Erzeugen soziale Bewegungen nicht genügend Druck auf der Straße, wenden sie sich an die Gerichte, um dort etwas zu bewirken. So oder so ähnlich lautet ein alter Sinnspruch aus der linken Szene. Anne Brorhilker, Kölner Oberstaatsanwältin in Sachen Cum-Ex, geht den umgekehrten Weg. Sie quittierte den Staatsdienst, um sich im Verein Bürgerbewegung Finanzwende zivilgesellschaftlich gegen Wirtschaftsverbrechen zu engagieren. Offensichtlich fühlte sie sich bei der Bekämpfung der Finanzkriminalität von den Behörden nicht ausreichend unterstützt oder sogar behindert.

Mehrere Presseberichte problematisierten deshalb jüngst die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften in Deutschland, weil, so das Handelsblatt, „besonders forsche Ermittler jederzeit aus dem Justizministerium zurückgepfiffen werden“ können. In den meisten Kommentaren zu Brorhilkers öffentlich vollzogenen Rückzug überwiegt die Auffassung, das ministerielle Weisungsrecht gehöre schlicht abgeschafft. Diese Forderung wird seit Jahrzehnten immer wieder erhoben, ist also längst ein rechtspolitischer Dauerbrenner. So insistierte die Neue Richtervereinigung (NRV) am 23. April 2024 nicht zum ersten Mal auf der völligen Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften. Vor dem Hintergrund politischer Einflussnahme auf die Justiz in Polen und Ungarn hielt es im letzten Jahr auch der Deutsche Richterbund (DRB) für „höchste Zeit, die Möglichkeit einer Einflussnahme der Politik auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft abzuschaffen“. So drückte es jedenfalls Geschäftsführer Sven Rebehn gegenüber der Berliner Morgenpost aus.

Ähnlich positionierte sich Anfang des Jahres Berlins Generalstaatsanwältin Margarete Koppers. Denn der Europäische Gerichtshof verlange schon seit langem die Abschaffung des Weisungsrechts. In vielen europäischen Ländern gebe es denn auch kein Durchgriffsrecht auf konkrete Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften. Mit Blick auf die hohen Zustimmungswerte der AfD bei Umfragen in einigen Bundesländern verwies Koppers darauf, dass auch AfD-Politiker*innen das Amt des Justizministers besetzen könnten: „…dann möchte ich mir nicht vorstellen, wie die Strafverfolgung aussähe – vor allem im Bereich des Rechtsextremismus“.

Nach Auffassung von Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) ist es höchste Zeit für eine „Entfesselung der Justiz“. Er hält es für „eigentlich pervers“ und einen unerträglichen Zustand, dass die Politik der Staatsanwaltschaft jederzeit die Zügel anlegen könne. Das geschehe zwar eher selten, aber es komme ja gerade auf die „heiklen Verfahren“ an. Die politische Weisungsabhängigkeit sei darum ein Geburtsfehler der deutschen Staatsanwaltschaft, nötig dagegen die Selbstverwaltung für die gesamte Justiz.

Spricht aber dieser vielfach vorgetragene Furor gegen den Status der Staatsanwaltschaft als weisungsgebundene Behörde wirklich für eine Fehlkonstruktion in der deutschen Justiz?

Die Regeln des Weisungsrechts

Anweisungen des Ministeriums in konkreten Verfahren einer Staatsanwaltschaft sind in der Praxis tatsächlich sehr selten, da sie rechtpolitisch als äußerst umstritten gelten und medial regelmäßig skandalisiert werden. In § 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) heißt es allerdings so lapidar wie eindeutig, dass die Beamten der Staatsanwaltschaft „den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen“ haben. Mit Letzteren sind auch die zuständigen Justizminister gemeint. Auch diese können sich also im konkreten Einzelfall in die Arbeit der Staatsanwälte einmischen. Anders als Richter, deren Unabhängigkeit nach Art. 97 GG verfassungsrechtlich garantiert ist, sind die Staatsanwälte dem Justizressort zugeordnet und gelten als „verlängerter Arm“ der Behörde. „Sprich: Wer regiert, kann die Geschicke der Staatsanwaltschaft bestimmen.“ (Cicero vom 22. Februar 2024) Da eine gesetzliche Beschränkung fehlt, können sich Weisungen tatsächlich auf jede staatsanwaltschaftliche Aufgabe beziehen und zu jedem Zeitpunkt erfolgen. Zu beachten ist dabei jedoch von den „Vorgesetzten“ das Legalitätsprinzip, welches die Staatsanwaltschaften verpflichtet, alle Straftaten bei einem ausreichenden Anfangsverdacht zu verfolgen (§152 Abs. 2 StPO).

