrufen.“ Rolf Geffken kommentiert: „Da wurde eine rechte Stammtischparole Teil einer Grundsatzentscheidung eines höchsten Gerichts. Mit Juristerei hatte das NICHTS zu tun, es war nur pure Ideologie“. (4)

Nipperdey wird heute offensichtlich immer noch gefeiert. Viele Arbeitsrechtler*innen würden, so Rolf Geffken, heute noch immer eine zutiefst arbeitnehmerfeindliche Haltung vertreten. Denn „die meisten Spuren der faschistischen Ideologie der Betriebsgemeinschaft und angeblicher ‚Partnerschaft‘ von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind der heutigen Juristengeneration (…) tatsächlich in Fleisch und Blut übergegangen und werden nicht mehr in Frage gestellt“. (3) 

(1) Peter Kessen: „Den Unternehmern treu ergeben. Das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey“, Das Feature, 14. Dezember 2021, 19:15 Uhr, Deutschlandfunk

https://www.hoerspielundfeature.de/das-paternalistische-arbeitsrecht-des-hans-carl-nipperdey-100.html

 (2) Rolf Geffken: „Der Professor und die Viererbande“, der Freitag vom 22. April 2021

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-professor-und-die-viererbande

(3) Ders.: „Die vergessene Geschichte: Faschismus im Arbeitsrecht“, 12. April 2021

https://www.drgeffken.de/48_Die_vergessene_Geschichte_Faschismus_im_Arbeitsrecht.php

(4) Ders.: „BAG: Der Obernazi wurde ‚vergessen‘“, 28. Januar 2021

https://www.drgeffken.de/48_BAG_Der_Obernazi_wurde_vergessen.php