Verzichtet das Ministerium auf eindeutige Weisungen, bedeutet das aber nicht, dass eine politische Steuerung unterbleibt. Denn die erfolgt nur in Ausnahmefällen so auffällig und öffentlichkeitswirksam wie bei dem grünen Justizminister in NRW Benjamin Limbach, der den Einfluss von Anne Brorhilker bei den Ermittlungen gegen Cum-Ex-Verbrechen schwächen wollte. „Ein Anruf des Ministers beim ermittelnden Staatsanwalt ist eher selten. So plump wird Macht im modernen Staat kaum ausgeübt. Das Mittel der Wahl ist die subtile Kommunikation von Erwartungen.“ (Cicero, 02/2024, Seite 42)

Der Zugriff auf die Staatsanwälte erfolgt eher über Empfehlungen und Anregungen, auch über deren Verpflichtung, der übergeordneten Behörde „zu berichten“ (über erzielte Ergebnisse in der Ermittlungsarbeit und weitere Absichten). Kritische Stimmen sehen daher schon in der Möglichkeit einer direkten politischen Einflussnahme ein entscheidendes Problem: Denn es ist zu vermuten, dass manche Staatsanwälte das von Ministerium erwünschte Verhalten vorwegnehmen und sich entsprechend selbst disziplinieren.

Was spricht für die Beibehaltung des Weisungsrechts?

Staatsanwälte aber als reine Handlanger der Politik darzustellen, übersieht deren Entscheidungsfreiheiten, die sich aus ihren Aufgaben ergeben. „Sie haben ein Monopol darauf, Straffälle vor Gericht zu bringen“, schreibt Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung. „Was für eine Macht! Richterinnen und Richter bleibt ‚nur‘, deren Anklagen zu kontrollieren. Kriminalpolitik ist etwas, das in einer Demokratie wählbar sein muss – und abwählbar. Deshalb hat es nie so richtig eingeleuchtet, weshalb die Staatsanwaltschaften, die in Deutschland eine solche Schlüsselrolle spielen, nach mehr ‚Unabhängigkeit‘ vom demokratischen Souverän verlangen – das heißt konkret: dass sie keine Weisungen mehr von den Justizministerien annehmen wollen.“

Ohne ein Weisungsrecht, bestätigt auch die Strafrechtlerin Jannika Thomas, würde die Staatsanwaltschaft der parlamentarischen Kontrolle entzogen. Die Unabhängigkeit und damit die fehlende parlamentarische Kontrolle richterlichen Handelns etwa sei nur mit Blick auf die besondere institutionelle Stellung der Judikative hinzunehmen. Gerichte unterlägen aufgrund der öffentlichen Hauptverhandlung einer unmittelbaren Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Hingegen fänden die staatsanwaltlichen Ermittlungen im Geheimen statt. „Gerade deshalb sollte das Privileg der Unabhängigkeit nicht ohne Weiteres auf Behörden wie die Staatsanwaltschaft ausgeweitet werden. Eine unabhängige Staatsanwaltschaft würde, sofern nicht besondere Instrumente zu ihrer parlamentarischen Kontrolle geschaffen werden würden, zu einem gewissen Grad auch eine unkontrollierbare Staatsanwaltschaft bedeuten.“

Die Cum-Ex-Deals zeigen ohne Zweifel, wie „die Politik“ durch aktive Behinderung staatsanwaltlicher Ermittlungen ihren Unwillen zeigt, Finanzkriminalität konsequent zu bekämpfen. Was die Abhängigkeit des Apparats der Staatsanwaltschaften vom jeweils vorherrschenden politischen Regierungswillen illustriert. Aber der kann auch emanzipatorischen Charakter annehmen. So machte der Rechtsanwalt Gerhard Strate vor zehn Jahren auf die Ambivalenz der Weisungsabhängigkeit am Beispiel eines der größten Justizskandale in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik aufmerksam. Über sieben Jahre saß der Ingenieur Gustl Mollath auf richterliche Anweisung unschuldig in der Psychiatrie. Der Fall wurde bundesweit zum Politikum. Strate stellte in einem Fachbeitrag fest, dass ein vom Bayerischen Landtag eingesetzter Untersuchungsausschuss „eine Kette unsäglicher Versäumnisse von Strafverfolgungsbehörden in Bayern“ zu Tage förderte. Mollath wurde letztlich freigesprochen und erhielt eine Entschädigung für seine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie. Laut Strate war eine solche Untersuchung nur möglich, weil die zuständige Justizministerin für die Fehler zur Verantwortung gezogen werden konnte. „Was hätte“, so Strate, „stattdessen ein ‚unabhängiges’ Aufsichtskollegium von Richtern und Staatsanwälten bewirkt? Mit Sicherheit: nichts.“ Dem Recht der Justizminister, Einfluss auf Ermittlungen zu nehmen, entspricht ihre Verantwortung gegenüber dem Parlament für die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft (was sich auch in der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zeigen kann).

Um eine demokratische, öffentliche Kontrolle der ministeriellen Weisungen an Staatsanwaltschaften zu erleichtern, so zumindest die offizielle Begründung, legte das Bundesjustizministerium Anfang Mai einen Referentenentwurf eines Gesetzes vor, der das Weisungsrecht neu regeln soll. Die „Transparenz von Weisungen gegenüber der Staatsanwaltschaft“ soll erhöht werden. Unter anderem muss den Adressierten überhaupt klar sein, dass eine Weisung erteilt wird (sie soll deshalb schriftlich erfolgen und begründet werden). Zusätzlich sollen zukünftig die bereits bestehenden Grenzen der Weisungsbefugnis nachlesbar im Gesetz stehen. – Alles in allem eine sehr verhaltene Reform, die die kritischen Stimmen kaum verstummen lässt.

Fazit: In der Öffentlichkeit verhandelte Fälle wie Cum-Ex lassen die Forderung nach einer grundlegenden Änderung der derzeitigen Rechtslage, das heißt einer Abschaffung von Weisungen der Politik, verständlich erscheinen. Es sollte aber auch ehrlich zugegeben werden, dass es der eigene politische Standpunkt ist, der gegebenenfalls die Weisungsbefugnis des Ministeriums zur Zielscheibe der Kritik werden lässt. Ein der AfD nahestehender und mit Weisungsbefugnis ausgestatteter Minister erzeugt bei den meisten Menschen berechtigte Ängste. Ein unabhängiger, das heißt von politischen Weisungen befreiter Staatsanwalt mit politisch rechter Neigung oder mit fehlendem Unrechtsbewusstsein in Sachen Wirtschaftskriminalität verspricht jedoch ebenfalls nichts Gutes.

Und noch ein Nachsatz zu Cum-Ex: Eine unabhängige Richterschaft hat – obwohl die illegalen Geschäfte seit Anfang der 1990er Jahre bekannt sind – noch im Jahr 1999 mit einem Gerichtsurteil (Bundesfinanzhof) die Argumentation gestärkt, mehrfache Steuererstattungen bei Leerverkäufen seien ganz legal. – Mit Recht wird immer Politik gemacht. Ein „entfesselter“ (Prantl) Justizapparat bzw. die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften garantiert aber nicht, dass diese in jedem Fall emanzipatorisch ausfällt.

Quellen:

Volker Boehme-Nessler: „Strafverfolgung nach politischem Gusto?“, Cicero, 02/2024, Seite 41-44

„Der Verlust von Oberstaatsanwältin Brorhilker offenbart Defizite in der deutschen Strafverfolgung und Justizstruktur“, Pressemitteilung der Neuen Richtervereinigung (NRV) vom 23. April 2024
https://www.neuerichter.de/wp-content/uploads/2024/04/2024_04_23-NRV-PM-Verlust-Brorhilker-Defizite-in-Strafverfolgung-und-Justiz-1.pdf

Jan Dörner/Christian Unger: „Deutsche Richter fürchten politischen Einfluss auf Justiz“, Berliner Morgenpost (Online) vom 25. Februar 2023
https://www.morgenpost.de/politik/article237745281/justiz-unabhaengigkeit-richter-deutschland.html

Gudula Geuther, „Diskussion um Weisungen an Staatsanwälte“, Deutschlandfunk, 3. Mai 2024
https://www.deutschlandfunk.de/berliner-gespraech-diskussion-um-weisungen-an-staatsanwaelte-dlf-f3c63551-100.html
Jessica Hamed: „Die abhängige Justiz“, Cicero vom 22. Februar 2024
https://www.cicero.de/innenpolitik/weisungsrecht-der-justizminister-die-abhangige-justiz

„Koppers fordert Abschaffung des Weisungsrechts durch Justizminister“, rb24 vom 3. Januar 2024
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2024/01/justiz-staatsanwaltschaft-justizminister-weisungsrecht-margarete-koppers.html

Heribert Prantl: „Staatsanwaltschaft in Deutschland: Ungute Abhängigkeiten“, youtube-Video der Süddeutschen Zeitung
https://www.youtube.com/watch?v=yp1FsxKT6nw

Ronen Steinke: „Kontrolle muss sein“, Süddeutsche Zeitung vom 3. Mai 2024

Gerhard Strate: „Strafverteidigung in unserer Zeit“, netzpolitik.org, 28. April 2014 https://netzpolitik.org/2014/gastbeitrag-von-gerhard-strate-strafverteidigung-in-unserer-zeit/

Jannika Thomas: „Die deutsche Staatsanwaltschaft – ‚objektivste Behörde der Welt‘ oder doch nur ein Handlanger der Politik?“, KriPoZ 2/2020, Seite 84-90
https://kripoz.de/wp-content/uploads/2020/03/thomas-die-deutsche-staatsanwaltschaft-objektivste-behoerde-der-welt-oder-nur-handlanger-der-politik.pdf

Volker Votsmeier: „Brorhilkers Abgang – Die Zermürbungstaktik der Täter geht auf“,
Handelsblatt (Online) vom 23. April 2024
https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-brorhilkers-abgang-die-zermuerbungstaktik-der-taeter-geht-auf/100034303.html